Enttäuschte Liebe?

Leseprobe "Unter den Angehörigen der zweiten und dritten Generation ist das Ge­fühl verbreitet, ausgegrenzt zu werden und nicht in ihrer Doppelidentität als Deutscher und Türke akzeptiert zu sein, was zu Trotz und Abwehrverhalten führt."
Enttäuschte Liebe?

Foto: Michele Tantussi/Getty Images

Vorwort

Es ist eine einfache Formel: Wer für den türkischen Präsiden­ten Recep Tayyip Erdoğan ist, der sollte am besten Deutsch­land verlassen. In regelmäßigen Abständen wird dies von Politi­kern der bürgerlichen Mitte, eben nicht nur von den Rechten, gefordert, die mit Ressentiments gegen »Türken« – immerhin ein Teil der deutschen Gesellschaft – Punkte für ihre Parteien und ihre eigene Karriere machen wollen. Man muss kein Er­doğan-Anhänger sein, um dies verstörend zu finden.

Zuletzt sorgte das türkische Verfassungsreferendum am 16. April für großen Wirbel. 63 Prozent der wahlberechtigten Deutschtürken stimmten mit einem »Ja« für Erdoğans Präsidial­system. Für viele Deutsche war das unbegreiflich. Warum nur unterstützten diese Menschen, die hierzulande Demokratie und Rechtsstaatlichkeit genießen, einen Autokraten, der in seiner Heimat dabei ist, genau diese Werte abzuschaffen? Die Motiva­tion der Erdoğan-Anhänger wird dieses Buch erklären, aber ge­wiss nicht rechtfertigen. Rein rational sind die Gründe für ihr Verhalten nicht zu beantworten, aber Politik richtet sich selten ausschließlich an Verstand und Vernunft aus.

Für jene, die in der deutschen Mehrheitsgesellschaft mit Arg­wohn auf die Anhänger des türkischen Präsidenten blicken, ist das Abstimmungsergebnis ein eindeutiger Beleg für die geschei­terte Integration der Deutschtürken. Dabei sprachen sich bei einer Wahlbeteiligung von 660000 Menschen nur gut 420000, also nur rund 14 Prozent von knapp 3 Millionen Deutschtürken, für das von Erdoğan favorisierte Präsidialsystem aus. Die Ablehnung gegenüber diesen »undankbaren« Türken ist so groß, dass eine differenzierte Beurteilung der Lage schwierig erscheint.

Vorhersehbar im deutschen Vorwahlkampf 2017 war auch die Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft. Sie behindere, so die allgemeine Auffassung, die Integration derjenigen, die sich von Erdoğans autoritärer Politik angezogen fühlten. Doch es gibt keine konkreten Hinweise dafür, dass Erdoğan-Anhänger mehrheitlich die deutsche und die türkische Staatsbürgerschaft besitzen.

Die Erfolge der AfD haben die Agenda der etablierten Partei­en verändert, die Haltung gegenüber Migranten mit islamischem Hintergrund verhärtet. Schon die Pro-Erdoğan-Demonstration nach dem Putschversuch im vergangenen Jahr hatte die Frage nach der Loyalität zu Deutschland aufgeworfen. Die Türken sollten sich entscheiden zwischen neuer und alter Heimat. Man könne nicht »Diener zweier Herren« sein – so die banale Argu­mentation. Es ist jedoch ein Armutszeugnis, die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft als einzig wichtiges Integrati­onskonzept in den Mittelpunkt hitziger Diskussionen zu stellen. So wird man jedenfalls keine Lösungen finden, um Menschen mit offensichtlich anderem Demokratieverständnis für sich zu gewinnen. Doch die parteipolitische Profilierung hat schon ein­ mal funktioniert: Im Jahr 1999 hatten Unterschriften gegen die von Rot-Grün geplante doppelte Staatsbürgerschaft den flauen Wahlkampf in Hessen angeheizt und den Wahlsieg für den CDU­ Ministerpräsidenten Roland Koch gebracht.

Das deutsch­türkische Verhältnis ähnelt immer mehr einer verschmähten Liebesbeziehung: Türken lieben und schätzen Deutschland als das Land, in dem sie aufgewachsen und die meisten auch geboren sind, fühlen sich aber nicht zurückge­liebt – so das Fazit aus vielen Befragungen unter Türken. Unter den Angehörigen der zweiten und dritten Generation ist das Ge­fühl verbreitet, ausgegrenzt zu werden und nicht in ihrer Doppelidentität als Deutscher und Türke akzeptiert zu sein, was zu Trotz und Abwehrverhalten führt.

Das bedeutet ein permanentes Zerwürfnis mit ihrer neuen Heimat, das Erdoğan für seinen Machterhalt nutzen kann. Er ist der »Vater«, der seine »Kinder« beschützt. Seine Anhänger in Deutschland, oft aus den ländlichen Gebieten der Türkei stam­mend, genauso islamisch­konservativ wie er, klammern sich an die alte Heimat und werden durch ein perfekt funktionierendes AKP­-Netzwerk, etwa durch Lobbyorganisationen und Moschee­ gemeinden, sorgsam betreut.

Noch vor einigen Jahren war türkische Innenpolitik für sie kein Thema. Nun, angestachelt durch Erdoğan, geben sie die Parteipropaganda AKP­-getreu wieder, sprechen von »äußeren Feinden«, von nationaler Stärke, der »Arroganz des Westens« und beklagen das »Türkei-­Bashing« der deutschen Medien. Sei­ne Strategie schadet aber am Ende seinen Unterstützern hierzu­lande, weil er ihre religiösen Gefühle, aber auch ihren Nationa­lismus anheizt und sie dazu antreibt, sich von der deutschen Gesellschaft zu separieren.

Die Deutschtürken als Mobilisierungsmasse – ein relativ neu­es Phänomen also, das verstärkt ab 2014 zutage trat, dem Jahr, als die Deutschtürken erstmals auch in Deutschland an die Wahlurnen durften, um sich an türkischen Wahlen zu beteiligen. Zu einer Zeit, als Erdoğans Allmacht nach den Gezi-Protesten und dem Aufbegehren des ehemaligen Gefährten, des in den USA lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen, gefährdet schien. Nun spiegelt sich die Polarisierung der türkischen Ge­sellschaft, die Erdoğan selbst vorangetrieben hat, auch unter den Türkischstämmigen in Deutschland wider. Seine Anhänger ver­göttern ihn, seine Gegner fürchten seine Alleinherrschaft. Hass ist ausgebrochen in der türkischen Community, der Nachbarn, Arbeitskollegen, Freundeskreise, ja sogar Familien entzweit. Offen über ihre politische Meinung zu sprechen, wagen in den mehrheitlich von Türken bewohnten Stadtteilen nur noch die wenigsten. Einige haben Angst vor Repressalien bei einem Be­such in der Türkei.

Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die deutsch­türki­schen Beziehungen, die inzwischen an einem Tiefpunkt ange­langt sind. Es fing mit der Böhmermann-Affäre an, zog sich wie ein roter Faden über die Armenienresolution bis hin zu den Querelen nach dem Putschversuch. Als die Parole ausgerufen wurde, dass Fethullah Gülen und seine Anhänger dafür verant­wortlich seien, gab es bereits wenige Stunden später erste Über­griffe auf Gülen-Einrichtungen in Deutschland, veröffentlichten AKP-­Anhänger Listen im Netz mit Boykottaufrufen, islamische Geistliche bespitzelten auf Anweisung aus Ankara politische Gegner und Anhänger und Unterstützer Erdoğans gerieten anei­nander.

Seitdem ist auch eine immer stärkere Einmischung des türki­schen Präsidenten in die inneren Angelegenheiten Deutschlands zu beobachten. So übergab der türkische Geheimdienst MIT dem Bundesnachrichtendienst BND eine komplette Liste mit den Namen von ausgespähten vermeintlichen Gülen­-Anhän­gern. MIT ging davon aus, dass deutsche Verfassungsschutzbe­hörden »Amtshilfe« leisten würden. Bislang ist allerdings die Regierung in Ankara den Beweis schuldig geblieben, dass Gülen tatsächlich hinter dem gescheiterten Putsch vom vergangenen Jahr steckt.

Schon seit Längerem steigt die Zahl der Asylanträge von Tür­ken – von über 4600 im Jahr 2015 auf 5742 im Jahr 2016, so das Bundesinnenministerium. Schutz vor politischer Verfolgung in Deutschland suchen neben kurdischstämmigen Türken jetzt auch türkische Diplomaten, Nato­-Soldaten, Richter, Staatsan­wälte und Journalisten. Ankara bedrängt die Bundesregierung, alle Asylanträge abzulehnen und die türkischen Staatsbürger auszuliefern. Den inhaftierten deutsch­türkischen Journalisten Deniz Yücel nutzte Erdoğan als Faustpfand im Wahlkampf, vor­ verurteilte ihn als »Terroristen« und »ausländischen Spion«.

Kompliziert ist die Türkei­-Debatte ohnehin: Islam und Isla­mismus, die unstrittig schwierige Frage der Integration und die Entfremdung in den Beziehungen zur Europäischen Union. All das verdichtet sich zu einer aggressiv geführten Diskussion, immer wieder angefacht von dem mehr und mehr autoritär re­gierenden Machthaber in Ankara. Es ist diese selbstherrliche Art Erdoğans, wie zuletzt seine verbalen Angriffe an die Adresse der Europäer. »Ey, Merkel, ey Rutte – ihr seid Nazis, ihr seid Fa­schisten«, beschimpfte er die deutsche Kanzlerin und den niederländischen Ministerpräsidenten, nachdem seinen Ministern untersagt worden war, in Deutschland und den Niederlanden Wahlkampf für das umstrittene Verfassungsreferendum zu ma­chen. Das sind rüde Töne aus dem Munde eines Staatspräsiden­ten, der einen EU­-Partner und NATO­-Verbündeten repräsentiert.

Der »faschistische Westen« drangsaliere Muslime, bald gebe es in ganz Europa Religionskriege. Man unterstütze kurdische Ter­roristen und die Gülen­-Anhänger und wolle eine starke Türkei verhindern. Jeden Tag und immer wieder wurde dieses Narrativ über die Fernsehsender, über die Zeitungen im Land verbreitet. Über die sozialen Medien erreichten diese Botschaften in Sekundenschnelle die türkische Diaspora in Europa. Mit seiner Unbe­herrschtheit schaffte es Erdoğan, ganz Europa gegen sich aufzubringen. »Wenn ihr euch weiterhin so benehmt, wird morgen kein einziger Europäer, kein einziger Westler auch nur irgendwo auf der Welt sicher und beruhigt einen Schritt auf die Straße set­zen können«, tönte er – eine unfassbare klare Drohung.

Die Abweisung der Türkei durch die Europäische Union nagt noch immer am Ego des »Sultans«. Er kennt kaum noch Hem­mungen gegenüber seinen europäischen Partnern. Deutschland und den Niederlanden unterstellte er, man plane wieder »Gas­kammern und Konzentrationslager«. Getrieben vom Kalkül der Macht, aber auch gekränkt in seinem Stolz, betrieb er eine derart absurde Vergeltungsstrategie, dass selbst einige seiner Anhänger peinlich berührt waren.

Dass die Lage nicht weiter eskalierte, ist auch der Not der Europäer zu verdanken, die auf das Wohlwollen der Türkei in der Flüchtlingskrise angewiesen sind. Die Kanzlerin, gefangen durch den Flüchtlingsdeal mit der Türkei, reagierte rational und kühl, was selbst ihr allerdings immer schwerer fiel angesichts der ungezügelten Rhetorik des türkischen Präsidenten. Schließ­lich sagte sie: »Wir werden nicht zulassen, dass der Zweck die Mittel immer wieder heiligt und jedes Tabu fällt.«

Erdoğans Taktik, die Türkei als Opfer zu stilisieren, ging auf, auch wenn das Ergebnis des Verfassungsreferendums mit 51,4 Prozent äußerst knapp ausfiel. Die Türken wählten den starken Mann, der ihnen Sicherheit und Stabilität versprach und der sich vom Westen nichts mehr gefallen ließ. Jetzt hofft Erdoğan bis mindestens ins Jahr 2029 als Alleinherrscher regieren zu kön­nen, nahezu unkontrolliert, da die Gewaltenteilung mit der Ver­fassungsänderung praktisch aufgehoben wird. Das Präsidialsys­tem ist das wichtigste, schon seit langem geplante Projekt in Erdoğans politischer Karriere – die Vollendung eines lang gehegten Traums.

Für die Opposition, die der Regierung Wahlbetrug vorwirft, ist es ein bitteres Ergebnis. Das Referendum fand inmitten des Ausnahmezustands statt, zahlreiche regierungskritische Medien wurden geschlossen, Oppositionspolitiker saßen im Gefängnis. Und überall sah man nur noch Erdoğan, der unwidersprochen die Vorzüge des Präsidialsystems anpreisen konnte. Wer mit »Nein« stimmte, so wurde gedroht, würde den »Terrorismus« im Land unterstützen, war quasi ein Vaterlandsverräter. Um die politischen Gegner des Staatspräsidenten – das sind immerhin fast 50 Prozent der Türken – wird es jetzt noch stiller werden.

Schon vor Donald Trump hat Recep Tayyip Erdoğan die mo­bilisierende Wirkung des Postfaktischen erkannt. Die säkularen Eliten in der Türkei, die das islamisch­konservative Milieu stets verachteten und vom politischen Prozess ausschlossen, machten es ihm allerdings leicht, für »sein Volk« in die Rolle des Anwalts der unterdrückten Muslime zu schlüpfen. Auch den versuchten, dilettantisch ausgeführten Militärputsch im Juli 2016 nutzte Er­doğan wie aus dem Lehrbuch des Machiavelli. In fünfzehn Jah­ren AKP­Regierung formte er die Türkei des Republikgründers Kemal Atatürk nach seinen Vorstellungen um. Atatürk hatte die Türkei zu einem laizistischen, demokratischen Rechtsstaat ge­formt. Das dürfte nun nur noch Makulatur sein.

Dieses Buch beschreibt die Sorgen der säkularen Deutschtür­ken, denen es nicht egal sein kann, in welche Richtung sich die Türkei bewegt. Sie haben eine besondere emotionale Beziehung zu ihrem Herkunftsland, das zurzeit eine dramatische Entwick­lung durchmacht, mit weitreichenden Auswirkungen auf Deutschland und seine türkeistämmigen Migranten.

Nach dem Verfassungsreferendum werden weitere Schritte der Abgrenzung folgen, die die Türkei von Europa wegführen – eine tragische Entwicklung für diejenigen, die ihre Zukunft im Westen sehen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist dabei, sein frühes Lebenswerk zu demontieren, all die fortschrittlichen Re­formen und Ansätze zurückzudrehen, die der Türkei einst Lob und Anerkennung brachten.

27.07.2017, 13:14

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