6.3 Das „Zukunftspaket“ von CDU, CSU und FDP: „Sparen“ auf dem Rücken der Armen
Bei Westerwelles Ausfällen gegenüber den „faulen Armen“ und dem bestehenden Wohlfahrtsstaat handelte es sich nicht bloß um den Versuch, von der Klientelpolitik seiner Partei, d.h. bereits erfolgten und geplanten Steuersenkungen der CDU/CSU/FDP-Koalition für Begüterte und Besserverdienende wie Hotelbesitzer, kinderreiche Millionäre oder Firmenerben bzw. anderen Fördermaßnahmen für die vier großen Energiekonzerne (z.B. die nach der japanischen Reaktorkatastrophe wieder zurückgenommene Verlängerung der Restlaufzeiten für Atomkraftwerke), Ärzte und Zahnärzte, die Pharmaindustrie, die privaten Krankenversicherungen, Vermieter (Erleichterung der Umlegung von Kosten der energetischen Gebäudesanierung auf die Mieter/innen) und Spediteure (Aussetzung der schon beschlossenen Erhöhung der Lkw-Maut) abzulenken und die FDP aus ihrem damaligen Umfragetief herauszukatapultieren, sondern auch um die Vorbereitung einer weiteren Runde des Sozialabbaus.
Auf einer Klausurtagung am 6./7. Juni 2010 im Kanzleramt verabredeten die Regierungsparteien ein „Spar-“ bzw. „Zukunftspaket 2011–2014“, das die Konsolidierung des Staatshaushalts vorantreiben und der „Schuldenbremse“ genannten Kreditsperre laut Art. 115 GG Rechnung tragen sollte. Entgegen ihren wiederholten Bekenntnissen im vorangegangenen Bundestagswahlkampf, nicht für eine Politik des Sozialabbaus zu stehen, und ihren gleichzeitig abgegebenen Versprechungen, im Falle einer gemeinsamen Regierungsbildung keine weiteren Kürzungen in diesem Bereich vorzunehmen, beschlossen die Koalitionsparteien CDU, CSU und FDP auf ihrer „Sparklausur“, die erst vier Wochen nach der wichtigen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai 2010 stattfand, mehrere zum Teil gravierende Leistungsreduktionen und Streichungen von Transferleistungen für Hartz-IV-Betroffene.
In dem Ergebnispapier der o.g. Klausurtagung mit dem Titel „Die Grundpfeiler unserer Zukunft stärken“ fanden sich die massivsten Kürzungsabsichten in dem „Stärkung von Beschäftigungsanreizen und Neujustierung von Sozialleistungen“ überschriebenen Kapitel. Während die geplanten Maßnahmen zur Erhöhung/Erhebung von Steuern bzw. Abgaben im Unternehmens- und Finanzmarktbereich entweder bloße Luftbuchungen darstellten, weil sie – wie Bankenabgabe und Brennelementesteuer – im Rahmen eines „Restrukturierungsfonds“ den zu Belastenden selbst zugute kommen bzw. nicht realisiert wurden, ausgesprochen vage klingende Versprechungen – wie die durch eine Strukturreform der Bundeswehr angeblich frei werdenden Mittel – darstellten oder – wie eine Verschiebung des Baubeginns für das Berliner Stadtschloss – unter dem Strich finanziell kaum ins Gewicht fielen, waren Alg-II-Bezieher/innen von drastischen Leistungskürzungen betroffen.
„Gespart“ wurde demnach primär auf Kosten der (Langzeit-)Erwerbslosen, der Armen und ihrer Familien, was unsozial und weder gerecht noch ökonomisch sinnvoll war. Zweckmäßig und nötig wäre es gewesen, die Binnenkonjunktur dadurch zu beleben, dass man gezielt die (Transfer-)Einkommen derjenigen Menschen erhöhte, denen das Geld fehlt, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, und die es deshalb weder auf ein Sparkonto legen noch damit Finanzspekulationen tätigen würden. Das größte Aufsehen im „Sparpaket“ erregte die Absicht, Alg-II-Bezieher(inne)n ohne Zuverdienst das Elterngeld zu streichen bzw. auf die Transferleistung anzurechnen. Durch die zusätzliche Gewährung von Elterngeld für die Empfänger/innen von Arbeitslosengeld II werde der Lohnabstand zu sehr verringert, hieß es in Regierungskreisen.
Da es sich bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende um eine Lohnersatzleistung handle, sei die Gewährung des Elterngeldes analog der Regelung beim Kindergeld systemwidrig, lautete ein weiteres Argument, das gleichfalls vorgeschoben wirkte, nachdem mit den Unionsparteien zwei der drei Koalitionspartner das Elterngeld anstelle des – für Transferleistungsbezieher/innen übrigens günstigeren – Erziehungsgeldes in der ab 1. Januar 2007 geltenden Form selbst eingeführt hatten. Das kurz nach der Geburt eines Kindes die finanzielle Lage von Hartz-IV-Familien ein Jahr lang verbessernde Elterngeld dürfte bis dahin überwiegend zur Einrichtung des Kinderzimmers benutzt worden sein, sofern sich die Bezieher/innen von Arbeitslosengeld II ein solches überhaupt leisten können. Deshalb verschlechterte sich die Lebenssituation der betroffenen Kinder weiter.
Gleichzeitig wurde die Lohnersatzrate beim Elterngeld ab einem Monatsnettoeinkommen von mehr als 1.240 Euro von 67 Prozent auf 65 Prozent abgesenkt, der Höchstbetrag von 1.800 Euro im Monat blieb hingegen bestehen. Dies bedeutete, dass Einkommensbezieher/innen im mittleren Bereich geringe, ausgerechnet die Bestverdienenden jedoch keinerlei Einbußen gegenüber dem Status quo zu verzeichnen gehabt hätten. Um dem Vorwurf der sozialen Schieflage ihres „Sparpaketes“ zu begegnen, beschloss die schwarz-gelbe Koalition nachträglich, d.h. erst während des Gesetzgebungsverfahrens im Oktober 2010, das Elterngeld auch „Reichensteuerzahler(inne)n“ vorzuenthalten, also den sehr wenigen Menschen mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen von mehr als 250.000 Euro bzw. 500.000 Euro bei gemeinsam veranlagten Ehepaaren.
Ersatzlos gestrichen wurde im Haushaltbegleitgesetz 2011 der Zuschlag, den es beim Übergang vom Bezug des Arbeitslosengeldes (I) zum Bezug von Arbeitslosengeld II gab. Von Christian Brütt als „Schwundform der früheren Arbeitslosenhilfe“ bezeichnet,26 gewährleistete dieser Zuschlag wenigstens einen partiellen, wenn auch nur temporären Statusschutz. Er betrug zwei Drittel der Differenz zwischen dem Alg (I) plus Wohngeld und dem Alg-II-Anspruch, wurde allerdings bei 160 Euro für Alleinstehende, bei 320 Euro für (Ehe-)Paare und bei 60 Euro pro Kind gedeckelt sowie im zweiten Jahr halbiert. Auf diese Weise wurde der Abstieg auf das Sozialhilfeniveau bisher hinausgezögert, was die Bundesregierung inzwischen für einen Fehlanreiz zur Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung hielt, weshalb sie lapidar und ohne jede Begründung erklärte: „Die Notwendigkeit des befristeten Zuschlages beim Arbeitslosengeld II ist überholt.“
Durch seine Abschaffung wurde die sozialrechtliche Rutsche in die Armut für Hartz-IV-Betroffene noch steiler, als sie es ohnehin schon war. Wilhelm Adamy hat darauf hingewiesen, dass mit dem ohnehin auf zwei Jahre befristeten Zuschlag beim Übergang vom Alg-(I)- zum Alg-II-Bezug die letzte Leistungskomponente wegfiel, die im Hartz-IV-System noch an einen vormaligen Erwerbs- und Einkommensverlauf anknüpfte. Nunmehr gab es sofort die gleichen Regelsätze wie im Sozialhilfebereich, ebenfalls um den zur Begleichung der Miet- und Heizkosten notwendigen Betrag ergänzt. Größtenteils wurde durch Umsetzung der Regierungsbeschlüsse überhaupt nicht gespart, sondern die Finanzlast nur umverteilt, d.h. von der Bundesebene zu den Ländern und Kommunen, von der Solidargemeinschaft auf jeden Einzelnen oder von der Gegenwart in die Zukunft verschoben. So wollte die Bundesregierung jährlich 1,8 Mrd. Euro „einsparen“, indem für Alg-II-Bezieher/innen keine Beiträge mehr an die Gesetzliche Rentenversicherung entrichtet werden. Zwar war die Höhe der Beitragszahlungen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten von unterschiedlichen Koalitionsregierungen sukzessive bereits so weit gesenkt worden, dass die seitens der Betroffenen pro Jahr erworbenen Rentenansprüche am Ende bloß noch einer Monatsrente in Höhe von 2,09 Euro entsprachen. Damit war die in Etappen betriebene Transformation der früheren Arbeitslosen- zur Sozialhilfe abgeschlossen.
Seither unterscheidet sich Hartz IV kaum mehr von dieser, und es ist daher nicht übertrieben, von ihnen als siamesischen Zwillingen zu sprechen. Mit seiner Kürzung drehte der Bund das Rad zurück in die Zeiten des BSHG, als die Sozialhilfebezieher/innen meist nicht rentenversichert und massiv von Altersarmut bedroht waren: „Zugleich wird der betroffene Personenkreis jetzt wesentlich erweitert um diejenigen, die früher einen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe gehabt hätten. Im Vergleich zu den Zeiten vor Hartz IV sind die Einschnitte bei der Rente für diesen Personenkreis (der vormalig Erwerbstätigen) massiv.“
Ausgerechnet im Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung, dem bezeichnenderweise das Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit 2011 folgte, fassten CDU, CSU und FDP den Entschluss, Langzeiterwerbslose aus der Gesetzlichen Rentenversicherung auszustoßen. Dadurch vermittelte die Regierungspolitik jenen Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben und kaum mehr auf den ersten Arbeitsmarkt zurückfinden, das Gefühl, auch nicht mehr zur „guten Gesellschaft“ zu gehören. Gleichzeitig förderte sie die Altersarmut und tat genau das Gegenteil dessen, was das erklärte Ziel des „Sparpaketes“ war – die öffentlichen Kassen im Sinne der „Generationengerechtigkeit“ zu schonen. Die absehbaren Folgen haben nämlich später die Kommunen in Form höherer Aufwendungen für die öffentliche Daseinsvorsorge, damit allerdings auch künftige Generationen als Steuerzahler/innen zu tragen.
Den höchsten Betrag (2011: 2 Mrd. Euro; 2012: 4 Mrd. Euro; 2013 und 2014: jeweils 5 Mrd. Euro) wollte die schwarz-gelbe Koalition im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik „einsparen“. Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung für Erwerbslose, die bisher Pflichtleistungen waren, wurden gestrichen oder zu bloßen Ermessensleistungen der Jobcenter. Damit zeigte die Bundesregierung, dass sich ihr Bekenntnis zur „Bildungsrepublik Deutschland“ und das Versprechen der Kanzlerin, „Bildung für alle“ zu ermöglichen, auf Exzellenzbereiche und die Elitebildung von Privilegierten beschränken, Alg-II-Empfänger/innen jedoch nicht einbeziehen, obwohl diese angeblich „gefördert und gefordert“ werden sollen, wie sich dadurch auch die (Langzeit-)Erwerbslosigkeit noch erhöht, was wiederum mit Mehrkosten im Bereich der passiven Arbeitsmarktpolitik verbunden sein dürfte.
6.4 Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils oder Verschärfung von Hartz IV?
Anstatt die Regelsätze, wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert, bis zum 31. Dezember 2010 in einem transparenten Verfahren für alle nachvollziehbar mittels einer schlüssigen Methodik neu zu berechnen und per Gesetz festzulegen, ließ sich Arbeits- und Sozialministerin Ursula von der Leyen nicht bloß sehr viel Zeit, bis ihr Ministerium den Referentenentwurf für ein Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz vorlegte, sondern nutzte die durch das Urteil entstandene Lage auch, um – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – im Rahmen des Gesetzentwurfes eine umfassende Novellierung des SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) und des SGB XII (Sozialhilfe) im Sinne der CDU/CSU/FDP-Koalition vorzunehmen. Dabei wurden die Regelsätze in „Regelbedarfe“ umbenannt, andere Schlüsselbegriffe im bisherigen Gesetzestext modernisiert – so heißen die früheren Hilfebedürftigen jetzt „Leistungsberechtigte“, was sich zwar schöner anhört, aber den Eindruck erweckt, als gäbe es keine Dunkelziffer verdeckt Armer, die schließlich auch leistungsberechtigt sind – und durchgehend geschlechtersensible Bezeichnungen für die betroffenen Personen eingeführt.
Außer solchen eher kosmetischen bzw. semantischen Korrekturen, die größtenteils zu begrüßen waren, gab es zahlreiche inhaltliche Veränderungen. Diese betrafen neben sinnvollen Präzisierungen des Gesetzestextes und partiellen Verbesserungen für Hartz-IV-Bezieher/innen (z.B. Übernahme der Kosten für die Warmwasserbereitung sowie der Anschaffungs- und Reparaturkosten für orthopädische Schuhe, Ermöglichung einer großzügigeren Ausgestaltung der Residenzpflicht von Leistungsberechtigten und Teilschließung der temporären Zahlungslücke beim Übergang von Langzeiterwerbslosen zur Altersrente), die sich hauptsächlich der Urteilspraxis von Sozialgerichten verdankten, auch gravierende Verschärfungen der für sie geltenden Bestimmungen. Musste der Grundsicherungsträger bisher vor einer Verhängung von Sanktionen die Alg-II-Bezieher/innen per Rechtsbehelfsbelehrung über damit für sie verbundene Konsequenzen aufklären, reichte nunmehr die Annahme, dass Betroffene die Folgen kannten. Darlehen sind grundsätzlich als Einkommen leistungsmindernd anzurechnen, sofern sie nicht explizit einem anderen Zweck als der Sicherung des Lebensunterhalts dienen. Bestimmte Leistungen, die bisher vom Grundantrag mit erfasst waren, wie z.B. die Erstausstattung der Wohnung oder Sonderbedarfe bei Schwangerschaft und Geburt, müssen nunmehr zusätzlich beantragt werden, was dazu führen sollte, dass die staatlichen Ausgaben sinken. Geld für (Schul-)Ausflüge und eintägige Klassenfahrten gab es genauso wie finanzielle Unterstützung für Lernförderung und Zuschüsse für die Mittagsverpflegung der Kinder bloß noch auf Antrag.
Nur unbedeutende Modifikationen gab es bei den Erwerbstätigenfreibeträgen, welche die FDP im unteren Einkommensbereich deutlich stärker hatte anheben wollen, um die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung für Alg-II-Empfänger/innen attraktiver zu machen und solche Jobs staatlicherseits noch mehr im Sinne von Kombilöhnen zu subventionieren. Der bisher geltende Grundfreibetrag in Höhe von 100 Euro blieb erhalten, und auch für Leistungsbezieher/innen mit einem Monatseinkommen bis zu 800 Euro änderte sich nichts. Zwischen 800 und 1.000 Euro durften sie nunmehr 20 statt 10 Prozent ihres Zuverdienstes behalten. Leistungsberechtigte mit einem höheren Zuverdienst standen sich fortan hingegen schlechter, weil ihr Einkommen seither in voller Höhe bedarfsmindernd auf das Arbeitslosengeld II angerechnet wurde. Früher galt der 10-prozentige Erwerbstätigenfreibetrag bis zu einem Monatseinkommen von 1.200 Euro. Unter den sechs im Gesetz fixierten Regelbedarfsstufen der Sozialhilfe, die von 364 Euro für alleinstehende bzw. alleinerziehende Leistungsberechtigte (Regelbedarfsstufe 1 – der frühere Eckregelsatz) bis zu 215 Euro für Kinder unter sechs Jahren (Regelbedarfsstufe 6) reichten, war die Regelbedarfsstufe 3 mit 291 Euro für erwachsene Leistungsberechtigte, die keinen eigenen Haushalt führen, von besonderem Interesse.
Durch ihre Einführung drohten Menschen mit Behinderung, die im Haushalt ihrer Eltern oder in einer Wohngemeinschaft leben, nämlich eine Kürzung der ihnen bislang zustehenden Transferleistungen um 20 Prozent, weil sie weder als eigene Bedarfsgemeinschaft anerkannt noch mit dem vollen Regelsatz bedacht wurden. In den anschließenden Verhandlungen der SPD und der Bündnisgrünen mit den Regierungsparteien erklärten sich diese zwar bereit, eine Lösung des Problems herbeizuführen, eine verbindliche Frist wurde ihnen dafür aber nicht gesetzt. Am 23. Juli 2014 urteilte das Bundessozialgericht in Kassel (Az.: B 8 SO 14/13 R, B 8 SO 31/12 R und B 8 SO 12/13 R), es sei weder mit dem Grundgesetz noch mit der UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar, dass Sozialhilfeleistungen von den individuellen Fähigkeiten im Rahmen einer Haushaltsgemeinschaft abhängig gemacht und Menschen mit Behinderungen vorenthalten würden, nur weil sie keinen eigenen Haushalt führten und nicht in einer Ehe oder einer festen Partnerschaft lebten.
Wenig befriedigen konnte auch die Art und Weise, wie das Arbeits- und Sozialministerium die neu-alten Regelbedarfe ermittelt hatte. Maßstab für das „menschenwürdige Existenzminimum“ von Erwachsenen ist das Ausgabeverhalten einer Referenzgruppe, die bisher 20 Prozent von der jüngsten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes erfasster Einpersonenhaushalte mit den geringsten Einkommen umfasste und vorwiegend aus Rentner(inne)n und anderen Nichterwerbstätigen besteht. Durch die ohne Begründung erfolgte Verkleinerung der genannten Referenzgruppe auf 15 Prozent, die Vernachlässigung des Problems der Erwerbsaufstocker/innen bzw. Zuverdiener/innen und der verdeckt Armen (Referenzhaushalte, deren Einkommen unter dem Sozialhilfeniveau liegen) – beide Personengruppen hätten nach dem Verfassungsgerichtsurteil eigentlich herausgerechnet werden müssen, um Zirkelschlüsse von den Konsumausgaben der Armen auf deren Bedarf zu vermeiden – sowie willkürliche Abschläge auf zahlreiche im Rahmen der EVS 2008 ermittelte Einzelposten wurde das Existenzminimum regelrecht nach unten manipuliert.
Rudolf Martens, Forschungsleiter beim Paritätischen Gesamtverband und einer der sachkundigsten Experten auf diesem Gebiet, kam zu dem Schluss, „dass die Bundesregierung verschiedene Varianten durchgerechnet hat, um sich dann für die ‚preiswerteste‘ Variante zu entscheiden.“ Um diesen Vorwurf zu belegen, entlarvte Martens mehrere Tricks des Arbeits- und Sozialministeriums im Umgang mit den statistischen Daten, beispielsweise die Abqualifizierung alkoholischer Getränke und von Tabakwaren sowie der Inanspruchnahme von Beherbungs- und Gaststättendienstleistungen als nicht (mehr) regelbedarfsrelevant. „Mit Geist und Wortlaut des Urteils des Bundesverfassungsgerichts sind die willkürlichen Änderungen der Bezugsgruppe von 20 auf 15 Prozent und bei der Herausnahme der Position ‚Alkoholische Getränke und Tabakwaren‘ nicht zu vereinbaren. Gleiches gilt für die Reduktion des Bedarfs auf das ‚physische Existenzminimum‘ beim Gaststättenbesuch.“ Ein deutliches Indiz dafür, dass der Bundesregierung eine „statistische Punktlandung“ bei genau jener Rechengröße gelang, die ihr politisch opportun erschien, bildet die Tatsache, dass schon ihr „Existenzminimumbericht“ für das Jahr 2010, den sie im November 2008 dem Parlament vorgelegt hatte, ein Regelsatzniveau bei Alleinstehenden von 364 Euro prognostizierte.
Das am 3. Dezember 2010 vom Bundestag in seiner ersten Fassung beschlossene Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch entsprach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht einmal ansatzweise. So war die geplante Erhöhung des Regelbedarfs für alleinstehende Erwachsene (Eckregelsatz) um 5 Euro pro Monat kaum mehr als ein Almosen und weniger als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Weder mit 359 Euro noch mit 364 Euro konnte man in Deutschland menschenwürdig leben, sich gesund ernähren, sich anständig kleiden sowie am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben teilhaben. Die zentrale Forderung des Bundesverfassungsgerichts, allen Grundsicherungsbezieher(inne)n ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ zu gewährleisten, wurde zwar in das SGB II hineingeschrieben, aber nicht erfüllt.
Wieder entsprangen die von der Regierungskoalition getroffenen Entscheidungen reiner Willkür und waren vielleicht der Haushaltslage des Bundes angepasst, hatten aber mit der Lebenswirklichkeit der Armen nicht das Geringste zu tun. So strich man den Alg-II-Empfänger(inne)n nicht bloß die Ausgaben für Haustiere, Schnittblumen und Zimmerpflanzen, den Besitz eines Handys sowie Versicherungen aller Art, enthielt ihnen vielmehr auch die bisher für Tabakwaren und alkoholische Getränke gewährten 19,19 Euro pro Monat mit der Begründung vor, diese Güter gehörten nicht zum Grundbedarf, und bewilligte ihnen als Ersatz 2,99 Euro für Mineralwasser. Hierdurch wuchs die Gefahr ihrer sozialen Ausgrenzung weiter, denn zu rauchen oder mit Freunden und Bekannten abends mal ein Bier zu trinken gehört nun einmal zur „Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen“ (Urteilstext) und zur Alltagsnormalität in unserer Gesellschaft.
Arbeits- und Sozialministerin Ursula von der Leyen, die bei der Urteilsverkündung in Karlsruhe persönlich anwesend war, brachte unmittelbar danach statt einer notwendigen Erhöhung der Regelsätze für Kinder zusätzliche Sach- bzw. Dienstleistungen ins Gespräch. Gutscheine und eine Bildungschipkarte nach dem Muster schwedischer Kommunen bestimmten denn auch monatelang die öffentliche Debatte darüber. Dahinter steckte die Unterstellung, dass eine Regelsatzerhöhung bei vielen Kindern aus den landläufig „Hartz-IV-Familien“ genannten SGB-II-Bedarfsgemeinschaften nicht ankomme, weil die Eltern das Geld für eigene Zwecke ausgäben.
Es mag einzelne Väter geben, die sich den berühmt-berüchtigten Flachbildschirm kaufen würden, statt ihren Kindern zusätzliche Sozialtransfers zugute kommen zu lassen. Untersuchungen zeigen jedoch, dass sich die meisten Eltern lieber das letzte Hemd ausziehen, als ihre Kinder spüren zu lassen, wie arm die Familie ist. Mit den seltenen Ausnahmefällen „vergnügungssüchtiger“ Familienväter zu begründen, dass keine Erhöhung der Kinderregelsätze stattfinden sollte, womit alle übrigen Eltern und Kinder völlig schuldlos benachteiligt wurden, war nicht christlich, sondern perfide. Gemäß der Neuberechnung überhaupt nicht erhöht, vielmehr möglicherweise für mehrere Jahre eingefroren werden sollten die Hartz-IV-Regelbedarfe für Kinder und Jugendliche, was im Grunde auf ihre reale Kürzung hinauslief.
Ähnliches gilt auch für die Erwachsenen-Regelbedarfe, deren jährliche Anpassung künftig statt von der Rentenentwicklung zu 70 Prozent von der Preis- und zu 30 Prozent von der Nettolohnentwicklung abhängt, weil sie nicht mehr zum 1. Juli, sondern bereits zum 1. Januar erfolgt und 2010/11 ganz entfiel. Nur den Kindern, Jugendlichen und wenigen Heranwachsenden bzw. jungen Erwachsenen wurde ein „Bildungs- und Teilhabepaket“ im Wert von 250 Euro pro Jahr zugestanden. Hierin eingeschlossen waren aber 100 Euro des bisherigen „Schulbedarfspakets“, das nunmehr als „Schulbasispaket“ eigens beantragt werden muss und in zwei Raten (zu Beginn des Schuljahres am 1. August 70 Euro und zu Beginn des zweiten Halb- jahres am 1. Februar noch einmal 30 Euro) ausgezahlt wird, sowie 30 Euro, die für eintägige Klassenfahrten und Ausflüge vorgesehen sind und früher im Regelsatz enthalten waren. (...)