1. Einleitung
Was haben Sie vor Augen, wenn Sie an die Kreditkrise denken, wenn Sie an das Krisenjahr 2008 erinnert werden? Ich wette, nicht viel. Nicht, weil Sie ein schlechtes Gedächtnis hätten. Vielmehr ist der Grund, dass es nicht ausreichend starke Bilder gibt, die sich in Ihr Gedächtnis eingelassen haben könnten und die Ihre Erinnerung Ihnen vor das geistige Auge stellen würde, wenn Sie darauf angesprochen würden. »Starke Bilder«, dieser Begriff bezeichnet zum einen Bilder, die selbsterklärend und daher stark sind. Denken Sie an den Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 oder das Attentat auf das World Trade Center am 9. September 2001. Diese Bilder brennen sich durch ihre Netzhaut in Ihren Geist ein. Sie sind dort für immer verwahrt und können jederzeit aktualisiert werden. Wer zu dem Zeitpunkt gelebt hat, der weiß genau, wo er sich befunden hat, als die Mauer fiel oder die Flugzeuge in das World Trade Center rasten. »Starke Bilder« heißen auch deswegen so, weil kein Text gegen sie ankommt, »Bild schlägt Ton«. Wenn Sie Bilder von Kindern sehen, die im syrischen Bürgerkrieg zwischen die Fronten geraten, von Rettungskräften aus den Ruinen zerbombter Häuser gezogen werden, dann hören Sie die Worte nicht mehr, die ein Reporter über diese Bilder getextet hat.
Wenn viele Menschen die gleichen Bilder sehen, dann werden sie zuerst Teil des kollektiven Bewusstseins und dann des kollektiven Gedächtnisses. Man versichert sich gegenseitig, wie man das Geschehene erlebt und eingeordnet hat. Gesellschaften finden eine Übereinkunft, wie sie bestimmte zeitgeschichtliche Momente einordnen: In Deutschland hat die Generation der Nachgeborenen ihre Eltern gefragt, was diese während des Dritten Reiches getan haben. Eben diese 68er-Generation wird nunmehr befragt, wie sie ihr Erbe sieht und wie sie es ordnen will. Und im wiedervereinigten Deutschland suchen der Osten und der Westen nach ihrer je eigenen Identität und fragen sich, welche Klammer diese beiden miteinander verbindet.
Die Weltgemeinschaft wiederum hat die Türme des World Trade Centers einstürzen sehen. Dieses Schwellenereignis ist emblematisch für eine vernetzte Welt, in der Kommunikation in Sekunden um den Globus geht. So schnell wie unsere globalisierte Kommunikation sind die Finanzströme. Und doch löste der Kollaps der US-Bank Lehman Brothers zwar ein globales Beben aus, das dem vom 11. September vergleichbar ist. Jedoch waren keine »starken Bilder« zur Hand, die die Drastik und die Wucht des Ereignisses hätten illustrieren können. Spektakuläre Veränderungen produzieren nicht immer spektakuläre Bilder.
Wie haben also diese Bilder damals ausgesehen? Es ist ein schöner Herbsttag in New York, an dem die Weltwirtschaft in den Abgrund taumelt. Am 15. September 2008, dem Tag, an dem die Investmentbank Lehman Brothers pleite geht, strahlt die Sonne über New York City. In den Abendnachrichten werden den Nachrichtenzuschauern Frauen und Männer in Businesskleidung und mit Kartons oder Boxen gezeigt, in denen sie die wenigen persönlichen Gegenstände, die sie im Büro hatten, nach Hause tragen. Sie alle sind gefeuert worden, keine Seltenheit in den USA. Das Land ist bekannt für hire and fire, für eine Schnelllebigkeit, was auf Europäer, die ein soziales Auffangnetz gewohnt sind, wirkt wie ein Land mit Dauer-Borderline-Syndrom.
In der Alten Welt legt man sich sorglos schlafen, nicht ahnend, dass das Beben an der 6th Avenue Straße in Manhattan bald einen Tsunami über die USA und die ganze Welt schicken würde. Was zur größten Finanzkrise seit der Großen Depression geführt hat, ist nicht aufgearbeitet. Der Rauch hatte sich noch nicht über den Trümmern des World Trade Centers verzogen, da hatten die Vereinigten Staaten von Amerika schon den Taliban in Afghanistan den Krieg erklärt. Zehn Jahre nach der Lehman-Pleite geht es in den Banken dagegen wieder so zu wie im Herbst 2008 und drei US-Präsidenten, George W. Bush, Barack Obama und Donald Trump haben es nicht vermocht oder nicht vollbringen wollen, die Regeln so zu verändern, dass eine Krise wie jene, die an einem lauen Herbstabend in New York ihren Ausgang nahm, für alle Zukunft verhindert würde. Dieses Politikversagen war der Auslöser für die radikale Kritik, der sich die liberale Demokratie heute ausgesetzt sieht. Die neuen populistischen Kräfte, die überall in der westlichen Welt nach dem denkwürdigen Datum im September 2015 auf den Plan traten, haben hier ihren Ausgang genommen. Man kann von den Auswirkungen her den Crash und Zusammensturz der Weltwirtschaft mit dem Einsturz des World Trade Centers vergleichen. Diese neuen rechten Populisten sind allesamt gegen die globalisierte Wirtschaft und propagieren eine isolierte, nationale Ökonomie. Ihre Ablehnung gegenüber der Wirtschaft, der Politik, den Medien, sprich, gegenüber den Eliten und der Weltordnung, für die sie stehen, speist sich aus der Wut, mit der über viele der Sturm der Finanzkrise hinweggefegt ist und der bei vielen Menschen ein tiefes Gefühl von Ohnmacht hinterlassen hat. Im Mittelpunkt, so das Gefühl, steht die Wirtschaft – und nicht der Mensch.
Vor diesem Hintergrund erklärt es sich, dass heute in den USA, in denen das untere Drittel der Bevölkerung ökonomisch nicht mehr vorkommt und bedeutungslos ist, ein Präsident regiert, der für viele, die im ehemaligen Land unbegrenzter Möglichkeiten abgehängt sind, genau der richtige ist, wenn er sagt America First und von einer Re-Nationalisierung der US-Ökonomie schwadroniert. Diese neuen populistischen Bewegungen sind allesamt auf der radikal rechten Seite des politischen Spektrums verortet. Warum? Gibt es nicht genügend Furor auf der linken Seite des Parteienspektrums, um gegen das System zu blasen? Wieder kommen wir zurück auf die »starken Bilder«. Die Flüchtlinge, die im Jahr 2015 nach Deutschland gekommen sind, haben ebenso wenig etwas direkt mit den finanziellen Nöten der Abgehängten zu tun wie die sogenannte »Karawane« von mittelamerikanischen Flüchtlingen, die sich im Herbst 2018 in Richtung US-amerikanische Südgrenze bewegt hat. Aber sie sind sichtbar, sie erzeugen »starke Bilder«. Die Massen, die sich scheinbar unaufhaltsam über die Grenzen bewegen, wollen sich illegal niederlassen. Donald Trump hat deshalb offene Ohren gefunden für seine unerhörten Einlassungen, Mexikaner seien alles »Vergewaltiger«. Die neuen Rechtsextremen haben gelernt, über das Vehikel der Dämonisierung von Flüchtlingen zum Sturm auf die etablierte demokratische Ordnung zu blasen. In der Geschichte der Verfolgung von Minderheiten hat das Ökonomische immer eine entscheidende Rolle gespielt. Es gibt keine Pogrome und Verfolgungen aus religiösen oder ethnischen Gründen allein. Immer werden diese Vorurteile geschürt vor dem Hintergrund ökonomischer Unsicherheit und Angst.
Für das Dritte Reich hat der Historiker Götz Aly genau das herausgestellt. Er kommt zu dem Schluss, dass die Ideologie der Nationalsozialisten in einem Moment zu fruchten beginnt, in dem die Deutschen alle alphabetisiert sind und sich mit ihren jüdischen Nachbarn um dieselben Jobs bewerben. In den Zeiten zuvor, bis in die späten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, seien die Juden bereits alle des Lesens und Schreibens mächtig, wohingegen die Christen erst mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht flächendeckend mit Bildung in Berührung kommen. Um mit diesen neuen rechten Extremisten richtig umzugehen und ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen, ist es daher entscheidend, auf das Ökonomische und das Soziale zu schauen und nicht, wie es die Trumps, Orbáns und Salvinis dieser Welt tun, auf die kulturelle, religiöse oder ethnische Eigenheit von Zuwanderern.
Auch wenn das Moment des Ökonomischen (und mit ihm das des Sozialen) das entscheidende ist, um die gegenwärtige Krise zu lösen, kann das politische nicht völlig außer Acht gelassen werden. Wir durchleben ein »Zeitalter der Identität«, das an die Substanz der für unerlässlich gehaltenen politischen Überzeugungen geht. Zusammenarbeit und Kooperation in der Europäischen Union galten als unumkehrbar. Heute kehren sich nicht nur Staaten Mittel- und Osteuropas von dem Glaubensbekenntnis des Europäischen Einigungsprozesses ab. Das Brexit-Referendum und die Unruhen um eine Unabhängigkeit Kataloniens zeigen, dass Unsicherheit und die Angst um den eigenen ökonomischen Status jedes Land erfassen kann. Und nicht zuletzt belegen die Wahlergebnisse, die die sogenannte Alternative für Deutschland einfährt, dass auch in einem der reichsten Länder der Erde nicht alle Fragen geklärt sind, sodass die Menschen darauf hoffen könnten, in Zukunft ein gutes und prosperierendes Leben führen zu können. Als die Universität Göttingen vor einigen Jahren Teilnehmer der PEGIDA-Demonstrationen zu ihrer Motivation befragte, gab eine Mehrheit von ihnen an, heute ökonomisch genauso gut oder besser dazustehen als vor einigen Jahren. Sie fürchteten sich aber, dass dies in Zukunft nicht mehr so sein könnte.
Im Guten wie im Schlechten sind Ökonomisches und Politisches miteinander verknüpft. Wer sich ökonomisch auf die eigene Scholle zurückzieht, der wird auch seine Identität mit dieser Weltsicht synchronisieren. Für uns erscheint die ökonomische Forderung nach »Zugbrücke hoch!« und nationaler Ökonomie das Ergebnis von Rückverweisen auf die eigene Kultur und Religion und Abgrenzung von »wir gegen die« zu sein. Tatsächlich verhält es sich umgekehrt. Wir sind der anderen Erzählung zu lange auf den Leim gegangen.
Nichts beschreibt den drastischen ökonomischen Wandel der letzten dreißig Jahre besser als die beiden Graphen: Der eine zeigt das GDP der westlichen demokratischen Gesellschaften, der andere das durchschnittliche Haushaltseinkommen dort. Beide weisen seit dreißig Jahren zunehmend auseinander, in Deutschland weniger, in den USA mehr. Die Harmonie zwischen Politischem und Ökonomischem ist eigentlich schon länger nicht mehr gegeben. Der Narrativ hat sich indessen gehalten, weil die beiden Nachkriegsgenerationen sein Versprechen als eingelöst gesehen haben: Mehr Bildung führt zu mehr Wohlstand, führt zu Mittelstandsgesellschaft, führt zu moderater Politik. Diese moderate Politik ist am Ausgleich interessiert und nicht daran, Menschen zu entzweien. Es geht um eine dauerhafte Friedensordnung, in der die Möglichkeit von Kriegen eliminiert ist. Daher legen diese Demokratien ein Augenmerk auf den Ausgleich zwischen Mehrheit und Minderheit, Wahlsiegern und Wahlverlierern. Wenn Hardliner wie der Autokrat Viktor Orbán sagen, dass sie keine liberale Demokratie wollen, sondern eine »illiberale«, dann muss man annehmen, dass sie das gegenwärtige System überwinden und durch ein anderes ersetzen wollen. Die jetzige Weltordnung existiert nur als liberale. Oder wollen wir zu den Republiken des Altertums zurück, in denen nur Männer mit einem gewissen Status Politik gestalten duften, Frauen wertlos waren und Sklavenausbeutung ein präferiertes Mittel war, die Wirtschaftsleistung des Staates zu vergrößern? Wer Herrn Orbán und seinen Mittätern zuhört, muss zu diesem Schluss kommen.
Zum Verständnis der Krise hat der liberale Denker Ralf Dahrendorff in einem Essay, den er kurz vor seinem Tode 2008 verfasst hat, wichtige Anregungen gegeben. Wahrscheinlich konnte Dahrendorf die Gründe der Krise deshalb bereits an ihrem Anfang so gut umreißen, weil er sie in seinem 1988 erschienen Buch »The Modern Social Conflict« bereits heraufkommen sah. Für ihn waren die Menschenrechte ohne Signifikanz, wenn sie nicht in Bürgerrechte übersetzt würden. Und die Bürgerrechte blieben wiederum ohne Relevanz, wenn sie nicht durch soziale Rechte erhärtet und bestätigt würden. Die Klammer dieser drei bildet die citizenship, die Staatsbürgerschaft. Sie ist, ganz anders als Populisten heute glauben machen wollen, die Überwindung von ethnischer und religiöser Abgrenzung: Ein Bürger wird man ohne eigenes Zutun, ohne eigenes Verdienst, aus Gnade, wie die christliche Theologie dazu sagen würde. Die Staatsbürgerschaft sieht nicht auf Geschlecht, Religion und sexuelle Orientierung. Die Staatsbürgerschaft ist der Kern der liberalen Demokratie. Der Rückverweis auf den Stamm, auf die kleine ethnische und religiöse Zelle, hat nicht weniger zum Ziel als den Abbau der zivilisatorischen Bollwerke, die wir nach 1945, dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust, errichtet haben.
Der Zustand ökonomischer Verunsicherung rührt von ökonomischen Veränderungen her, nicht von politischen. Das, was unter dem Stichwort von Künstlicher Intelligenz, Robotern und maschinellem Lernen, am Horizont aufgeht, lässt viele Menschen um ihre Jobs und ihren sozialen Status fürchten. Dabei erreichen wir aller Voraussicht nach einen Moment in der menschlichen Kulturgeschichte, in der wir Wert schaffen, ohne dafür im Schweiße unseres Angesichts schuften zu müssen. Die Unsicherheit und die Beben, die wir gerade erleben, verwundern daher ein wenig. Sie werden aber vor dem Hintergrund eindringlich, dass wir in den beiden vergangenen kapitalistischen Jahrhunderten den Wert der menschlichen Person mit der Arbeit, die sie verrichtet, verknüpftet haben: Du bist, was du arbeitest, was du verdienst. Wer die liberale Weltordnung wiederherstellen möchte, muss auch darauf vorbereitet sein, die Narrative, die unsere Gesellschaft heute tragen, aufzugreifen, zu verstehen und zu modifizieren.
Der 15. September 2008 hat keine »starken Bilder« produziert. Aber die Finanzkrise hat offengelegt, dass es der, der hart arbeitet, eben nicht automatisch schafft, ein gutes Auskommen zu haben. Die Tausenden von Menschen, die in den USA ihr Eigenheim wegen Spekulanten verloren haben, können ein trauriges Lied davon singen. Der 15. September steht deshalb emblematisch für den Beginn vom Ende der liberalen Weltordnung, wie wir sie kannten. Die Krise der liberalen Demokratie ist nicht vom Himmel gefallen.
Dieses Buch möchte nichts weniger als das: die gegenwärtige Krise der Demokratie und der liberalen Ordnung interpretieren und sagen, wie man sie löst. Die Analyse hebt an mit einem Blick auf die Mechanismen hinter der Finanzkrise und erläutert dann, was die Versprechen der liberalen Demokratie sind, die in der Finanzkrise und ihrem schlechten Management anhaltend gebrochen wurden. Hier beginnen der Populismus der Gegenwart und die Ausgrenzung »Wir gegen die« – alte Mittel, um Veränderungen zu trotzen, denen auf der Seite der liberalen Demokraten nicht mit denselben Mitteln beigekommen werden kann wie in der Vergangenheit. Die Krise der Sozialdemokratie, die in den USA, England und Deutschland ein unübersehbares Faktum ist, zeigt, dass dieses neue Zeitalter neue Antworten braucht. Diese Antworten finden sich auch zunehmend nicht mehr auf der Achse rechts-links, sondern Stadt-Land, Metropole-Dorf, Kosmopoliten gegen Nationalisten.
Diese Bestandsaufnahme wird dazu herausfordern zu formulieren, wohin wir als Gesellschaft(en) in der Zukunft überhaupt wollen, was das »Um zu« der Arbeit und menschlichen Strebens ist. Aus diesem Entwurf eines bonum commune erwächst eine Ethik der Teilhabe, die das neu beleuchtet, was heute von Populisten als »globalistisch« verlacht und dämonisiert wird. Wie auch immer am Ende die praktischen Lösungen aussehen werden, ihr zentraler Punkt werden die beiden erwähnten Graphen sein: Was geschieht mit Wirtschaftsleistung, die nicht mehr von Menschen, sondern von Maschinen erbracht wird? Und wie gehen wir mit diesem Reichtum um? Alte Labels, wonach etwas wie ein »universelles Grundeinkommen« kommunistisches Teufelszeug seien, helfen hier nicht weiter.
Am Ende des Buches lohnt es sich, die alte Idee des Kosmopoliten neu zu betrachten und auszuleuchten. Denn eine Ethik der Teilhabe wird es nur dann geben und kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie den technologischen und ökonomischen Gegebenheiten Rechnung trägt. Dass wir alle zusammen diesen Planeten bewohnen, muss Ansporn und Auftrag zu gutem Handeln sein. Der Erfolg dieses Unterfangens wird davon abhängen, diesen neuen Narrativ durch »starke Bilder« aufzuladen und attraktiv zu machen.