Was fehlt uns denn?

Leseprobe "In zahlreichen Industrienationen dieser Welt hat das Glück in den letzten Jahrzehnten kaum oder nicht zugenommen, und in manchen hat es sogar nachgelassen. Wie ist das möglich? Was ist los mit uns? Was fehlt uns denn im Überfluss?"
Was fehlt uns denn?

Foto: Adam Berry/Getty Images

Vorwort

Warum tanzen wir nicht auf der Straße?

Stellen wir uns vor, ein Außerirdischer wäre soeben auf der Erde gelandet und würde sich bei uns danach erkundigen, wie wir so leben, sagen wir, in einem Land wie Deutschland. Der Außerirdische würde sich für ganz simple Dinge des Alltags interessieren, etwa die Frage, ob es bei uns genug zu essen gäbe oder ob wir hungern müssten, ob wir reich wären, ob wir so etwas wie Sklaverei und Unterdrückung kennen würden etc. »Na ja«, würden wir vielleicht antworten. »Was heißt schon reich ... Die meisten schwimmen nicht im Geld wie Dagobert Duck. Aber wenn man es mit anderen Regionen der Welt vergleicht, nagen wir nicht am Hungertuch, und fast jeder hat bei uns ein einigermaßen stabiles Dach überm Kopf.«

Danach gefragt, ob wir frei wären, unser Leben so zu leben, wie es uns vorschwebt, oder ob man uns alles vorschreiben würde, könnten wir sagen: »Gut, wer ist schon wirklich frei? Immerhin haben wir das Glück, in einer demokratischen Gesellschaft zu leben – was man beileibe nicht von jedem Land auf dieser Erde behaupten kann und was auch bei uns, nebenbei gesagt, schon mal anders war.«

Womöglich würde der eine oder andere von uns im Verlauf des Gesprächs feststellen, dass wir in Deutschland sowohl im globalen als auch im historischen Vergleich ziemlich gut dastehen. Insgesamt gehört Deutschland bekanntlich nicht nur zu den demokratischsten, sondern auch zu den wohlhabendsten – und ich würde sogar hinzufügen: lebenswertesten – Ländern der Welt.

»Wow!«, würde unser Außerirdischer da vielleicht begeistert ausrufen. »Ihr müsst bestimmt ganz schön glücklich und zufrieden sein, oder? Wahrscheinlich tanzt ihr den lieben langen Tag fröhlich auf der Straße und feiert euer Glück!«

An der Stelle würden die meisten von uns wohl innehalten. Auf der Straße tanzen? Feiern? Wir? Wie bitte?

Natürlich ist unser Außerirdischer naiv. Nur weil es uns relativ gutgeht, heißt das nicht, dass wir keine Probleme hätten und uns immerwährender Feierlaune erfreuen würden. Dennoch wäre unser intergalaktischer Freund vielleicht nicht zu Unrecht überrascht, wenn wir ihm, mit Blick auf handfeste statistische Befunde, offenbaren müssten: »Nein, mein Lieber, von fröhlichem Tanzen auf der Straße kann bei uns nicht wirklich die Rede sein. Im Gegenteil, es ist zwar so, dass unsere persönliche Freiheit und unser Wohlstand in den letzten Jahrzehnten nahezu stetig gestiegen sind, unsere Zufriedenheit jedoch ist im gleichen Zeitraum gesunken. Dafür sind nicht nur bei uns in Deutschland, sondern überhaupt in den reichen Ländern der westlichen Welt Angsterkrankungen, Depressionen, Stress und Burn-out fleißig auf dem Vormarsch. Was auch immer mit uns Privilegierten los ist, eins ist sicher: So richtig zu genießen scheinen wir die Privilegien, die wir haben, nicht.«

»Was? Aber warum nicht?«, könnte unser Außerirdischer verblüfft fragen, und damit hätte er die zentrale Frage dieses Buchs gestellt: Was an uns oder unserer Gesellschaft ist es, das uns, unserer objektiv recht guten Lage zum Trotz, aufs Gemüt schlägt und zu schaffen macht? In zahlreichen Industrienationen dieser Welt hat das Glück in den letzten Jahrzehnten kaum oder nicht zugenommen, und in manchen Ländern, darunter Deutschland, hat es sogar nachgelassen. Wie ist das möglich? Was ist los mit uns? Was fehlt uns denn im Überfluss?

Auf der Suche nach Antworten ist dieses Buch entstanden. Die Antworten und eventuelle Einsichten, die es anbietet, stammen dabei nicht aus meiner geheimen Schatzkiste mit dem eingravierten Schriftzug Die gesammelten Weisheiten aus dem Leben des B. K. Nein, ich habe eine weitaus spannendere und verlässlichere Quelle der Weisheit zu Rate gezogen: die Wissenschaft. Mit Hilfe empirischer Studien habe ich versucht, mir ein genaueres Bild davon zu machen, wie wir ticken, was uns antreibt, was uns glücklich stimmt und, umgekehrt, zur Verzweiflung bringt. Warum neigen wir inmitten steigenden Reichtums zu Unzufriedenheit und wachsender Rastlosigkeit? Wieso – wenn wir wirklich so frei sind – leben wir nicht das Leben, das wir eigentlich leben wollen? Warum fällt es uns so schwer, das Glück zu finden? Suchen wir es möglicherweise an den falschen Stellen? Um diesen und ähnlichen Fragen auf den Grund gehen zu können, habe ich eine Vielzahl statistischer Daten ausgewertet und Dutzende von Studien und Analysen aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen herangezogen, von der Psychologie über die Hirnforschung bis hin zu den Wirtschaftswissenschaften und der Soziologie. Im Laufe der Recherche wurde dabei eine Sache immer klarer: Selbst so großartige Errungenschaften wie Freiheit und Wohlstand können ihre Schattenscheiten haben, Schattenseiten, die uns unzufrieden stimmen und sogar krank machen können. Im ersten Moment mag das unglaubwürdig oder auch undankbar klingen, als wüsste ich diese Errungenschaften nicht zu schätzen. Das ist, wie ich Ihnen versichern kann, nicht der Fall. Dazu ein einfacher Vergleich: Es ist zweifellos großartig, dass bei uns so gut wie keiner mehr hungern muss. Aber das heißt doch nicht, dass deshalb umgekehrt Übergewicht kein ernstes Problem darstellen würde. Aus der Tatsache, dass ein grundsätzlich begrüßenswerter, ja geradezu privilegierter Zustand – so gut wie jeder kann jederzeit seinen Hunger stillen – seinerseits gewisse Risiken und Nebenwirkungen mit sich bringt, folgt nicht, dass diese neuen Risiken und Nebenwirkungen nicht real oder unbedeutend wären. Die neuen Probleme können, wie das Beispiel Übergewicht zeigt, durchaus gravierend sein. Und was für den Körper gilt, das scheint mir teils auch auf unsere Psyche zuzutreffen.

Jede Umwelt stellt die Lebewesen, die sich in dieser Umwelt behaupten müssen, vor ihre ganz eigenen Herausforderungen. Versetzen wir uns einen Augenblick in unsere haarigen Vorfahren, wie sie vor Jahrmillionen in Jäger-Sammler-Grüppchen durch die afrikanische Savanne zogen.

Ganz hübsch, oder? Vor allem, wenn man in seinem Rucksack Proviant dabeihat und sich am Abend wieder in die klimatisierte Lodge mit gutgefüllter Minibar zurückziehen kann. Ohne all das wird die Savanne bald zu einem ziemlich unwirtlichen Ort. Gut möglich, dass unsere Ahnen immer wieder kurz vorm Hungertod standen. Um zu überleben, galt es, den ganzen Einfallsreichtum in die Nahrungsbeschaffung zu stecken, was sich wohl kaum im Alleingang, sondern nur in kleinen Gruppen bewerkstelligen ließ.

Wir modernen Stadtneurotiker sind in einer völlig anderen Lage. Auch wenn unser Gehirn maßgeblich vom Survival-Training in der afrikanischen Savanne geprägt worden ist, hat sich die Umwelt, in der wir uns bewegen, drastisch geändert. Mitunter ist sie der kargen Steppe diametral entgegengestellt.

Chronischer Mangel ist, einerseits, in vielen Lebensbereichen durch ein chronisches Zuviel ersetzt worden: durch zu viele Optionen, zwischen denen wir wählen können oder müssen, zu viele unterschiedliche Tätigkeiten, denen wir nachgehen sollen oder manchmal auch wollen, zu viele Informationen, die auf uns einprasseln, zu viele (uns unbekannte) Menschen auf einem Fleck etc.

Auf der anderen Seite macht es unsere Konsumgesellschaft möglich, dass jeder auf eigene Faust überleben kann. Bei uns kämpft jeder erst mal für sich. Die Folge: Dem materiellen Überfluss steht nicht selten ein zwischenmenschlicher Mangel gegenüber, ein Zuwenig an gegenseitiger Aufmerksamkeit, an Zeit füreinander, an Nähe und Geborgenheit.

Es soll in diesem Buch nicht darum gehen, unsere mühsam erkämpften Freiheiten und unseren harterarbeiteten Wohlstand aufzugeben (so wie jemand, der über die gesundheitlichen Gefahren von Übergewicht berichtet, ja für gewöhnlich nicht den flächendeckenden Abriss der Supermärkte im Sinn hat und sich eine Hungersnot herbeisehnt). Vielmehr muss jeder von uns Wege und Strategien auskundschaften, um mit der heutigen, modernen Gesellschaft fertig zu werden und sein Glück darin zu finden. Tatsächlich erscheint mir die Gesellschaft, in der wir leben und deren Vorzüge wir unserem außerirdischen Freund zu Recht geschildert haben, in mancherlei Hinsicht als nahezu ideal. Sie bietet so viele Chancen für ein erfolgreiches, glückliches Leben. Dieses Buch will dabei helfen, die Fallstricke und Abgründe, die sich auch in unserer Gesellschaft verstecken und die eng mit ihren Vorzügen verknüpft sind, zu erkennen – damit sich am Ende jeder, hoffentlich, etwas besser darin zurechtfindet.

20.06.2012, 10:11

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