Einleitung
Das »globale Chaos« ist kein Schicksal oder Naturgesetz
Im Jahr 2014 ist nach Wahrnehmung vieler Menschen zumindest in den westlichen Ländern das »globale Chaos« ausgebrochen und »die Welt aus den Fugen geraten«. So lautete auch der Tenor zahlreicher Medienberichte und Politikerstatements. Denn das Jahr 2014 war so stark geprägt von scheinbar unkontrollierbaren Gewaltkonflikten und Krisen wie kein anderes zuvor. Zu dieser Wahrnehmung beigetragen haben die Kriege in der Ukraine, im Gazastreifen, in Syrien und Irak sowie der brutale Vormarsch der Terrormilizen des sogenannten Islamischen Staats und schließlich die Ausbreitung der heimtückischen Ebola-Seuche.
Die UNO ist mit ihren Bemühungen zur Eindämmung und Beendigung dieser Krisen und Gewaltkonflikte entweder gescheitert oder sie hat erst gar keine entsprechenden Bemühungen unternommen. Das hat die Wahrnehmung vom »globalen Chaos« und von einer »aus den Fugen geratenen Welt« noch verstärkt und vielfach zu dem Eindruck geführt, die UNO sei 70 Jahre nach ihrer Gründung 1945 überflüssig geworden.
Die fünf Gewaltkonflikte und Krisen, die das Jahr 2014 geprägt haben, werden die Welt auch mindestens noch im Jahr 2015 in Atem behalten. Einige werden wahrscheinlich noch weiter eskalieren. Doch anders, als der Begriff vom »globalen Chaos« nahelegt, sind die fünf genannten Kriege und Krisen weder ein unausweichliches Schicksal noch eine Naturkatastrophe oder gar göttlicher Wille. Das gilt auch für all die anderen opferreichen Gewaltkonflikte und Krisen vor allem auf dem afrikanischen Kontinent, die 2014 weit gehend durch das Raster der Wahrnehmung westlicher Medien gefallen sind. Für sämtliche dieser Gewaltkonflikte und Krisen existieren analysierbare und benennbare kurz-, mittel- und langfristige Ursachen – seien es absichtsvolle Handlungen oder Fehler und Versäumnisse. Und es gibt Täter und Verantwortliche für diese Handlungen, Fehler und Versäumnisse.
Für jede der fünf Krisen und Gewaltkonflikte, die das Jahr 2014 bestimmt haben, lässt sich auch erklären, warum die UNO mit ihren Vermittlungs- und Eindämmungsbemühungen gescheitert ist oder warum sie derartige Bemühungen erst gar nicht unternommen hat. Und es lässt sich auch beschreiben, was geschehen müsste und welche Reformen erforderlich sind, damit die UNO künftig wieder handlungsfähiger wird sowohl in inner- und zwischenstaatlichen Konflikten als auch gegenüber globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel, der Finanzkrise oder dem islamistisch gerechtfertigten Terrorismus. Diesen Fragen ist der erste Teil dieses Buches gewidmet.
»Die UNO« existiert nicht
Die Zweifel an der UNO und an ihrer weiteren Nützlichkeit sind allerdings nicht erst 2014 entstanden. Diese Zweifel wurden bereits genährt im ersten Jahrzehnt nach Ende des Kalten Krieges, das zunächst mit großen Hoffnungen auf eine Weltorganisation verbunden war, die befreit von der Blockade der Ost-West-Konfrontation nun endlich uneingeschränkt handlungsfähig sein würde mit Blick auf alle Ziele und Aufgaben, die in der Gründungscharta von 1945 definiert wurden. Warum hat die UNO die Völkermorde von Ruanda und Srebrenica nicht verhindert? Wieso tut die UNO nichts gegen die völkerrechtswidrige Besatzung der palästinensischen Gebiete durch Israel? Was ist das Völkerrecht noch wert, nachdem es vor allem vom gewichtigsten UNO-Mitglied USA seit Ende der 90er-Jahre immer häufiger gebrochen wurde? Warum tut die UNO nicht mehr, um verbindliche Arbeits-, Sozial- und Umweltnormen auch gegenüber großen Konzernen durchzusetzen? Wieso halten sich die fünf Vetomächte des UNO-Sicherheitsrats nicht an ihre Verpflichtungen zur Abrüstung von Atomwaffen? Warum kommen die Bemühungen der UNO um das Verbot von Kleinwaffen, Uranmunition und anderen grausamen Rüstungsgütern nicht voran? Wieso hat die UNO nicht auf die globale Finanzkrise von 2008 und ihre Folgen reagiert?
Auf all diese Fragen liefert dieses Buch zumindest den Versuch von detaillierten Antworten. Wobei sich all diese Antworten auf eine oftmals übersehene Tatsache gründen: »Die UNO« als ein eigenständig handlungsfähiges Subjekt existiert nicht, sondern die UNO ist ein kompliziertes Netzwerk von inzwischen 193 souveränen Nationalstaaten mit oftmals sehr unterschiedlichen Interessen. Dieser Satz ist zwar banal, aber man muss ihn sich immer wieder in Erinnerung rufen. Denn in der Alltagssprache von Medien und Politik taucht »die UNO« alltäglich auf als Subjekt, das »beschließt, fordert, verurteilt, handelt, untersucht, scheitert«, usw. Durch diese undifferenzierte Sprache von Politik und Medien wird in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit immer wieder neu die Vorstellung genährt, es gebe »die UNO« als eigenständiges Subjekt, das uneigennützig und nach objektiven Maßstäben zur Schlichtung und Lösung von Konflikten eingreift wie ein unabhängiger Richter. Jedes Mal, wenn sich diese Vorstellung dann als Illusion erweist, entsteht Enttäuschung über »die UNO«.
Tatsächlich bestimmen die Mitgliedstaaten das Handeln »der UNO«. Ob sich »die UNO« überhaupt um ein Problem kümmert oder nicht, ob sie dabei erfolgreich ist oder scheitert – das ist immer Ergebnis der Interessen von Mitgliedstaaten, die sich bei den Entscheidungen des Sicherheitsrats, der Generalversammlung oder anderer Gremien und Institutionen des UNO-Systems entweder durchsetzen oder nicht. Wobei sich die Mitgliedstaaten mit hohem politischem, wirtschaftlichem und militärischem Gewicht besonders häufig durchsetzen und das Handeln »der UNO« bestimmen. Diese Tatsache sowie der Umstand, dass einige dieser übergewichtigen Mitgliedstaaten – insbesondere die USA – die UNO-Charta und andere Bestimmungen des Völkerrechts in den letzten Jahren in besonders eklatanter Weise gebrochen haben, ohne dass diese Verstöße irgendwelche Folgen hätten, haben inzwischen selbst bei vielen langjährigen Befürwortern der UNO zur resignativen bis zynischen Abkehr von der Weltorganisation geführt.
Diese Haltung ist zwar verständlich. Aber sie übersieht, dass die UNO trotz aller auch in diesem Buch beschriebenen Unzulänglichkeiten und Widersprüche in den letzten 70 Jahren viel erreicht hat. Und diese Haltung der Abkehr von der UNO gibt auch keine Antwort auf die Frage, was denn die Alternative wäre.
Ohne die UNO wären die letzten 70 Jahre
weit schlimmer verlaufen
Richtig ist: Gemessen an dem in der Gründungscharta von 1945 formulierten Hauptziel, »künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren«, ist die UNO – oder besser: sind ihre inzwischen 193 Mitgliedstaaten – gescheitert. Über 260 bewaffnete Konflikte fanden in den letzten sieben Jahrzehnten statt, oftmals verbunden mit Völkermord und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen.
Doch ohne die UNO und ihre Bemühungen zur Beilegung gewaltsamer Auseinandersetzungen hätten viele dieser Konflikte noch länger gedauert, noch mehr Tote und Verwundete gefordert und noch mehr Zerstörungen hinterlassen. Ohne die UNO wäre es wahrscheinlich zu einem dritten Weltkrieg gekommen – möglicherweise sogar unter Einsatz atomarer Waffen. Zahlreiche Situationen, in denen die Welt sehr kurz vor dem Abgrund eines atomaren Krieges stand – wie im Oktober 1962 während der Krise wegen der sowjetischen Raketen auf Kuba – wurden im UNO- Sicherheitsrat entschärft. Und ohne die UNO und ihre humanitären Unterorganisationen wären in den letzten 70 Jahren Hunderte Millionen Opfer von Naturkatastrophen, Hungersnöten und gewaltsamen Vertreibungen nicht versorgt worden. Schließlich bot die UNO den Rahmen für die Vereinbarung zahlreicher internationaler Normen, Regeln und Verträge zu Rüstungskontrolle und Abrüstung, Menschenrechten, Umweltschutz, Sozialstandards und auf zahlreichen anderen Gebieten. Diese Normen, Regeln und Verträge haben die Erde zwar nicht in ein Paradies verwandelt. Aber sie trugen immerhin dazu bei, die Lebensbedingungen für viele der inzwischen über sieben Milliarden Erdbewohner in zahlreichen Bereichen zu verbessern. Eine Auflösung der 1945 gegründeten UNO würde den Rückfall in die Barbarei weit gehend ungeregelter zwischenstaatlicher Beziehungen bedeuten.
Eine handlungsfähige Weltorganisation ist heute mindestens so dringend wie 1945
Tatsächlich bedarf es heute einer funktionierenden und handlungsfähigen Weltorganisation mindestens so dringend wie 1945. Unterentwicklung, Aids, Hunger, Umweltzerstörung, Terrorismus, Massenvernichtungswaffen, Konflikte um Wasser, fossile Energieträger und andere Ressourcen – das sind heute die zentralen globalen Herausforderungen. Die Völker und Staaten dieser Erde werden diese Herausforderungen – wenn überhaupt – nur bewältigen können durch vermehrte kooperative Anstrengungen im Rahmen einer politisch, finanziell und strukturell gestärkten UNO. 2005 hatte der damalige Generalsekretär Kofi Annan den Mitgliedstaaten zahlreiche Reformvorschläge zur Stärkung der UNO gemacht. Die meisten dieser Vorschläge harren bis heute der Umsetzung.
In den letzten zehn Jahren wurden vor allem von Nichtregierungsorganisationen noch weitergehende Reformvorschläge entwickelt – etwa zur Finanzierung der UNO oder zur Durchsetzung verbindlicher Menschenrechts-, Arbeits-, Sozial- und Umweltnormen für Wirtschaftsunternehmen.
Koalition williger Multilateralisten statt Weltordnung der G-2, G-8 oder G-20
Eine Umsetzung all dieser Vorschläge zur Stärkung der UNO und ihrer Handlungsfähigkeit hängt davon ab, ob sich unter den 193 Mitgliedstaaten der Generalversammlung eine strategische Koalition williger Multilateralisten zusammenfindet. Eine Koalition, die bereit ist, diese Vorschläge auch dann umzusetzen, wenn sich die USA, China, Russland oder andere Vetomächte und gewichtige Mitgliedstaaten zunächst nicht beteiligen oder sogar ausdrücklich dagegen sind. Zu dieser Koalition müssten neben den europäischen Staaten erklärte Multilateralisten aus anderen Weltregionen gehören wie zum Beispiel Kanada, Mexiko, Brasilien, Indien, Südafrika, Ägypten und Australien.
Die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofes, die Vereinbarung des Kyoto-Protokolls zum Klimaschutz sowie die drei Konventionen zum Verbot von Antipersonenminen und von Streumunition sowie zur Kontrolle des konventionellen Waffenhandels – jeweils durchgesetzt ohne Beteiligung oder gar gegen den erklärten Willen der USA sowie teilweise zunächst auch Russlands und Chinas – sind fünf erfolgreiche Beispiele für derartige Koalitionen aus den letzten zwanzig Jahren. In allen fünf Fällen bestand die ursprüngliche Koalition zunächst nur aus einer kleinen Minderheit von maximal zwei Dutzend der 193 UNO-Mitgliedstaaten, die – angetrieben und unterstützt von Nichtregierungsorganisationen – in der Generalversammlung für ihre Ziele warben. Inzwischen haben jeweils über 150 Staaten – also über drei Viertel der UNO-Mitglieder – das Kyoto-Klimaschutz-Protokoll und die Verbotskonventionen zu Antipersonenminen und Streumunition unterschrieben und ratifiziert und sind trotz massiven Gegendrucks aus Washington dem Internationalen Strafgerichtshof beigetreten.
Die konsequente Weiterverfolgung der Strategie einer die Weltregionen übergreifenden Koalition williger Multilateralisten, die zur Bewältigung der globalen Herausforderungen auf das kollektive System der UNO setzen – das wäre die Alternative zu dem gefährlichen Versuch, eine neue, militärisch definierte multipolare Machtbalance oder gar nur eine neue bipolare Weltordnung der G-2 (USA und China) zu errichten.
Andreas Zumach, Genf, 1. Februar 2015
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Von Syrien bis Ebola – das Scheitern der UNO-Mitgliedstaaten in den aktuellen Krisen und Konflikten
Die Kriege in Syrien, der Ukraine und im Gazastreifen mit jeweils gewaltigen Zerstörungen und horrenden Zahlen an Toten, Verletzten und Flüchtlingen, die rasante Ausbreitung der Ebola-Seuche sowie der erfolgreiche Vormarsch der Terrormilizen des »Islamischen Staates« mit seinen über das Internet weltweit verbreiten Greueltaten – insbesondere diese fünf scheinbar unkontrollierbaren Krisen und Gewaltkonflikte haben seit Anfang 2014 bei immer mehr Menschen den Eindruck eines globalen Chaos geweckt.
Dies umso mehr, als die UNO in keiner dieser Krisen und in keinem dieser Gewaltkonflikte eine wirksame Rolle spielte, um sie zu beenden oder um wenigstens eine weitere Eskalation zu verhindern. Selbst die ausreichende humanitäre Versorgung der überlebenden Opfer dieser Krisen und Gewaltkonflikte konnte die UNO 2014 angesichts immer knapperer Ressourcen häufiger nicht mehr gewährleisten.
Diese Defizite und das Versagen der UNO sind allerdings weder Schicksal noch das Ergebnis angeblicher Unfähigkeit der weltweit tätigen UNO-Mitarbeiter. Verantwortlich für das Versagen der Vereinten Nationen – wie auch für ihre Erfolge – sind immer die Mitgliedstaaten. In allen fünf Krisen und Gewaltkonflikten gab es und gibt es auch weiterhin Alternativen für ein wirksames Handeln der UNO. Die Mitgliedstaaten müssen das nur wollen.
Krieg gegen den »Islamischen Staat« – zum Scheitern verurteilt
Anfang August 2014 begannen die USA mit Luftangriffen gegen die Terrormilizen des sogenannten Islamischen Staates (IS) in Irak. Für diese Angriffe liegt zwar kein Mandat des UNO-Sicherheitsrats vor. Als ausreichende völkerrechtliche Grundlage gilt der Obama-Administration aber ein Hilfsersuchen der irakischen Regierung, deren Streitkräfte seit Anfang 2014 von den IS-Milizen überrannt wurden. An dieser Interpretation werden von einigen Völkerrechtlern zwar Zweifel geäußert. Da aber keine Regierung eines anderen UNO-Staates derartige Zweifel vorgebracht hat, haben sie keine politische Wirkung entfaltet.
Im September weitete die US-Luftwaffe ihre Angriffe auf IS-Milizen in Syrien aus. Für diese Angriffe gibt es weder ein Mandat des UNO-Sicherheitsrats noch ein Hilfsersuchen der Regierung Assad in Damaskus. Allerdings hat die syrische Regierung auch nicht ernsthaft gegen die Verletzung ihres Luftraums und ihrer Souveränität protestiert. Das Außenministerium in Damaskus erklärte lediglich, es sei am Tag vor Beginn der Luftangriffe von der Obama-Administration »informiert« worden. Das wurde in Washington und anderen westlichen Hauptstädten als stillschweigendes Einverständnis der Regierung Assad gewertet. Auch gegen diese Interpretation gab es außer von russischer Seite keine Einwände. Seit Ende September 2014 beteiligen sich auch die Luftstreitkräfte verschiedener arabischer Staaten sowie europäischer NATO-Verbündeter der USA an den Luftangriffen auf Stellungen, Waffenlager und Fahrzeuge der IS-Milizen.
Diese Luftangriffe sollen laut den Regierungen der daran beteiligten Länder dazu beitragen, die von den IS-Milizen bedrohte Zivilbevölkerung »zu retten und zu schützen« – insbesondere religiöse Minderheiten wie die vom IS als »Andersgläubige« besonders verhassten Jesiden. Ziel der Luftangriffe ist darüber hinaus die »Vertreibung und Vernichtung der terroristischen Kämpfer«, wie US-Präsident Barack Obama in seiner Rede vor der UNO-Generalversammlung am 24. September erklärte. Mit derselben Begründung liefern Deutschland und andere Staaten Waffen an die kurdischen Peschmerga-Milizen in Nordirak sowie an die irakischen Regierungsstreitkräfte. Darüber hinaus wollen die USA bis Ende 2017 in Irak und in anderen Staaten der Region insgesamt 15 000 lokale Kämpfer für den Bodenkrieg gegen den IS ausbilden, verkündete der US-Präsident vor der UNO-Generalsversammlung letzten September. Damals schätzten westliche Geheimdienste die Zahl der IS-Kämpfer in Syrien und in Irak bereits auf über 35 000, mit steigender Tendenz.
Nur leise Zweifel an Effektivität der militärischen Bekämpfung des IS
Obamas Rede stieß auf breite Zustimmung bei den Regierungsvertretern der übrigen in New York versammelten 192 UNO-Mitgliedstaaten. Der Auftritt des US-Präsidenten vor der Generalversammlung, die unter seiner Leitung einstimmig verabschiedete Resolution des Sicherheitsrats mit Maßnahmen zur Unterbindung der Finanzierung und Nachwuchsrekrutierung für den IS und andere Terrorgruppen sowie die intensivierten Luftschläge der USA nun auch gegen Stellungen des Islamischen Staats in Syrien: all dies wurde von vielen Teilnehmern der UNO-Generalversammlung sowie von den meisten westlichen Medien begrüßt als Demonstration neuer Einigkeit der zuletzt vor allem im Syrienkonflikt so zerstrittenen und handlungsunfähigen Vereinten Nationen unter amerikanischer Führung.
Dem US-Präsidenten dienten die markigen Auftritte als Kriegsführer auf der New Yorker Weltbühne in erster Linie dazu, seine innenpolitischen Gegner zu widerlegen. Die Republikaner beschimpfen Obama als »Weichei« und »außenpolitischen Versager«. Sie werfen ihm vor, er habe die amerikanischen Truppen »vorschnell« aus Irak zurückgezogen und damit den Aufstieg des Islamischen Staates erst ermöglicht. Anstatt darauf hinzuweisen, dass für die Entstehung und das Wachstum des IS ganz maßgeblich der von seinem republikanischen Vorgänger George Bush geführte Irakkrieg von 2003 und die anschließende achtjährige US-Besatzung des Landes verantwortlich waren, ließ sich Obama in New York auf die Logik seiner innenpolitischen Gegner ein. Das hat ihm innenpolitisch allerdings nichts genutzt. Sechs Wochen nach Obamas Auftritt gewannen die Republikaner bei den Kongresswahlen eine deutliche Mehrheit im Abgeordnetenhaus und auch im Senat. Damit sind sie nun noch besser in der Lage als schon zuvor, die wenigen vernünftigen außenpolitischen Vorhaben Obamas, die auch im Interesse der UNO lägen (insbesondere ein Abkommen mit Iran über dessen Nuklearprogramm) zu sabotieren.
Russlands Außenminister Sergej Lawrow monierte in New York zwar die fehlende völkerrechtliche Grundlage für Luftangriffe gegen die IS-Milizen auf syrischem Territorium. Doch grundsätzliche Bedenken gegen die Bekämpfung des Terrorismus mit vornehmlich militärischen Mitteln wurden unter den Vertretern der 193 UNO-Mitgliedstaaten nur vereinzelt laut. »Ich habe viele Zweifel, weil die bisherige internationale Antwort auf den Terrorismus nicht funktioniert hat«, erklärte die argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner auf der von Obama geleiteten Sitzung des UNO-Sicherheitsrats zum Thema Terrorismus. »Mehr und mehr terroristische Gruppen« hätten »von Tag zu Tag mehr Macht«, und »viele der Freiheitskämpfer in Syrien, die von außen bewaffnet wurden«, hätten sich »inzwischen als Terroristen erwiesen«, erklärte Kirchner. Die argentinische Präsidentin forderte »die Entwicklung einer langfristigen, umfassenden Strategie gegen Terrorismus mit starkem Respekt vor den Menschenrechten, die garantiert, dass dieses Monster des Terrorismus nicht ständig weiter ernährt wird«. UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon betonte: »Die stärksten Waffen gegen Terroristen sind nicht Raketen, sondern politische Lösungen, sind Jobs und Sozialprogramme.«
So bleibt festzuhalten, dass der aktuelle Krieg gegen die Terrormilizen des Islamischen Staates mit Luftschlägen, Waffenlieferungen an seine Gegner sowie der Ausbildung von lokalen Truppen zu seiner Bekämpfung zwar von der UNO nicht formal beschlossen wurde, aber von der überwältigenden Mehrheit ihrer Mitgliedstaaten mitgetragen und unterstützt wird. Anders als mit Blick auf den ursprünglichen Konflikt zwischen der syrischen Regierung Assad und der Opposition gibt es in der Frage der Terrorismusbekämpfung auch keinen Dissens zwischen den drei westlichen Vetomächten des Sicherheitsrats USA, Großbritannien und Frankreich auf der einen und Russland und China auf der anderen Seite. Denn auch die Regierungen in Moskau und Peking praktizieren in Tschetschenien beziehungsweise in der von muslimischen Uiguren bewohnten chinesischen Provinz Xinjiang »Terroristenbekämpfung« mit militärischen Mitteln.
Ernüchternde Kriegsbilanz seit dem 11. September 2001
Das militärische Vorgehen gegen den IS ist das vorerst letzte Kapitel im globalen »Krieg gegen den Terrorismus«. Dieser Krieg wurde von US-Präsident George Bush nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ausgerufen. Er findet seitdem unter Führung der USA statt mit mehr oder weniger aktiver Unterstützung und Beteiligung fast aller anderen 192 UNO-Staaten. Bisherige Hauptschauplätze dieses Krieges sind Afghanistan, Pakistan, Somalia, Jemen und Mali.
Geführt wird dieser Krieg vorwiegend aus der Luft: mit Bomben, Raketen, Drohnen und Marschflugkörpern. In Afghanistan und kurzzeitig in Mali kämpften auch westliche Bodentruppen gegen tatsächliche oder vermeintliche terroristische Gruppen. Al-Qaida-Chef Osama bin Laden und andere Führungsfiguren des Terrornetzwerkes wurden von Spezialeinheiten der USA oder Israels aufgespürt und liquidiert.
Die Bilanz dieses jetzt schon über dreizehn Jahre währenden »Krieges gegen den Terrorismus« ist ernüchternd. Gemessen an dem erklärten Ziel, die Bedrohung durch Terrorismus zu überwinden, ist dieser Krieg nicht nur gescheitert, sondern er hat sich sogar als kontraproduktiv erwiesen. Zwar wurden seit September 2001 Tausende mutmaßliche Terroristen getötet – vornehmlich durch Bomben, Raketen und Drohnen der US-Streitkräfte. In maximal drei Dutzend Fällen legte die US-Regierung Beweise für die terroristischen Taten der Getöteten vor. Über die mutmaßlichen Terroristen hinaus wurden aber auch Tausende nachweislich völlig unschuldige Zivilisten getötet, verstümmelt oder es wurden ihre Häuser zerstört. All das hat in den Zielgebieten und bei den Überlebenden der Luftangriffe Verzweiflung und Hass geschaffen und damit potenzielle Gewalt- und Terrorbereitschaft. Für jeden getöteten tatsächlichen oder vermeintlichen Terroristen sind mindestens zehn potenzielle Nachfolger nachgekommen. Angesichts dieser Bilanz gibt es keinen Grund zu der Annahme, der ebenfalls überwiegend aus der Luft geführte Krieg gegen den Islamischen Staat könnte sich militärisch als Erfolg erweisen.
Mit Luftangriffen wurde noch nie ein asymmetrischer Krieg gewonnen
Gegen diese Erfolgserwartung sprechen auch alle Erfahrungen aus der Militärgeschichte. Noch niemals, seit Luftstreitkräfte existieren, wurde ein asymmetrischer Krieg – das ist der »Krieg gegen den Terrorismus« – aus der Luft gewonnen. Auch der Sowjetunion gelang es nach dem Überfall auf Afghanistan Ende 1979 in acht Jahren nicht, den Widerstand gegen die Besatzung militärisch zu besiegen und das Land unter ihre Kontrolle zu bekommen – trotz erdrückender Luftüberlegenheit und der Stationierung von über 100 000 Soldaten.
Im aktuellen Luftkrieg gegen Stellungen der IS-Milizen insbesondere in Syrien stellen sich den Angreifern noch zusätzliche Probleme. In Syrien findet ein kleinteiliger Bürgerkrieg statt – überwiegend innerhalb von engen Städten – mit einer Vielfalt von Akteuren und mit oft unüberschaubaren Fronten. Das Risiko, dass Angriffe aus der Luft Zivilisten treffen oder Mitglieder von Oppositionsgruppen gegen das Assad-Regime, die der Westen zu seinen Verbündeten zählt, ist in Syrien sehr viel größer als in Afghanistan, Pakistan, Somalia, Jemen und anderen bisherigen Zielländern von Luftschlägen.
Waffen, die von Deutschland und anderen Ländern an die kurdischen Peschmerga und an die irakischen Regierungstruppen geliefert wurden, sind als Mittel gegen die Bedrohung durch die IS-Milizen völlig ungeeignet. Die IS-Milizen verfügen längst über dieselben Systeme sowie über weit überlegene Waffen. Zudem haben sie in ihren Reihen die entschlosseneren Kämpfer, die jederzeit todesbereit sind.
Nur eine UNO-Bodentruppe ermöglicht effektiven Schutz der bedrohten Zivilbevölkerung
Um die von den IS-Milizen bedrohte Zivilbevölkerung in Syrien und Irak wirksam zu schützen und die mit Luftschlägen verbundenen »Kollateralschäden« zu vermeiden, wären vom UNO-Sicherheitsrat mandatierte Bodentruppen erforderlich. Deren Mandat müsste eindeutig begrenzt sein auf folgende Maßnahmen: Schaffung von Landkorridoren zur sicheren Flucht für die von den IS-Milizen bedrohten Menschen sowie zur humanitären Versorgung der notleidenden Bevölkerung; militärischer Schutz von Städten und Regionen, die die IS-Milizen angreifen und erobern wollen; Zurückdrängung der IS-Milizen aus Regionen, die sie heute bereits kontrollieren. Jegliches Vorgehen der UNO-Truppe gegen das Assad-Regime oder die Unterstützung von Kämpfern der Opposition müsste ausgeschlossen werden. Bei einem solchen Mandat würde eine UNO-Truppe wahrscheinlich auch nicht auf den Widerstand des Assad-Regimes stoßen, sondern zumindest stillschweigend toleriert werden, wie bislang schon die US-Luftangriffe gegen IS-Stellungen in Syrien. Die Glaubwürdigkeit eines solchen Mandats bei allen Konfliktparteien würde zudem erheblich erhöht, wenn an der UNO-Truppe Soldaten aus allen fünf Vetomächten des Sicherheitsrats (USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien) beteiligt wären.
Nur mit einer solchen UNO-Bodentruppe ließe sich die bedrohte Zivilbevölkerung in Syrien und Irak wirksam schützen und bestünde zumindest überhaupt eine Chance, die Anfang Januar 2015 von den US-Geheimdiensten auf über 40 000 Kämpfer geschätzten Milizen des IS aus den von ihnen kontrollierten Regionen zu vertreiben. Doch selbst wenn dies gelingen sollte, wäre das Problem des islamistisch gerechtfertigten Terrorismus, den die meisten UNO-Staaten inzwischen zur zentralen globalen Herausforderung erklärt haben, noch keineswegs gelöst. Denn solange im Krisenbogen zwischen Marokko und Pakistan, in Tschetschenien und anderen Kaukasus-Regionen sowie zunehmend auch in europäischen Städten weiterhin viele Millionen junge Männer in völlig prekären Umständen und ohne jede positive Lebensperspektive aufwachsen, also leicht Opfer der islamistischen Propaganda werden können, gibt es ein fast unerschöpfliches Nachwuchsreservoir potenzieller Terroristen. Dieses potenzielle Nachwuchsreservoir für den Islamischen Staat, al-Qaida und ähnliche Gruppen und Netzwerke lässt sich nur mit politischen, wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen austrocknen. Das wäre die entscheidende und unerlässliche Voraussetzung für eine erfolgreiche und nachhaltige Überwindung des islamistisch gerechtfertigten Terrorismus. Doch von dieser Erkenntnis sind die Regierungen der meisten UNO-Staaten weit entfernt, wie die Debatten und Entscheidungen während der oben erwähnten Generalversammlung im September 2014 zeigen.
Rüstungsexporte und andere schädliche Einwirkungen beenden
Als erster Schritt wäre schon viel gewonnen, wenn die Staaten Europas und Nordamerikas ihre äußerst schädliche Politik gegenüber den Ländern der Region Nordafrika und Naher Osten korrigieren würden. Das sind an erster Stelle die Rüstungsexporte, die unfairen Handelsverträge (zum Beispiel die sogenannten Partnerschaftsabkommen zwischen der EU und den Maghreb-Staaten, die tatsächlich nicht partnerschaftlich sind, sondern zum einseitigen Vorteil der Unternehmen aus dem EU-Raum) sowie der Export von hoch subventionierten Nahrungsmitteln zu Dumpingpreisen, durch die Kleinbauern in den Empfängerländern um ihre Existenz gebracht werden.
Über die Beendigung dieser schädlichen Politik hinaus bedarf es aber zudem einer großen gemeinsamen Anstrengung der in der UNO organisierten internationalen Gemeinschaft, um den Ländern im Krisenbogen von Marokko bis Pakistan zu einer eigenständig tragfähigen Volkswirtschaft zu verhelfen. Damit diese Länder zumindest in die Lage versetzt werden, die eigene Bevölkerung zu ernähren und ihre wichtigsten sozialen Grundbedürfnisse (Gesundheitssystem, Bildung usw.) zu erfüllen. Eine tragfähige nationale Volkswirtschaft ist notwendige Voraussetzung für das Entstehen und die Stabilisierung demokratischer und rechtsstaatlicher Verhältnisse.
Erforderlich wären unter anderem nachhaltige Investitionen ausländischer Unternehmen, die Arbeitsplätze schaffen, statt auf einen schnellen und möglichst hohen Profit zielen. Die Schweiz und Deutschland könnten auch mit ihrem in der Welt einmaligen dualen Ausbildungssystem wesentliche Unterstützung leisten. Denn in vielen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens gehen zwar immer mehr junge Menschen auf die Universitäten – darunter erfreulicherweise auch immer mehr junge Frauen. Doch für die meisten Universitätsabsolventen gibt es keine Stellen. Auf der anderen Seite fehlen in den Ländern der Region gut ausgebildete Fachkräfte in allen nicht akademischen und handwerklichen Berufen. Derartige Fachkräfte sind für den Aufbau einer mittelständischen Wirtschaft und einer tragfähigen Volkswirtschaft jedoch unerlässlich.
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