Prolog
Kabul 2012
Am Abend des 30. Oktober 2012 klopft es an der Tür der Suite. »Wir müssen los – das Land wartet auf dich«, sagt mein Bruder. Ich streife routiniert meine Boxerhose über, doch beim Zubinden der Schuhe streiken meine vor Nervosität zitternden Finger. Die Bewegungen fallen mir schwer, als wäre mein Körper mit Zement übergossen, der langsam hart wird. Laut und eifrig pocht mir das Herz in der Brust, als ich in den Lift steige. Es ist so weit. Der Tag, auf den ich seit dem Moment gewartet habe, als ich aus diesem Land fortgegangen bin und mir geschworen habe wiederzukommen.
Vor dem Hotel Kabul Star stehen sechzehn gepanzerte Wagen. Soldaten mit Helmen warten in Schutzwesten. Ihr Blick ist ernst und wachsam. Türen werden aufgehalten, ich springe in einen der Wagen. Sirenen ertönen, durch das Panzerglas der Scheibe sehe ich Polizisten auf Motorrädern, die uns zusätzlich eskortieren. Es ist, als würde ich eine Armee anführen. Eine Armee, die bereit ist, mit mir in den Kampf zu ziehen. Außer meiner Eskorte ist fast niemand unterwegs – kein Auto, keine Eselskarre, kein Fußgänger. Alle sitzen gebannt vor ihren Fernsehgeräten oder warten vor der Halle. Ruhe liegt über den sandigen Straßen meiner Geburtsstadt. Kabul. Kabuljan. Die Straßen sind so leergefegt, als hätte Gott über die Gassen und Ecken gehaucht. Je näher wir dem Veranstaltungsort kommen, desto mehr Menschen tauchen auf, desto lauter wird es auch wieder, desto stärker pocht mein Herz.
Vor dem Gelände hat sich eine gewaltige Menschenmenge versammelt, das müssen Tausende sein, zehntausend. Über dreitausend haben einen der heißbegehrten Plätze drinnen im Saal ergattert, ein Vielfaches drängt sich vor der Halle, und ein Millionenpublikum hat sich um die Fernseher im ganzen Land geschart. Als ein traumatisiertes Flüchtlingskind von Hunderttausenden habe ich diese Stadt einst verlassen, und jetzt, bei meiner Rückkehr, bin ich in meiner Heimat so berühmt, dass mich von den Straßenkindern in den Gassen bis hin zum Präsidenten jeder kennt. Seit langem war Afghanistan nicht mehr so ruhig und friedlich wie an diesem Abend, an dem sich alle sonst verfeindeten Volksgruppen, Paschtunen, Hazara, Usbeken, Tadschiken, im Saal und überall im Land versammeln, alle Zwistigkeiten vergessen und einfach nur Afghanen sind. Afghanen, die dieser eine Kampf vereint.
Wir bahnen uns unseren Weg zwischen Pick-ups mit aufmontierten Maschinengewehren hindurch, Hubschrauber kreisen über unseren Köpfen. Der Präsident hat die höchste Sicherheitsstufe verhängt. 1800 Soldaten und Sicherheitskräfte bewachen die Loya-Jirga-Halle im Parlamentskomplex von Kabul, wo sonst die Häupter des Staates über Fragen von politischer Wichtigkeit debattieren. Im Saal sind Politiker, Polizeichefs und Generäle, Reiche und einfache Menschen, verfeindete Warlords, fromme Mullahs und selbst einige Frauen. Und jetzt warten sie alle auf mich. Wegen mir sind sie hier. Terrorismusexperten haben auf der Suche nach Sprengstoff Glühbirnen und Lautsprecher auseinandergeschraubt. Jeder, der hineinwill, muss durch mehrere Sicherheitsschleusen und Metalldetektoren hindurch. Wir betreten das Gebäude durch den Hintereingang. Fast jeder Journalist des Landes ist präsent. Heute werden sie nicht über Selbstmordattentäter oder gefallene Soldaten schreiben.
Heute haben sie den Krieg vergessen. Heute dreht sich alles um meinen Kampf – den Kampf meines Lebens. Irgendwer reicht mir ein Telefon – der Präsident von Afghanistan persönlich. Hamid Karzai entschuldigt sich, nicht persönlich anwesend sein zu können, aber er wünscht mir viel Glück. Glück – das kann ich brauchen. Ich bin durch sehr viel Pech und Glück gegangen, um heute Abend hier kämpfen zu können. Das ist mein Traum. Ein Traum, gezeugt aus Freude und Leid. Ein Traum, in einer verwundeten Seele gereift. Ein Traum, aus einer langen Vergangenheit gewonnen wie Honig aus dem Nektar Tausender Blüten. Wie weit bin ich gegangen, um endlich anzukommen?
Ein Mullah spricht ein Gebet und segnet die Veranstaltung. Dann endlich werde ich angekündigt. Die Stimme des Ansagers überschlägt sich. »Ladies and Gentlemen, please welcome, from Kabul, Afghanistan, the Peace Fighter – Hamiiiid Rahimiiii!« Ich betrete die Halle. Jubelrufe ertönen. Blendende Scheinwerfer. Tosender Lärm. Der Saal ist in blaues Flutlicht getaucht. Zu heißen amerikanischen Rhythmen bahne ich mir einen Weg durch die tobende Menge. Ein Hauch von Las Vegas liegt in der Luft. Las Vegas in Kabul. Als ich den Ring erreiche, schlägt meine geballte Nervosität plötzlich in Angst um. Angst, nicht vor einem Bombenanschlag. Angst, nicht vor meinem Gegner. Angst, meine Landsleute zu enttäuschen.
Sie setzen ihre Hoffnungen auf mich. Ein Land glaubt an mich. Entschlossen steige ich durch die Seile in den Ring. Menschen kreischen und jubeln, recken die Hände in die Höhe, schwenken die afghanische Flagge. In der blauen Ecke mache ich mich warm, lasse die Hüften kreisen, bewege mich wie ein Tänzer durch den Ring und boxe mit meinen Handschuhen in die Luft, atme noch einmal tief durch. Grauer Dunst liegt über dem Saal. Kunstnebel. Zigarettenrauch. Die dampfende Wärme der Leiber. Der Gong ertönt. Es geht los. Der Tag, an dem ich in den Ring stieg, um den bedeutendsten Kampf meines bisherigen Lebens anzutreten, ist nicht der Anfang meiner Geschichte. Meine Geschichte beginnt viel früher. In meiner Kindheit, die in Kabul ihren Anfang und ihr Ende fand. Hier ist sie, meine Geschichte.