aus: Kapitel 1 – Arbeit
Mein erster Job
Knirsch, knirsch, knirsch. Der frisch gefallene Schnee gab bei jedem Schritt nach. Seit vier Jahren waren meine Fußstapfen die ersten in der Nachbarschaft, wenn es geschneit hatte. Sie führten den großen Hügel hinauf und dann wieder hinunter, vorbei an gut hundert verschiedenen Einfamilienhäusern.
Die Leute wollten die Zeitung nicht, die ich austeilte. Es war keine richtige Zeitung wie der Guardian oder die Times, für die sie zahlten und auf die sie warteten, sondern ein wöchentlich erscheinendes, kostenloses Blatt namens Dudley News, mit vielen Anzeigen und einigen angeblichen Lokalnachrichten. Wenn man den Fehler beging, die Dudley News zu lesen oder in einem Moment der Langeweile nach ihr zu greifen, machte man sich die Finger schmutzig wegen der Druckerschwärze. Manchmal wurde ich verjagt, wenn ich versuchte, die Zeitung vor einer Haustür abzulegen. Vielleicht lag es ja auch daran, dass ich so sehr mit Druckerschwärze beschmiert war. Ich sah aus wie ein Schurke in einem Roman von Dickens. Im Rückblick kann ich überhaupt nicht verstehen, wieso ich den ganzen Stapel nicht noch vor meiner Tour in eine Altpapiertonne geworfen habe, denn dort würden die einzelnen Exemplare sowieso innerhalb weniger Stunden nach dem Austragen landen.
Ich vermute, dass ich diese wöchentliche Zeitungstour nur deshalb unternahm, weil ich latent hoffte, dass ich hinter einem Schlafzimmerfenster einen Blick auf eine gelangweilte Hausfrau werfen könnte, so wie in einem der Confessions-Filme von Timothy Lea. Meine einzige Entschuldigung ist, dass ich erst vierzehn Jahre alt war und in den West Midlands aufwuchs und eine Menge von diesen Confessions-Filmen gesehen hatte. Natürlich sah ich während meiner Tour hinter den Fenstern bloß meine Schulfreunde, die sich in gemütlichen Wohnzimmern Zeichentrickfilme ansahen, während ich völlig zugeschneit oder von Hagelkörnern gepiesackt zu ihrer Haustür schlich.
Ich machte diesen Job drei Jahre lang, denn es schien meine Eltern glücklich zu machen (hart arbeiten fanden sie gut), und weil ich das Geld gebrauchen konnte. Und, das sollte nicht verschwiegen werden, weil ich mir vorstellte, dass es eine winzige Chance gab, durch irgendein Fenster einen Blick auf ein paar nackte Titten zu erhaschen. Die andere Fantasie, die ich zusammen mit den Zeitungen mit mir herumtrug, war die Überzeugung, eines Tages, wenn ich erst mal erwachsen war, einen viel ernsthafteren, bedeutsameren und interessanteren Job zu haben als diesen hier. Leider reduzierten sich meine Chancen, während der Arbeit einen Blick auf Titten zu erhaschen, von selten auf null, als ich erst mal einen Bürojob hatte. Außerdem konnte ich meine Kaufkraft nur marginal verbessern. Mist.
Eine merkwürdige Verpflichtung
»Lassen Sie mich mal eines klarstellen«, sagt tatsächlich nie jemand. »Sie möchten, dass ich mich regelmäßig an einen bestimmten Ort begebe, mich dort acht Stunden lang aufhalte, und zwar in Gesellschaft von Leuten, die ich nicht besonders gut leiden kann, und das an fünf Tagen in der Woche für die nächsten vierzig Jahre? Was ist denn das für ein Schwachsinn?« Tja, und wer tut so etwas? Wie es aussieht, so gut wie alle.
Es sind einfach nicht genug Menschen da, die fragen: »Wie viele Stunden?«, und: »Wie lange bitte?«, und dann: »Sie wollen mich wohl verarschen?« Wir arbeiten normalerweise vierzig Stunden die Woche. Manche arbeiten sogar noch länger, zum Beispiel die skandalös schlecht bezahlten Praktikanten in den Londoner Banken. Manche haben das Glück oder Unglück – das hängt von den jeweiligen Umständen ab –, weniger zu arbeiten. Aber die Vierzigstundenwoche ist normal. Diese Zahl beinhaltet allerdings nicht die unbezahlten Überstunden, die eifrige Karrieristen freiwillig leisten, oder die verlorene Zeit, die für die »allzeit bereit« stehenden mobilen Online-Dienste drangegeben wird. Heutzutage kann man seine Arbeitszeit sogar effektiv nutzen, wenn man gerade einen romantischen Abend verbringt oder auf der Toilette hockt.
Vierzig Stunden die Woche, und das vierzig Jahre lang, ist eine ziemlich große Verpflichtung. Sogar wenn man glücklich ist, weil man als Schokoladentester oder Filmkritiker arbeitet, sind vierzig Jahre des Lebens eine ganz gewaltige Strecke. Wir verbringen ungefähr 87.000 Stunden bei der Arbeit, bevor wir uns zur Ruhe setzen oder sterben (und mittlerweile ist es recht optimistisch, davon auszugehen, dass das Erstere vor dem Letzteren geschieht). Wir verbringen außerdem ungefähr 5.000 Stunden, um zur Arbeit und wieder nach Hause zu kommen. Mir liegt keine Quelle vor, die belegt, wie viele Stunden wir damit zubringen, uns auf die Arbeit vorzubereiten oder uns von der Arbeit zu erholen, aber es muss eine ziemlich große, nahezu unschätzbare Zahl sein. Wenn man Vollzeit arbeitet, ist jeder Urlaubstag, jedes Wochenende, jeder Feiertag, jeder nächtliche Schlaf oder verbummelte Augenblick dazu da, kurz mal abschalten zu können. Solche Momente gehören uns aber in Wahrheit gar nicht, denn sie dienen nur der Wiederherstellung der Arbeitskraft. »Wie war’s an Weihnachten?«, könnten Sie zum Beispiel eine Kollegin fragen. »Oh, es war wirklich schön, mal ganz draußen zu sein«, sagt die dann wahrscheinlich. Unter solchen Umständen ist ein Heim gar kein Heim mehr, sondern eine Art Docking-Station oder ein Boxenstopp, um den eigenen Akku wieder aufzuladen, um weiter zu funktionieren. Weihnachten ist keine Orgie zur Feier der Wintersonnenwende mehr, sondern eine zeitlich begrenzte Möglichkeit, sich vor dem Chef zu verstecken.
Und dann gibt es auch noch diese Träume! Die gefürchteten Albträume, in deren Mittelpunkt die Arbeit steht. Ich hatte mal, immer samstags, einen Job in einer großen Filiale der Buchhandelskette WHSmith. Damals hatte ich gelegentlich längere, peinlich dumme Träume, in denen ich abgestellte Einkaufskörbe im Laden einsammelte. Das war tatsächlich ein Teil meines Jobs, eine Tätigkeit, die sich ständig wiederholte und sich dadurch offenbar in mein Unterbewusstsein eingebrannt hatte. Beim Aufwachen hatte ich immer den Verdacht, dass ich gerade eine Schicht geschoben hatte, für die ich leider nicht bezahlt wurde. Das ist bestimmt nicht untypisch für Arbeitnehmer, und leider sind Träume über den Arbeitsplatz oftmals regelrechte Angstträume. Im Rahmen unseres Jobs erleben wir so viel Stress und Frustration, weil wir von wichtigen Angelegenheiten jenseits der Arbeit ferngehalten werden, dass wir Schlafstörungen bekommen. Ist es das wirklich wert? Darf mein Chef wirklich so viel Druck auf mich ausüben wegen des Einsammelns abgestellter Einkaufskörbe, dass ich nachts davon träume? Unglücklicherweise können wir nicht viel gegen derartige Übergriffe auf unser ganz privates Leben tun, jedenfalls nicht, solange es keine ätherische Traumwährung gibt, mit der wir dafür bezahlt werden. Besser wäre, wir könnten uns an weniger angsterzeugenden Lebensumständen erfreuen, wenn wir wach sind. Schafft die Arbeit ab, sage ich! Macht euch frei davon! Oder macht sie wenigstens so angenehm, dass sie euren Schlaf nicht stört und eure schönen Träume nicht kaputtmacht.
Warum arbeiten, wenn wir doch gar nicht wollen?
2014 wurde bekannt, dass eine Gerichtsschreiberin während rund dreißig Verhandlungen immer nur den Satz »Ich hasse meinen Job« getippt hatte. Das war natürlich ziemlich witzig und wurde im Internet als Sensation gefeiert. Die Journalistin Dawn Foster schrieb dazu: »Die Tatsache, dass so viele Menschen diese Geschichte mit Begeisterung verfolgt haben, zeigt doch: Viele von uns sind klammheimlich der Ansicht, dass wir unser Leben nicht bis zum Schluss mit irgendwelchen Jobs vergeuden sollten. Trotzdem ist es aus irgendwelchen merkwürdigen Gründen immer noch ein Tabu zuzugeben, wie unglaublich langweilig die meisten Jobs sind.«
Manche Menschen mögen ihre Arbeit, und das ist großartig. Nur weil ich nie einen Job gemocht habe, muss das ja nicht bedeuten, dass es nicht ein paar gute gibt: anständig bezahlte, gemeinnützige, befriedigende Berufe mit viel Abwechslung und der Möglichkeit, etwas Sinnvolles zu tun. Man hört gelegentlich auch von Krankenhaus-Portiers oder Busfahrern, die im Lotto gewonnen haben und dann sagen: »Das ändert nichts bei mir«, und als heimliche Millionäre weiter jeden Tag zur Arbeit gehen. Man fragt sich natürlich schon, warum die überhaupt ein Lotterielos gekauft haben, aber das geht schon in Ordnung. Für die Bevölkerungsmehrheit allerdings ist Arbeit zumeist keine angenehme Erfahrung und im besten Fall eine lästige Notwendigkeit. »Tretmühle« wird sie ja auch genannt oder »der ewige Konkurrenzkampf« oder »Maloche« und »Schinderei«. Es gibt nicht viele positive Bezeichnungen dafür, dass man jeden Tag zur Arbeit gehen muss. Es gibt auch keine irischen Folksongs oder amerikanische Blues-Stücke, in denen gepriesen wird, wie toll der Chef und wie erfüllend die Arbeit ist und dass die Banker, die das Geld verwalten, einen Superjob machen und einem tolle Gewinne bescheren.
Niemand strebt im Alter von acht Jahren danach, als Erwachsener eine Servierkraft in einem Fast-Food-Laden, ein Kostenkalkulator oder gar ein »stellvertretender Direktor im Bereich der digitalen Innovation« zu werden. Möglicherweise möchte man gerne einstreichen, was diese Jobs abwerfen, sich einen gewissen Wohlstand verschaffen oder die Möglichkeit, einen tollen Hut zu tragen, aber nur ein Verrückter kann sich für die Umstände eines Angestelltendaseins begeistern: an fünf Tagen in der Woche am selben Ort sein zu müssen, um dort die ständig gleichen, hirntötenden Tätigkeiten auszuüben, und das auch noch aus fadenscheinigen bis zweifelhaften Motiven.
Es gibt viele Gründe, einen Job anzunehmen. Zum einen wird es als normal angesehen: Wir arbeiten, weil andere Leute auch arbeiten und es schon immer getan haben, so weit wir uns zurückerinnern können. Es wäre unerhört, da nicht mitzumachen. Des Weiteren gibt es da noch den Faktor Gehorsam. In einem Versuch zeigte der amerikanische Psychologe Stanley Milgram, wie schnell normale Menschen dazu gebracht werden können, sich extrem zu verhalten, indem er sie dazu brachte, einem gebrechlichen alten Mann Elektroschocks zu verpassen, von denen sie annahmen, dass sie echt waren. Und das nur, weil ein Mann in weißem Kittel ihnen den Befehl dazu gab. Die Tür des Versuchsraums stand die ganze Zeit offen, und den Teilnehmern war zu Beginn des Experiments versichert worden, dass sie jederzeit gehen könnten. Dennoch machten sie weiter, nur weil ihnen nahegelegt wurde fortzufahren, da das Experiment es angeblich erfordere. Die meisten Menschen befolgen Anweisungen von Autoritäten, selbst wenn sie sinnlos oder destruktiv sind. Im wirklichen Leben wird uns auf weniger subtile Art »nahegelegt«, unsere Wunschträume zu vergessen und uns einen Job zu besorgen, und es ist nicht einfach, sich dem zu entziehen.
Zur Arbeit zu gehen macht keinen Spaß und ist auch keine erhabene Sache. Wir gehen zur Arbeit, weil wir es nicht besser wissen, weil wir gehorchen und vor allem, weil wir unseren Lebensunterhalt verdienen müssen. Unseren Lebensunterhalt müssen wir deshalb verdienen, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der wir andernfalls verarmen würden. Von Stunde zu Stunde, von Scheck zu Scheck. Ein Job ist die kurzfristige Lösung eines langfristigen Problems.
»Arbeit ist die Quelle von so gut wie jedem Elend in der Welt«, schreibt der Anarchist Bob Black in seinem Essay Die Abschaffung der Arbeit. »Fast alles Böse, das uns bekannt ist, resultiert aus der Arbeit oder daraus, dass wir in einer Welt leben, die nur durch Arbeit funktioniert. Um unser Leiden zu beenden, müssen wir aufhören zu arbeiten.« Bob Black hat recht. Seiner Ansicht nach sollten wir unsere Jobs kündigen, das Recht auf Faulheit einfordern, Arbeitslosigkeit bevorzugen und uns dafür einsetzen, aus dem Leben eine nicht endende Party zu machen. Die Surrealisten propagierten etwas Ähnliches, aber »im Gegensatz zu den Surrealisten meine ich es ernst«, sagt Bob Black.
Genau wie ich. Die Alternative zur Arbeit ist nicht das totale Nichtstun (auch wenn dagegen nichts einzuwenden wäre), sondern eine kreativere, bewusstere und befriedigendere Tätigkeit. Jeder, der schon einmal die Freuden des Müßiggangs genossen hat – zum Beispiel wenn er länger krankfeierte als nötig oder es sich dank der Arbeitslosenunterstützung eine Weile bequem machen konnte –, weiß, dass irgendwann der Moment kommt, wo man wieder Lust hat, seinen Arsch hochzukriegen und etwas zu tun. Körper und Geist sind nicht damit zufrieden, für immer im Bett zu liegen. Nach so einer gewissen Zeit des Müßiggangs wird dieser Drang zu neuen Taten sich automatisch wieder regen, aufgrund von eigener Überlegung, Selbstbestimmung und Freiwilligkeit. Und kein Autoritätsbüttel oder Amtsschimmel sollte Sie dazu zwingen dürfen, eine Arbeit anzunehmen, wie das allgemein üblich ist. Unser aktuelles Moralsystem basiert übrigens auf dem Konsensprinzip, jedenfalls ist das ein Eckpfeiler davon. Unsere Gesetze kommen durch Vereinbarungen zustande, genau wie unsere Demokratie, unsere sozialen Beziehungen und unser Verhältnis zu Sex. Das Prinzip Arbeit hingegen wurde nicht aufgrund einer freiwilligen Vereinbarung etabliert, denn man lässt uns gar keine andere Wahl, als uns damit abzufinden. In ethischer Hinsicht hinkt dieses Prinzip also den anderen gesellschaftlichen Vereinbarungen hinterher. Deshalb sollte es abgeschafft oder zumindest radikal infrage gestellt werden.
Die Umwandlung des Arbeitslosengelds in eine »Vergütung für Arbeitsuchende« in Großbritannien basiert auf der optimistischen Annahme, dass niemand wirklich arbeitslos werden kann, sondern nur kurzfristig stellungslos ist. In diesem Fall, so wird vorausgesetzt, geht man aktiv auf die Suche nach einem neuen Job, weil es angeblich keine Alternative gibt. Dieser Mangel an Wahlmöglichkeiten ist der Grund, warum Arbeit mitunter als Lohnsklaverei bezeichnet wird. Wir finden es vielleicht nicht gut, aber solange wir nichts Unorthodoxes dagegen unternehmen, sind wir vollkommen abhängig von unserem Lohn. Diese unorthodoxe Tat, die Flucht vor der Arbeit, sollte die vordringlichste Aufgabe jedes ernsthaften Entfesselungskünstlers sein. Arbeit ist eine teure und keineswegs im Konsens vereinbarte Verpflichtung. Diejenigen unter uns, die interessantere Ideen verfolgen und den Sinn des Lebens woanders suchen, wollen raus aus dieser Tretmühle!
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aus: Kapitel 9 – Der Arbeit entkommen
Wringhams Entfesselungsplan
Mein Plan geht davon aus, dass Sie Ihrem drögen Leben als Bürosklave entfliehen möchten. Und so könnte der Anfang Ihrer Entfesselung aussehen:
1. Sparen Sie Geld. Sie brauchen halbwegs solide Geldreserven, um die ersten Wochen oder Monate Ihrer Flucht zu finanzieren. Versuchen Sie, möglichst viel anzusparen. Ich empfehle 15.000 Euro. Je mehr Sie sparen, umso länger sind Sie auf der sicheren Seite. Diese Summe ist der Entfesselungsfonds. Ihn anzusparen ist natürlich schwieriger, wenn Sie verschuldet sind oder unnötige Dienste abonniert haben. Um Ihr Ziel möglichst schnell zu erreichen, sollten Sie unnötigen Besitz verkaufen. Ver- wandeln Sie unhandliche Dinge in transportable oder in Bargeld. Das ist einfacher bei teuren Gütern. Einzelne CDs zu verkaufen kostet viel Zeit und bringt wenig ein, aber das müssen Sie selbst entscheiden. Es ist allemal besser, sie loszuwerden, um Ihre Mobilität zu vergrößern.
2. Nutzen Sie Ihren Job als Trainingslager. Wie ein Gefängnisinsasse, der den Fitnessraum im Knast dazu benutzt, sich in Form zu bringen, so sollten Sie sich umtun und so viel Erfahrung wie möglich sammeln: Tun Sie Kollegen einen Gefallen, leiten Sie Meetings, besuchen Sie Fortbildungskurse, bringen Sie Ideen ein, reden Sie mit den Vorgesetzten, reden Sie mit den Reinigungskräften, planen Sie Budgets, schreiben Sie Berichte, machen Sie Präsentationen, kochen Sie Tee. Schreiben Sie das alles in Ihren Lebenslauf. Nutzen Sie die Arbeitszeit, um Ihre Fähigkeiten zu vervollkommnen. Damit sichern Sie sich ab: Sie machen sich attraktiv für Arbeitgeber für den Fall, dass Ihr Entfesselungsplan scheitert.
3. Überprüfen Sie Ihre Ausgaben. Es ist ja klar, dass Ihr Einkommen höher sein muss als Ihre Ausgaben. Regelmäßige Kosten können eingeschränkt werden, indem Sie alle kostenpflichtigen Dienstleistungen kündigen. Schaffen Sie Ihr Auto ab und werden Sie Fußgänger. Schaffen Sie Ihr Smartphone ab und sagen Sie den Leuten, dass Sie ab sofort nur noch über das Festnetztelefon und E-Mail erreichbar sind. Machen Sie sich frei von allen Freiheitsverheißungen, die nur Kosten verursachen. Ziemlich bald werden Sie Ihre Ausgaben optimiert haben und kennen nun die wahren Kosten des Lebens. Es wird viel weniger sein als vor Beginn der Überprüfung und wird sich wahrscheinlich aus den Kosten für Miete, Essen, Festnetztelefon, Steuern und Strom zusammensetzen. Das wären dann also die Lebenshaltungskosten, auf die wir später noch einmal zurückkommen werden.
4. Kündigen Sie den Job. Es mag durchaus verführerisch sein, seinem Chef einen Brief zu schicken, in dem steht: »Lieber Chef, ich kündige. Lecken Sie mich am Arsch, das war’s. Schöne Zeit noch!« Oder ein paar Sänger zu engagieren, die das Ganze als Ständchen darbieten, wie das kürzlich in Amerika vorkam, als ein Mann ein Barbershop Quartet damit beauftragte. Sie können so was natürlich tun, wenn Sie unbedingt wollen (und es mir in einer E- Mail berichten, damit ich einen Artikel für den New Escapologist darüber veröffentlichen kann), aber ehrlich gesagt würde ich Ihnen eine zurückhaltendere Form empfehlen. Gehen Sie persönlich zu Ihrem Arbeitgeber und versichern Sie, dass Sie vertragsgemäß kündigen, und tun Sie das dann mit einem sachlichen bis liebenswürdigen Brief ohne Anspielungen. Vorlagen für solche Briefe sind im Internet zu finden. Damit wäre dann Ihre berufliche Karriere beendet, und Sie sollten das mit einem großen dunklen Bier feiern.
5. Geben Sie Ihre Wohnungsschlüssel beim Vermieter ab. Stellen Sie Ihre Sachen bei einer Lagerungsfirma unter. Kündigen Sie alle Lastschriften, bis auf die für die Lagerfirma natürlich. Bis hierhin war alles nur Vorbereitung. Von jetzt an beschreiten Sie den Weg in die Freiheit.
6. Nehmen Sie das Geld aus Ihrem Entfesselungsfonds und reisen Sie irgendwohin, wo das Leben pulsiert und dennoch billig ist. Ich kann da Berlin oder Montreal empfehlen, aber es gibt noch viele andere Orte, die geeignet sind. Mieten Sie sich eine günstige Wohnung. Gegenden mit vielen Einwanderern (so wie Berlin-Kreuzberg oder Saint-Henri in Montreal) sind in kultureller Hinsicht sehr lebendig und relativ preisgünstig. Dort gibt es gutes und günstiges Essen, öffentliche Verkehrsmittel und jede Menge intelligente Menschen, vom Hipster bis zum Bohemien. Hier können Sie die Hälfte Ihres Entfesselungsfonds aufbrauchen und sich eine lange und angenehme Auszeit gönnen. Erkunden Sie die Stadt, entspannen Sie sich umsonst oder günstig in öffentlichen Parks, Museen oder Bibliotheken. Finden Sie Freunde. Laden Sie alte Freunde ein, Sie zu besuchen. Verbringen Sie Ihre Zeit mit Essen, Trinken und Lesen. Lassen Sie es sich gut gehen und feiern Sie Ihre gelungene Flucht.
7. Entwickeln Sie eine passende Form von Heimarbeit. Nutzen Sie die restliche Zeit Ihres Mini-Ruhestands – je nachdem, wie es Ihr Fonds erlaubt –, um einen Weg zu finden, nie mehr ins normale Arbeitsleben zurückkehren zu müssen. Erinnern Sie sich daran, wovor Sie geflüchtet sind: vor der Plackerei, dem frühmorgendlichen Aufstehen, der sinnlosen Unterordnung, dem Warten auf die Gehaltsüberweisung. Vergessen Sie nie, was hinter Ihnen liegt. Überlegen Sie, wie Sie frei und unabhängig zu Geld kommen können. Dazu ist entweder (a) eine vollautomatisch ablaufende Arbeit mit minimalem Eigenaufwand nötig oder (b) eine, die Spaß macht und mit Ihren persönlichen Bedürfnissen und Interessen übereinstimmt. In beiden Fällen muss das Einkommen, das Sie erzielen, Ihren vorher berechneten Lebenshaltungskosten entsprechen. Treiben Sie sich nicht zu sehr an. Gute Ideen kommen einem eher in Phasen der Ruhe, zum Beispiel, wenn man am Pool sitzt und an seinem Margarita-Cocktail nippt. Wie oben erklärt, könnte es sich um eine Form von Heimarbeit, ein automatisiertes Geschäftsmodell oder einen Investmentplan à la Jacob Lund Fisker handeln. Vielleicht bietet es sich ja auch an, alle drei Möglichkeiten miteinander zu kombinieren.
Setzen Sie Ihren Plan von Ihrer Wohnung oder von einem gemütlichen Platz in einer öffentlichen Bibliothek aus um. Wenn das erste Geld hereinkommt, wissen Sie, dass Sie Ihre Berufung gefunden haben. Sie haben sich entfesselt, Sie sind entkommen. Jetzt können Sie damit anfangen, Ihr neues Leben nach Ihren eigenen Vorstellungen einzurichten: eine kleine Wohnung in Berlin, ein Apartment in London, ein selbst gebautes Haus irgendwo im Wald, was Sie wollen.
9. Versuchen Sie’s. Im schlimmsten Fall scheitern Sie mit Ihrem Heimarbeitsprojekt und müssen mit gesenktem Kopf wieder zurück in die Lohnknechtschaft. Falls das tatsächlich passieren sollte, hätten Sie immerhin einen längeren Urlaub im Ausland genossen und versucht, ein eigenes Unternehmen aufzubauen. Das ist immer noch besser als alles, was Sie sonst in dieser Zeit getan hätten. Außerdem können Sie ein paar neue, interessante Dinge in Ihren Lebenslauf einfügen und haben ein paar tolle Storys auf Lager, um Ihre Freunde in der Kneipe zu unterhalten. Vor allem aber gibt es nichts, was Sie davon abhalten könnte, das Ganze noch mal zu versuchen.