Generation und Wiederholung

Leseprobe "Ich behielt recht. Ich freundete mich mit keiner der anderen Mütter an. Es war naiv von Faye gewesen, etwas anderes zu erwarten, nur weil wir alle zufällig etwa zur gleichen Zeit Sex gehabt hatten."
Generation und Wiederholung

Foto: David McNew/Getty Images

KAPITEL 2

Es war der heißeste Tag des Jahres und Dad hatte Mum endlich überredet, dass er mich zum Karneval mitnehmen konnte.

»Herrgott noch mal, Rich, sie ist vierzehn!«

»Ja und? Soll das heißen, mit vierzehn ist meine Kleine zu jung, um mit mir auf einen Jahrmarkt zu gehen?«

»Das ist KEIN Jahrmarkt!«, fuhr sie ihn an.

»Ach nein? Was ist es dann?« Er funkelte sie selbstgerecht durch die Brillengläser an, provozierte sie, etwas Unangebrachtes zu sagen, das er begierig aufgreifen konnte.

»Du weißt genau, was ich meine, Richard.«

»Weiß ich nicht. Wirklich nicht. Steh doch zu deinen Ängsten.«

Ich seufzte und ging dazwischen.

»Wenn du Angst hast, dass ich als Ganja-Freak nach Hause komme, da kann ich dich beruhigen – ich habe es schon mal probiert und danach war mir kotzübel.« Ich zwinkerte Dad zu, damit er ja nicht glaubte, ich könnte es ernst meinen. »Das gehört zur Allgemeinbildung, Mum«, sagte ich. »Weißt du das nicht mehr?«

Das war ein Insider zwischen Mum und mir. Alles irgendwie Schräge, das Dad mir schmackhaft machen wollte, gehörte »zu meiner Allgemeinbildung«. Neben unseren regelmäßigen Ausflügen nach Manchester, wo auf polnische Kunstfilme im Cornerhouse superscharfes Curry in Rusholme folgte, hatte Dad mit einem gewissen sportlichen Ehrgeiz versucht, mir die Philosophie der Linken einzuimpfen. Ballett, experimentelles Theater am Unity (Mum nannte es abschätzig »Geschrei«) und ganze Nachmittage, an denen wir das Neuste im Probe Records durchforsteten. Dieser Ausflug zum Karneval nach Liverpool 8 – eigentlich nur die Straße hoch, aber dennoch eine Reise in eine völlig andere Welt – war nur ein weiterer Versuch, meinen Horizont zu erweitern. Aber er irrte sich, mein Dad – wie das für Dads so üblich ist. Während ihm über dem hervorragenden Curry in Rusholme das Wasser im Mund zusammenlief, beobachtete ich durch das Fenster die Gestrandeten eines Samstagabends in Banglatown; je mehr er versuchte, mich von King Tubby zu überzeugen, umso mehr gefiel mir Blur. Als Jugendlicher begeistert man sich für die Dinge, die man selbst entdeckt. Und so ging es mir mit Ruben.

Wir liefen durch die verzierten grünen Tore in den Park und ich war sofort verzaubert. Die Gerüche: Akipflaume, Kalbsfußcurry und, ja, süßer betörender Cannabisgeruch, mal schwach und mild, mal eigenartig beißend, jeder Schritt führte mich tiefer in eine unbekannte und wundersame Welt. Dazu die Klänge: ein wummernder Bass, ein Gospelchor, Steeldrums. In meinem Kopf drehte sich alles. Dann die Gesichter: all die unterschiedlichen Braun-, Schwarz- und Gelbtöne. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass es so viele wunderschöne Hautfarben geben könnte – Kupfer, Blauschwarz, Lehmbraun und Aubergine, das alles in den ersten Minuten unserer Ankunft, alle um die Essensstände gedrängt. Am meisten aber faszinierten mich die Jungs. Sie waren aus einer anderen Welt, unwirklich. Das waren Kids, die nur ein paar Busminuten von unserem Haus am Fluss wohnten, mir aber wie Außerirdische vorkamen. Selbst ihre Sprache war anders, unbekannt, sie unterschied sich vom Liverpooler Dialekt, der mir von der Schule vertraut war. Das hier hatte etwas Lyrisches, ein Trällern lag in ihrem Back-Slang, was sich anhörte, als kämen sie von ganz weit her, Millionen Meilen entfernt von zu Hause.

Und ihr Imponiergehabe! Ihre protzige Selbstsicherheit erregte mich. Als sich drei Jungs an uns vorbeidrängelten, kniff ich den Hintern zusammen, damit niemand merkte, wie heiß sie mich machten. Dad bekam von alledem nichts mit, ich bezweifle, dass er die Typen überhaupt registrierte. Er lief herum, blieb stehen, lief weiter, blieb stehen, stellte sich in seinen schicken Halbschuhen auf Zehenspitzen und suchte in der Menge nach bekannten Gesichtern. Wäre er nicht so abgelenkt gewesen, könnte er sich vielleicht an diese Szene erinnern, so wie ich sie jetzt im Kopf habe, wie in Zeitlupe von dem Moment an, als der letzte der Jungen vorbeiging und sich umdrehte und lächelte – ein breites und vielversprechendes und umwerfendes Lächeln. Ein umwerfend schöner Junge. Ruben.

Er machte einen Spruch und stellte sich zu ein paar Typen, die vor einem der Imbisswagen rauchten. Er trug die typische Arbeitshose eines Kochs und ein rotes T-Shirt mit dem Logo von Big Mamma’s, den Kessel in Rot, Gold und Grün. Das Café kannte ich gut, bevor die Studentenmeute den Imbiss entdeckt und in Beschlag genommen hatte, war Dad eine Zeit lang jede Woche mit uns hingegangen.

Die Bässe vibrierten mit jedem Schritt, den wir auf die Jungen zumachten, immer stärker und zu meinem Entsetzen legte mein Vater mit einer extrem peinlichen Skank-Nummer los: Er zog den Kopf immer wieder zwischen die Schultern und schob ihn dann jedes Mal ruckartig vor, dazu machte er irgendwelche Schritte auf dem Rasen und schnipste mit den Fingern. Die Typen stupsten sich an und feixten, nur Ruben schien das nicht zu interessieren. Ruben starrte mich an.

Ich war ein unsicheres Mädchen, blass und mit nicht zu bändigendem Haar, zu dunkel, um als rotblond durchzugehen, und nicht annähernd dunkel genug für rotbraun. Ich hatte ganz gewöhnliches rotes Haar. Mir war aber klar, welche Macht ich trotz meines gewöhnlichen Aussehens hatte, einfach nur, weil ich weiblich und jung war, Titten und lange Beine hatte. Ich wusste es, auch wenn ich noch nichts damit anfangen konnte. Als ich Brüste und die Regel bekam, reifte in mir die Ahnung, dass die Jugend, trotz aller Schmerzen und Sehnsüchte, die damit einhergingen, eine gewaltige Kraft war. Und obwohl in Rubens Blick etwas Kühles und Abschätzendes lag, war nichts Spöttisches darin; genau genommen öffnete er mir mit seinem Blick gerade die Lippen, riss meine eng geschnittene Bluse auf, fuhr mit den Fingern über den Rand meines BHs und streifte ihn sanft über die festen Hügel meiner Brüste nach unten. Wir standen da, schauten uns an, und der Moment verselbstständigte sich und schwebte über uns, elegisch, im Hintergrund die blasse Sonne über dem Mersey, Sinsemilla-Schwaden und ein erregender Sub-Bass in der Ferne.

Und plötzlich riss er uns aus diesem Moment, mit einem erneuten Lächeln, eindeutiger als das erste, er holte uns zurück in die Realität, und in diesem Augenblick wusste ich, dass ich wollte, was er wollte. Ich musste ihn haben.

Den ganzen Nachmittag scharwenzelten wir umeinander herum – ich wartete auf eine Gelegenheit, meinen Vater abzuschütteln, er wartete darauf, heimlich von der Arbeit und seinem Anhang schmarotzender Freunde wegzukommen. Als sich die Sonne davonstahl, wurde der Himmel weiter und blasser, er färbte sich in einem zarten Ton aus Rosa und Violett und ging schließlich in ein tiefes Blau mit Silber über, das sich wie ein Perserteppich über der Stadt entrollte. Auch die Stimmung veränderte sich – war jetzt angespannter, etwas Böses lag in der Luft, Gedränge und Geschiebe, planlos umhertorkelnde Jungen- und Mädchengangs, manche von ihnen lachten, manche schienen angriffslustig, auf Streit aus. In mir kribbelte es, ich war total aufgedreht, und ich merkte, dass auch Dad anders drauf war. Mit der Dämmerung verflog seine Leichtigkeit, sein ständiges Umherschauen war jetzt eher ein Zeichen von Beunruhigung als einem Überangebot geschuldet. Mit Schrecken stellte ich fest, dass er nicht auf die Essensbuden zusteuerte, nicht auf das Ziegen-Curry, von dem er ständig schwärmte, sondern auf den Ausgang.

Mit einem Mal die Rettung – eine Stimme rief: »Richard. Richard!«

Wir blieben stehen, drehten uns um und spähten durch die vorbeiziehenden Silhouetten. Eine Frau winkte – eine große, sehr beleibte Dame, das Haar als Bob, in einem absurden, traditionellen Massai-Gewand, erhitzt und angeheitert. Wir liefen in ihre Richtung und ich sah, dass sie eine flüchtige Kollegin von Dad war – Maxine Da Souza von der School of Cultures. Wie sie da mit ihren enormen Ausmaßen umringt von vier oder fünf schmächtigen Indern stand, war schon beeindruckend. Damit Dad sie auch ja nicht übersah, winkte sie gleich noch einmal.

»Mist«, zischte er durch die Zähne. Er zwang sich zu einem Lächeln, legte mir die Hände auf die Schultern und flüsterte: »Warte hier, Rache, sonst kommen wir verdammt noch mal nie wieder weg. Hau nicht ab. Du musst mich retten! Abgemacht? Bleib schön hier stehen.«

Schön hier stehen bleiben? Das fehlte noch. Amüsiert beobachtete ich, wie die überschwängliche Maxine meinen Dad an ihren Busen drückte, die Hüften bewegten sich im Takt der Musik, und schon hatte sie ihn in ihren lasziven Tanz verwickelt. Ich behielt die beiden im Auge, während ich mich zentimeterweise entfernte. Als ich endlich außer Sichtweite war, drehte ich mich um und rannte so schnell ich konnte zurück zu Big Mamma’s mobiler Kantine. Ich war wie berauscht. Für mich gab es nur ein einziges Ziel, Ruben, und allein ihn aufzuspüren, war an sich schon berauschend. Ich hätte die ganze Nacht bleiben wollen, auf der Jagd nach den Versuchungen dieser verzauberten fremden Welt, den Park durchstreifend, alles aufsaugend, den Krach und das Gelächter und das gleichförmige Wummern des Sub-Basses. Und diese Menschenmasse, die jungen Männer, all diese Grüppchen und diese geballte Kraft gut aussehender, gefährlicher Youngsters, ihre attraktiven Väter und Onkel, die alle jamaikanisches Red Stripe aus ungewöhnlich langen Dosen tranken. Und die Mädchen, die zu fünft nebeneinanderliefen, eingehakt, mit wackelnden Hintern, kichernd und sich zierend, obwohl ihre Augen verräterische Zeichen gaben. In ihren Augen funkelte die gleiche Lebenskraft, die auch durch meine Adern rauschte.

Schon tief im Gewühl lief ich langsamer, versuchte, locker und selbstsicher zu wirken, aber das gleißende Licht der improvisierten Beleuchtung in den Bäumen wurde schwächer, bis der Weg zu einem Nichts zusammenschrumpfte und alles vor mir im Dunkeln lag. Ich kniff die Augen zusammen, um besser zu erkennen, was das undeutliche Huschen zwischen den Bäumen zu bedeuten hatte – Geld wechselte den Besitzer. Geradeaus sah ich ein Männergrüppchen und hin und wieder glimmende Zigaretten und Joints, die sich im Dunkeln ruckartig bewegten. Bissige, aufgescheuchte Hunde knurrten – ich war weit genug gegangen. So lässig wie möglich, jetzt aber doch ängstlich, drehte ich um und machte mich mit entschlossenen Schritten zurück auf den Weg zum Festplatz innerhalb der eisernen Tore.

Jetzt sah ich auch Dad wieder. Er lachte gerade, den Kopf in den Nacken geworfen. Es ging ihm gut. Er hatte mich vergessen. Ich wollte ihn schon rufen, da stand Ruben plötzlich neben mir.

Mir war, als würde der Karneval mit einem Mal verschwinden, die Musik auf ein entferntes Summen abebben. Ich hörte nur noch das pulsierende Bumm-Bumm-Bumm meines Blutes, blanke Panik stieg in mir auf, ihr Geschmack metallisch.

»Du willst doch nicht etwa schon gehen?«, fragte er. »Es geht doch erst richtig los.«

Er trug jetzt Jeans und ein frisches T-Shirt, aber seine Haut verströmte ganz leicht den Geruch nach getrocknetem Schweiß, nach Öl und Gewürzen, irgendetwas Süßem. Ich drehte den Kopf leicht zur Seite und überlegte fieberhaft, was ich Schlaues von mir geben konnte.

»Ich muss den alten Mann nach Hause bringen«, sagte ich und machte mit dem Kopf eine Bewegung in Dads Richtung, der gerade ungeniert mit Maxine tanzte. »Er müsste schon längst zu Hause sein.« Ruben schaute verunsichert zu Dad, dann wieder zu mir. Ich errötete. »Ja, ja, ich weiß«, sagte ich lachend, hin- und hergerissen, weil ich Dad liebte, mich aber jetzt für ihn schämte: sein Anzug, wie er tanzte, seine viel zu blanken gepflegten Schuhe.

Ruben sah Dad noch etwas länger beim Tanzen zu, bevor er sichtlich belustigt den Kopf schüttelte. Dann drehte er sich zu mir und sah mir in die Augen.

»Lust, woanders hinzugehen?«

»Was? Jetzt?«

»Yeah. Jetzt.«

Mein Schweigen bedeutete Ja. Ja. Bring mich irgendwohin – jetzt sofort. Und er führte mich weg von den Toren, weg von dem beschwingten Sound der Steeldrums. Wir kämpften uns durch Hecken und Stechpalmen, weg vom Lärm und Geschrei des Karnevals, bis runter zum See.

»Warte. Gib mir deine Hand.« Und, o Gott, was war das? Ich hatte nur kurz seine Haut berührt und schon traf mich wie aus dem Nichts ein Blitzschlag, meine kleine Hand verschwand in seiner großen, sanften.

Vor uns lag das Ufer des Sees, darin die klitzekleine Insel mit dem Hügel, der aus dem Gewirr aus Nesseln und Schlingpflanzen herausragte.

Er ging voraus, balancierte beherzt über die Holzbretter eines Steges, der leicht überschwemmt war.

»Schau auf meine Füße, okay? Du darfst nicht geradeaus gucken, lauf einfach meinen Füßen hinterher.«

»Ist das denn nicht gefährlich?«

Er lachte in sich hinein, als sei diese Frage – oder Gefahr an sich – nichts, womit er sich viel beschäftigte.

»Du musst nur wissen, wo du hintrittst, das ist alles.«

Geschickt lief er einfach weiter, und mit einem letzten langen Satz waren wir auf der Insel, hinter uns die Klänge und Lichter des Karnevals – und sahen uns in die Augen. Auf einmal hatte ich Angst. War es jetzt so weit? Würden wir es machen? Würde er mich hier auf dem Boden nehmen, einfach so? Er spürte, dass ich zögerte, nahm ganz sanft meine Hand und zog mich herunter. Eine Ewigkeit saßen wir da und schauten aufs Wasser. Wir trauten uns kaum zu atmen. Ich schlang die Arme fest um die Beine, entschlossen, mich nicht herzugeben – trotzdem wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass er seinen Kopf zu mir runterbeugte und mich küsste.

Und dann passierte es, aus heiterem Himmel – er küsste mich leidenschaftlich und intensiv, und seine saugenden und forschenden Lippen und die tanzenden Sepiaschatten um uns herum brachten mich um den Verstand. Während die Nacht sich wie eine Decke über unsere glühenden Körper legte, küssten wir uns weiter, immer heftiger. Irgendwie wusste ich, wie es ging. Durch seine Sachen hindurch konnte ich ihn fühlen, er stöhnte. Ich wollte sein Ding sehen und berühren, aber ich kam mit der Hand nicht in die Jeans, bekam ihn nicht heraus. Er berührte mich überall, seine großen Hände auf meinen Oberschenkeln, unter dem Saum meiner Shorts. Der Wunsch, mich ihm hinzugeben, alles zuzulassen, war stark und beschämend, und ich wusste, wir sollten aufhören, aber ich würde niemals aufhören.

Doch plötzlich waren aufgebrachte, nervöse Stimmen, Rufe von der anderen Seite des Sees zu hören.

»Ray-chul! Rache!«

Mein Dad, Dad und seine Freunde, sie alle riefen meinen Namen – noch freundlich. Ich konnte es bis hierher hören – er wollte nicht an das Schlimmste denken. Er wollte darauf vertrauen, dass alles in dieser besten aller möglichen Welten gut war. Ich sah Ruben an.

»Scheiße. Tut mir leid.«

»Kein Problem.«

»Doch!«

Ich wollte, dass er mir glaubte, dass ich alles getan hätte, alles, was er wollte. Er stand auf, rückte seinen Schwanz in der Jeans zurecht. Ich ließ den Kopf hängen und seufzte.

»Soll ich auf Abstand gehen und so?«

Ich sprang entsetzt auf.

»Nein!« Ich starrte ihn an und überlegte, was ich sagen sollte – was ihn am ehesten beschwichtigen könnte. »Sag nicht so was.«

»Sicher?«

»Ja!«

»Das wird deinem Alten nicht gefallen.«

Ich nahm seine Hand. Ich, die erfahrene Vierzehnjährige.

»Wir gehen zusammen. Okay?«

In Rubens Blick lag etwas Spöttisches, Überlegenes. Er schaute nicht boshaft oder hinterhältig, aber er wusste es einfach besser. Und er behielt recht. Wir sausten über den morschen Steg, durch das Gestrüpp auf die Tore zu. Als wir im grellen Licht der Laternen am Parkeingang auftauchten, war nicht zu übersehen, wie entsetzt und voller Sorge Dad war. Beim Näherkommen wirkte er einen Augenblick lang erleichtert, doch gleich darauf war klar, dass er sich schrecklich verraten fühlte.

»Rachel!« Völlig verwirrt sagte er meinen Namen und versuchte dabei, Ruben anzulächeln, denn er wusste, dass er keine falschen Schlüsse ziehen durfte, gar keine. »Verdammt noch mal, wo warst du? Ich habe dir doch ausdrücklich gesagt ...«

Ruben spielte sofort mit. Er lächelte in sich hinein, aber er war gekränkt.

»Bitte, da haben Sie sie zurück.« Er gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange, warf Dad einen Blick zu. »Gesund und munter.«

Und damit war er verschwunden. Dad und ich liefen nach Hause, keiner sprach ein Wort, bis wir das untere Ende unserer Straße erreichten. Dann konnte Dad die Ungewissheit nicht länger ertragen.

»Dieser Junge ...«

»Was soll mit ihm sein?«

»Habt ihr ...?« Ihm versagte die Stimme. Ich wusste genau, was er fragen wollte. Dad holte tief Luft, sichtlich angespannt, und setzte erneut an. »Hast du ihn heute Abend erst kennengelernt?«

Wütend drohte ich ihm mit dem Finger.

»Ausgerechnet du, Dad. Wie kannst du nur?«

Dad fasste mich an der Schulter, versuchte, irgendwie witzig zu klingen, mich zu besänftigen.

»Rachel, du kannst nicht einfach so abhauen.« Aber es brachte ihn fast um. Er musste es loswerden. »Du kannst das nicht einfach mit irgendwem machen.«

Ich grinste. Mein Dad, der Reggae-Fan, der Medizinmann, der Afrikareisende, der diese Kultur lebte und atmete, als wäre es seine eigene – er liebte sie, aber mit dem nötigen Abstand.

»Dann lass uns mal Klartext reden, Dad. Steh zu deinen Ängsten.«

Da wurde er wütend.

»Eines Tages, wenn du selbst Kinder hast, wirst du mich verstehen.«

Ich hatte nur einen einzigen Gedanken: Das würde ich ihm nie verzeihen, niemals.

KAPITEL 3

Die somalischen Spieler erzielen den Ausgleichstreffer. Schmunzelnd lege ich die Hand auf den Bauch. Dunkle Wolken ziehen auf und es wird Zeit, nach Hause zu gehen. Bald schon regnet es stark, aber irgendwie sanft – typischer Septemberregen. Als ich in die Belvidere einbiege, entdecke ich Vicky aus dem Schwangerschaftskurs beim National Childbirth Trust. Sie hat als Erste ihr Kind bekommen, ich werde die Letzte sein. Sie beugt sich über einen dieser übertrieben gepolsterten Kinderwagen und kämpft mit dem Regenschutz. Ich rufe sie, fuchtele mit dem Arm in der Luft herum, aber sie hört mich nicht. Noch schneller kann ich nicht. Ich rufe noch einmal, um sie zu warnen, aber da ist es schon zu spät – ein Lastwagen rauscht vorbei und spritzt sie von oben bis unten nass. Während sie sich noch fluchend das Wasser abstreift, lenken ein paar junge Kerle ihr Auto absichtlich in die Pfütze, sodass sie noch eine volle Ladung Regenwasser abbekommt. Plötzlich fühle ich mich unbehaglich und flüchte hinter einen Baum. Vicky schimpft den jugendlichen Rasern hinterher, löst dann die Bremse des Kinderwagens und zerrt ihn von der Straße weg.

Ich weiß, ich sollte hinübergehen und ihr anbieten, mit zu mir hochzukommen, sich abzutrocknen und zu stillen. Aber gleichzeitig weiß ich, was mich davon abhält. Es ist blöd, es ist egoistisch, aber auch wichtig – für mich jedenfalls. Vicky wird mich fragen, ob ich ihr Kind halten will, weil sie nett sein möchte. Ich müsste dann ganz entzückt tun und die Arme ausstrecken. Es ist nicht so, dass ich ihr Baby nicht halten will, sondern dass ich kein Baby halten will. Noch nicht. Ehrlich gesagt hatte ich noch nie einen Säugling auf dem Arm. Einmal habe ich das Kind einer meiner Teenager-Mütter gewindelt – obwohl es längst alt genug fürs Töpfchen war –, aber mit Säuglingen hatte ich noch nie zu tun. Gegen Ende der Geburtsvorbereitung war eine frischgebackene Mutter aus einem früheren Kurs bei uns zu Gast und wir durften ihr Kind auf den Arm nehmen. Ich machte mich unter einem Vorwand aus dem Staub. Seit ich die Kidneybohne auf dem Monitor gesehen habe, habe ich irgendwie die fixe Idee, dass der Augenblick, in dem sie mir mein Kind auf den Bauch legen, wirklich einzigartig sein soll. Ich will sozusagen meine Unschuld bewahren, so naiv und kindisch das klingen mag. Für mich. Für das Baby. Der Moment soll etwas vollkommen Neues sein, er soll perfekt sein. Ich bin so kurz davor.

Ich gehe einfach und kümmere mich nicht weiter um Vicky.

Der NCT-Kurs war Fayes Idee. Irgendwann einmal stand sie bei mir am Schreibtisch, mit dieser chronischen Sorgenfalte auf der Stirn. Sie gab mir die Broschüre, die ich aber, beschäftigt wie ich war, gleich auf den Haufen zu den anderen Papieren legte. Ich bedankte mich mit einem knappen Lächeln und starrte wieder auf den Laptop, um deutlich zu machen, dass ich zu tun hätte. Faye deutete auf die Broschüre.

»Das ist eine gute Gelegenheit, andere werdende Mütter kennenzulernen«, verkündete sie und tippte auf das NCT-Logo. »Großartiger Laden, sehr zu empfehlen. Da solltest du unbedingt hin.« Ich verzog das Gesicht. Um ihr einen Gefallen zu tun, warf ich einen Blick in die Broschüre. »Stell dich nicht so an. Du wirst noch froh über Hilfe sein, wenn du in deiner Wohnung festsitzt und völlig durchdrehst. Du kennst doch diesen Spruch: Gemeinsam ist man stark und so.«

»Gott, Faye, das hört sich ja wirklich toll an!«

Sie schnaubte und tat meine Bemerkung mit einer verächtlichen Handbewegung ab.

»Liebes, ich sage doch nur, dass es dein Erstes ist. Du wirst verdammt froh sein, dass du nicht allein bist, wenn das Kind erst mal da ist. Wer außer dir sollte sich dann noch so für die Farbe von Babykacke interessieren? Na? Nur die anderen Mütter.«

»Also das hat mich jetzt völlig überzeugt.«

Sie hielt mir das Telefon hin und sah mich durchdringend an.

»Na los.«

Ich schüttelte seufzend den Kopf und nahm nur widerwillig den Hörer in die Hand.

»Nur, damit ich dich loswerde. Aber ich sage dir jetzt schon, diese Frauen und ich, wir haben nichts gemeinsam.«

Ich behielt recht. Ich freundete mich mit keiner der anderen Mütter an. Es war naiv von Faye gewesen, etwas anderes zu erwarten, nur weil wir alle zufällig etwa zur gleichen Zeit Sex gehabt hatten. Trotzdem, ich bin froh, dass ich hingegangen bin, und es ist gut, dass sie mich dazu überredet hat. Überraschenderweise mochte ich die Treffen sogar, und die Teilnahme hat sich mehr als ausgezahlt. Die Frauen dort sind sogar echt nett – nur dass wir bei den wirklich wichtigen Themen wie Tag und Nacht sind. Keine kann viel mit Musik oder Filmen anfangen, macht gerne Spaziergänge, und alle leben mit den Vätern ihrer Kinder zusammen. Ich bin weder stolz auf die Sache mit Ruben, noch schäme ich mich dafür. Ich habe meine Entscheidung getroffen und kann bestens damit leben. Basta.

Ein paar Gemeinsamkeiten gab es dann doch. Wir waren alle ungefähr Anfang dreißig, für alle war es das erste Kind, und wir alle mussten uns bald der großen Herausforderung der Neuzeit stellen, Mutterschaft und Berufsleben unter einen Hut zu bringen – ein weiteres Thema, auf dem die liebe Faye herumritt.

»Diese Zeit kommt nie wieder, Liebes. Es gibt überhaupt keinen Grund, hier so schnell wie möglich wieder einzusteigen.«

Natürlich hat Faye recht, verdammt recht sogar – theoretisch. Praktisch weiß ich nicht, wie das funktionieren soll, wenn ich nicht da bin. Wer überredet, besticht, nötigt dann meine Zöglinge, Entscheidungen zu treffen, die ihre Aussichten vielleicht verbessern könnten? Will ich das wirklich Siobhan überlassen? Wollen wir doch mal sehen, wie sie ohne mich zurechtkommt ... Mag sein, dass sie Teenies den Kopf verdrehen kann, aber ich traue ihr nicht zu, dass sie sich auf den Kopf stellt, um das Leben junger Menschen in die rechte Bahn zu lenken.

Und das Baby, das Baby! Wer kümmert sich um mein Baby, wenn ich wieder arbeiten gehe? Es gibt da niemanden oder zumindest niemanden, dem ich vertraue. Gott, es ist noch nicht mal auf der Welt und schon fühle ich mich dem Kleinen gegenüber schuldig! Ich lächele in mich hinein, und beim Gedanken an das kleine Würmchen, das mich bald mit seinen winzigen, feucht schimmernden Augen anblinzeln wird, jagt ein Freudenschauer durch meinen ganzen Körper.

Ich schließe die Haustür auf und habe es gerade bis ins zweite von fünf Stockwerken geschafft, als mein Diensthandy klingelt. Um es aus der Tasche zu fischen, muss ich mich hinsetzen – wie verdammt noch mal soll ich bloß das Kind hier hochkriegen? Die Nummer kenne ich nicht. Ich bin müde und durchnässt, mir ist heiß und alles tut mir weh. Ich sehne mich nach der Badewanne, um mein Gewicht für eine Weile nicht zu spüren. Als ich das Telefon endlich finde, ist es zu spät. Ich hieve mich hoch und bete, dass es nicht noch mal klingelt. Tut es aber.

»Nehmen Sie ein R-Gespräch an?«

Na super.

»Ja, okay.«

»Rache, ich bin’s.«

James McIver.

»Ich bin aus dem Wohnheim rausgeflogen.«

»Was? Warum hat Andy dich rausgeschmissen?«

Stille am anderen Ende.

»Du weißt doch, dass ich offiziell im Mutterschaftsurlaub bin, oder?«

»Ja, weiß ich. Hab grad mit Shiv gesprochen.«

»Na also. Shiv weiß, was zu tun ist.«

»Von wegen. Shiv hat null Durchblick.«

»Shiv ist jetzt für dich zuständig, James.«

»Die ist so verdammt naiv, Rache! Die hat doch noch weniger Plan als ich.«

Ich muss grinsen – wo er recht hat, hat er recht. Als wittere er seine Chance, prescht er jetzt vor.

»Rache? Bitte!«

»Von wo rufst du an?«

»Von zu Hause.«

»Du bist bei deiner Mutter?«

»Es pisst wie blöd draußen, falls du es noch nicht gemerkt hast!«

»Halt dich ja von deiner Mutter fern. Verstanden?«

»Scheiße, ich bin bis auf die Haut nass!«

»Geh zurück ins Gordon. Wir treffen uns dort.«

»Versprochen?«

»Ja.«

»Mann, danke! Echt. Diese Shiv ist eine Null verglichen mit dir.«

Dann ist die Verbindung unterbrochen. Ich spüre, wie ich am Hals knallrot werde. Ein paar Minuten sitze ich noch auf der Treppe und lausche dem Regen, der aufs Dach prasselt. Ich stelle mir Fayes Gesicht vor, wenn ich ins Gordon marschiert komme, und muss lachen.

25.07.2012, 18:05

Buch: Weitere Artikel


Thema und Tabu

Thema und Tabu

Biographie Nachdem sie in ihrem biografisch geprägten Debütroman unverblümt über eine Drogen- und Partyjugend im Liverpool der 90er schrieb, geht es in Helen Walshs neuem Buch um ein etwas reiferes Thema
Klischee und Praxis

Klischee und Praxis

Einblicke Mutter- und Elternschaft werden in der Öffentlichkeit fast ausschließlich als etwas rein positives und Glück spendendes gesehen. Dass es dabei auch durchaus fundamental negative Aspekte gibt, wird zumeist totgeschwiegen
Der wunde Punkt

Der wunde Punkt

Netzschau Stimmen und Rezensionen aus Weblogs und Social Media: "Das ist zwar 'nur' das Bekenntnis einer Romanfigur, wirkt aber wohl doch befreiend für so manche reale Mutter, die nicht ins verklärte Mama-Idealschema passt."

Studiogespräch Dr. Andreas Wiefel

Video Mit unserem Experten im Studio sprechen wir über die Ursachen von Wochenbettdepressionen und Schreibabys und wie man Mutter und Kind, aber auch dem familiären Umfeld am besten helfen kann

Postpartale Depressionen

Video Postpartale, zu deutsch: nachgeburtliche Depressionen erleiden nach Expertenschätzungen etwa 80.000 Mütter in Deutschland. Erschöpfung, Gleichgültigkeit, Selbstzweifel, Schuldgefühle


Wochenbett (urbia.tv)

Video Als Wochenbett (lat. puerperium) bezeichnet man die Zeitspanne vom Ende der Entbindung (Geburt) bis zur Rückbildung der schwangerschafts- und geburtsbedingten Veränderungen, was typischerweise sechs bis acht Wochen dauert


Go to Sleep by Helen Walsh

Video Helen Walsh (author of BRASS and other titles) talks about her battle with post-natal depression and the catharsis she received in writing GO TO SLEEP


Das Leben Schultern - Wochenbett-Depression

Video Wochenbettdepressionen sind Depressionen, die bei Frauen in der Zeit nach einer Entbindung auftreten. In der Fachsprache werden auch die Begriffe postpartale oder postnatale Depressionen verwendet