Dringlichkeit und Gegenwart

Leseprobe "Haltung finden ... Ist überhaupt irgendetwas dringlicher, als diesen aus der Mode gekommenen moralischen Imperativ zu rehabilitieren? Nicht in einer theoretischen Untersuchung, sondern im lockeren Gespräch."
Dringlichkeit und Gegenwart

Foto: John Macdougall/AFP/Getty Images

Vorbemerkung

Wir saßen in einem Münchener Biergarten und kamen auf die jüngsten politischen Entwicklungen zu sprechen. War es nicht so, als ob sich die Verrückten dieser Welt überall als neue Normalität etabliert hatten und nurmehr um die Vorherrschaft ihrer jeweiligen Verrücktheit rangen? Stand man nicht in der Pflicht, sich in diesen emotional aufgeheizten Zeiten zu positionieren, ohne den Stammtischweisheiten des einen oder andern Lagers auf den Leim zu gehen?

Rückbesinnung aufs weltanschaulich ungebundene Fragen erschien uns angesichts des Vormarsches populistischer Antworten bald als das entscheidende Moment, von dem aus sich ein differenziertes Denken und Reden wieder neu entfalten könnte. Die Verteidigung der Demokratie – nämlich der grundsätzlichen Freiheit des gesellschaftlichen Gesprächs ohne Vorabdiskriminierung und -verurteilung –, fängt nicht »irgendwo da oben« an, wo man sie an Parteien, Medien und Institutionen delegieren kann. Sie beginnt in unserem Alltag und bei uns selber, spätestens dann, wenn wir wieder das offene Wort suchen.

Genau das taten wir an jenem Abend. Schnell waren wir uns einig, daß bereits die schiere Suche nach einer Haltung gegenüber all dem, was wir in letzter Zeit achselzuckend zur Kenntnis genommen hatten, der Ausgangspunkt eines neuen Miteinanders sein könnte, das den einzelnen wieder in die Pflicht gegenüber der Gemeinschaft nimmt. Oder das nun gerade doch nicht? Schon waren wir uns uneins. Und beschlossen, unser Gespräch so lange weiterzuführen, bis wir uns wieder einig sein würden – oder bis die Uneinigkeit ausreichend geklärt wäre.

Haltung finden ... Ist überhaupt irgendetwas dringlicher, als diesen aus der Mode gekommenen moralischen Imperativ zu rehabilitieren? Nicht in einer theoretischen Untersuchung, sondern im lockeren Gespräch – ironisch zuspitzend, da und dort mit Absicht auch übertreibend, eher an Denkimpulsen interessiert als daran, einen Gedanken mit all seinem Für und Wider durchzudeklinieren?

Wir sind beide von Nietzsche geprägt, wir lieben seinen Perspektivismus, das spielerische Betrachten der Welt aus verschiedensten Blickwinkeln, weil wir gerade in der wechselnden Erprobung von Standpunkten die Freiheit des Denkens zu erkennen glauben. Wer Nietzsche ernsthaft gelesen hat, kann kein Ideologe mehr sein, für welche Sache auch immer. Aber er kann auch kein Abwiegler sein, kein Jeinsager. Sondern eher ein Heißsporn der Wahrhaftigkeit, gerade auch, weil er Wahrheit allein als Vielheit von Wahrheiten kennt und vertritt. Das kritisch aufmerksame, wohlwollend freundschaftliche Geltenlassen der Differenz macht eine lebendige Demokratie aus, sobald die Argumente ausgetauscht sind, und gilt es gegen Indoktrinierer jeglicher Couleur zu verteidigen.

Also haben wir nichts abgeschwächt und den Bogen gespannt gelassen. Jeder von uns hat seine ganz eigenen Standpunkte, die wir nicht glattgeredet, sondern, im Gegenteil, gerade in der Differenz zur Position des jeweils anderen erst richtig verstanden haben:

M P Liebe Linke – wer auch immer sich von diesem Oberbegriff angesprochen fühlt, ob er nun einer der linken Parteien und Splittergruppen angehört oder sich aufgrund seiner Einstellungen und Ideale als solcher empfindet!

Ich war schon ein Grüner, bevor die entsprechende Partei gegründet wurde. Es war unsre Haltung als Generation, auch wenn diese Haltung damals noch reichlich unpräzis und umso optimistischer war, jede Diskussion in einer WG-Küche stand unter dem Primat der Weltverbesserung. Dieser Grüne bin ich, jenseits aller parteipolitischen Bindung, bis heute geblieben, gerade auch wenn ich mit dem Kurs der Partei gehadert habe. Mittlerweile hadere ich mit der gesamten Linken – und das als Linker! –, vor allem mit denjenigen ihrer Vertreter, die mich im Alltag als meine eigene Filterblase umgeben. Ich halte es für dringend geboten, ihrer Übergriffigkeit Contra zu geben, ihren immergleichen Maßregelungen und Belehrungen. Natürlich ist die Demokratie vor allem von Rechts bedroht. Aber den Vormarsch der Rechten zu verhindern, sind wir – und ich sage ganz bewußt: wir – alle zusammen und jeder auf seine Weise eifrig bemüht. Meine Haltung hierzu war immer eindeutig und wird es immer sein. Hingegen sehe ich Gesprächsbedarf sehr wohl dort, wo das offene öffentliche Gespräch neuerdings von Links bedroht wird und eine längst überfällige Kritik der Linken aus der linken Ecke nottut – nicht zuletzt um die Linke auch für all jene wieder glaubwürdig und attraktiv zu machen, die wir durch die Bevormundungen der letzten Jahre ins gegnerische Lager getrieben haben. Liebe Linke, das tut erst mal weh! Aber genau das ist gute linke Tradition. Und damit verwahre ich mich gegen jeden Versuch, meine Kritik außerhalb der Linken gegen die Linke zu instrumentalisieren. Sie ist an meine Person gebunden, und nur deshalb bringe ich sie in dieser Schärfe vor.

AUS Liebe Rechte! Ich bin ein Konservativer, das schon. Aber verwechselt mich nicht, ich bin keiner von Euch – von Euch Rechten, die Ihr seit ein paar Jahren wieder durch Europa geistert. Immerhin halte ich Euch zugute, dass Ihr die politische Landschaft ganz schön aufmischt. Es lohnt sich wieder, für Pluralität und Freiheit einzutreten. Dank Euch und gegen Euch. Es macht wieder Freude, Demokrat zu sein. Mein Konservatismus ist ein Gegenwartskonservatismus: Die seit Schopenhauer und Nietzsche vielgeschmähte «Jetztzeitkultur» als die beste aller bisher möglichen Kulturen verdient es, gegen die Gebildeten und Ungebildeten unter ihren Verächtern verteidigt zu werden. Wozu mir weder hektischer Aktivismus noch eifriges antifaschistisches Bekennertum auf Kirchentagen oder «Wir sind mehr»-Konzerten zielführend zu sein scheinen. Sondern eine Haltung gelassener Reflexion, die politisch-ideologischen Dogmatismus mit Ironie quittiert. Denn Politik ist ein Feld der vorletzten Dinge, auf dem Letztgültiges und Felsenfestes nicht anzutreffen ist. Nirgendwo übrigens. Das schreibt Euch, liebe Rechte, hinter die Ohren! Mal sehen, wie viel «rechts» dann bei Euch übrigbleibt.

MP & AUS, 3.März 2019

19.09.2019, 14:54

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