Einführung
Liebe Leser,
mein Name ist Yuval Noah Harari. Ich möchte Ihnen mein neues Buch vorstellen: «Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen».
Mein letztes Buch, «Eine kurze Geschichte der Menschheit», beschrieb, wie unsere einzigartige Fähigkeit an kollektive Mythen zu glauben – ob Gott, Menschenrechte oder Geld – uns in die Lage versetzte, diesen Planeten zu erobern. In «Homo Deus» untersuche ich, was passieren könnte, wenn unsere alten Mythen mit revolutionären neuen Technologien verbunden werden. Wie wird der Islam mit der Gentechnik umgehen? Wie wird der Sozialismus auf den Aufstieg der Nichtarbeiterklasse reagieren? Wie wird der Liberalismus mit einem Big Brother, der mit Big Data gefüttert wird, zurechtkommen? Wird das Silicon Valley am Ende nicht nur neue Geräte, sondern auch neue Religionen produzieren?
Künstliche Intelligenz überholt bereits in atemberaubender Geschwindigkeit unsere eigenen kognitiven Fähigkeiten. Was wird mit der Demokratie passieren, wenn Google und Facebook unsere Vorlieben und unsere politischen Einstellungen besser kennen als wir selbst? Was wird aus dem Wohlfahrtsstaat, wenn Computer die Menschen vom Arbeitsmarkt verdrängen und eine gigantische Klasse der «Unnützen» schaffen?
Möglicherweise wird die Biotechnologie die menschliche Lebenserwartung radikal verlängern und es uns erlauben, sowohl unserem Körper als auch unserem Geist ein Upgrade zu gönnen. Werden diese Verbesserungen dann für alle und jeden verfügbar sein? Oder werden wir eine noch nie dagewesene biologische Ungleichheit zwischen Arm und Reich erleben? Der Unterschied zwischen technologisch aufgerüsteten «Übermenschen» und den einfachen Menschen aus Fleisch und Blut könnte sogar größer sein als der zwischen dem Homo Sapiens und dem Neandertaler.
Technologie ist niemals deterministisch. Ein und dieselben Werkzeuge lassen sich für ganz unterschiedliche Zwecke einsetzen. Umso besser wir verstehen, wie sich die neuen Technologien auf unsere Politik, Wirtschaft und Ethik auswirken, desto klügere Entscheidungen können wir über ihre Verwendung treffen. Die Geschichte zu studieren, war noch nie so wichtig wie heute. Wir müssen unsere Vergangenheit verstehen – nicht, um die Zukunft vorherzusagen, sondern um uns von unseren alten Denkweisen zu befreien und uns alternative Entwicklungen vorstellen zu können.
Wenn die Zukunft unserer Spezies und unseres Planeten Sie umtreibt, dann wird Ihnen «Homo Deus» viel Stoff zum Nachdenken geben.
Mit den besten Wünschen
Ihr Yuval Noah Harari
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Kapitel 1
Die neue menschliche Agenda
Bei Anbruch des dritten Jahrtausends erwacht die Menschheit, streckt ihre Glieder und reibt sich die Augen. Die Reste eines schrecklichen Albtraums schwirren ihr noch im Kopf herum. «Da war irgendwas mit Stacheldraht und riesigen Wolken, die aussahen wie Pilze. Naja, einfach schlecht geträumt.» Im Bad wäscht sich die Menschheit das Gesicht und überprüft im Spiegel ihre Falten, dann macht sie sich einen Kaffee und schlägt den Kalender auf. «Mal sehen, was heute auf dem Programm steht.»
Jahrtausendelang blieb die Antwort auf diese Frage unverändert. Es waren immer die gleichen drei Probleme, welche die Menschen beschäftigten, ob im China des 20. Jahrhunderts, im mittelalterlichen Indien oder im alten Ägypten. Ganz oben auf der Liste standen stets Hunger, Krankheit und Krieg. Generation für Generation beteten die Menschen zu jedem Gott, jedem Engel, jedem Heiligen, und sie erfanden unzählige Instrumente, Institutionen und Gesellschaftssysteme – trotzdem starben sie weiter millionenfach an Hunger, Epidemien und Gewalt. Viele Denker und Propheten kamen zu dem Schluss, Hunger, Krankheit und Gewalt seien eben fester Bestandteil von Gottes kosmischem Plan oder unserer unvollkommenen Natur, und erst am Ende aller Zeit würden wir davon befreit werden.
Doch bei Anbruch des dritten Jahrtausends macht die Menschheit beim Aufwachen eine erstaunliche Feststellung. Die meisten Menschen denken selten daran, doch in den letzten Jahrzehnten ist es uns gelungen, Hunger, Krankheit und Krieg im Zaum zu halten. Natürlich sind diese Probleme nicht vollständig gelöst, aber aus unbegreiflichen und unkontrollierbaren Kräften der Natur sind Herausforderungen geworden, die sich bewältigen lassen. Wir müssen zu keinem Gott oder Heiligen mehr beten, um davor bewahrt zu werden. Wir wissen ziemlich genau, was zu tun ist, um Hunger, Krankheit und Krieg zu verhindern – und in der Regel gelingt uns das auch.
Natürlich gibt es nach wie vor eklatante Misserfolge; aber angesichts dieser Rückschläge zucken wir nicht mehr einfach mit den Schultern und sagen: «So ist das eben in unserer unvollkommenen Welt» oder «Gottes Wille geschehe». Nein, wenn Hunger, Krankheit und Krieg sich unserer Kontrolle entziehen, dann haben wir das Gefühl, dass jemand es vermasselt hat, wir setzen eine Untersuchungskommission ein und geloben, es beim nächsten Mal besser zu machen. Und es funktioniert wirklich. Solche Unglücke geschehen tatsächlich immer seltener. Zum ersten Mal in der Geschichte sterben mehr Menschen, weil sie zu viel essen und nicht weil sie zu wenig essen; mehr Menschen sterben an Altersschwäche als an ansteckenden Krankheiten; und mehr Menschen begehen Selbstmord als von Soldaten, Terroristen und Kriminellen zusammen getötet werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stirbt der Durchschnittsmensch mit größerer Wahrscheinlichkeit, weil er sich bei McDonald’s vollstopft, als durch eine Dürre, Ebola oder einen Anschlag von al-Qaida.
Obwohl also der Terminkalender von Präsidenten, Unternehmensvorständen und Generälen noch immer voll mit Wirtschaftskrisen und militärischen Konflikten ist, kann die Menschheit aus weltgeschichtlicher Warte betrachtet den Blick nach oben richten und neue Horizonte ins Auge fassen. Wenn wir Hunger, Krankheit und Krieg tatsächlich unter Kontrolle bringen, was wird dann auf der menschlichen Agenda ganz oben stehen? Wie Feuerwehrleute in einer Welt ohne Feuer muss sich auch die Menschheit im 21. Jahrhundert eine ganz neue Frage stellen: Was soll aus uns werden? Was verlangt in einer gesunden, prosperierenden und harmonischen Welt unsere Aufmerksamkeit und unseren Erfindergeist? Diese Frage stellt sich mit doppelter Dringlichkeit, wenn man bedenkt, welch ungeheure neue Mächte Biotechnologie und Informationstechnologie darstellen. Was sollen wir mit all dieser Macht anstellen?
Bevor wir uns an die Beantwortung dieser Frage machen, müssen wir noch ein paar Worte über Hunger, Krankheit und Krieg verlieren. Die Behauptung, wir würden sie unter Kontrolle haben, mag manchem unerhört, reichlich naiv oder vielleicht sogar gefühllos erscheinen. Was ist mit den Milliarden Menschen, die noch immer mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen müssen? Was mit der anhaltenden Aids-Krise in Afrika oder den Kriegen, die in Syrien und im Irak toben? Angesichts solcher Einwände und Bedenken müssen wir zunächst die Welt des frühen 21. Jahrhunderts genauer in den Blick nehmen, ehe wir die menschliche Agenda für die kommenden Jahrzehnte erkunden.
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