Prolog
Es gibt keinen Gott außer Gott – ratatatatatata!
Es gibt keinen Gott außer Gott – ratatatatatata!
Natürlich hatte er Angst. Auch wenn niemand auf ihn schoss, alle stattdessen bloß in die Luft feuerten. Aber diese Kugeln kamen irgendwann wieder herunter, nur dann ohne ratatatata, sondern einfach so. Zwei Mal hatte Gent an diesem Nachmittag schon gesehen, wie Brüder, die von einer solchen Kugel auf ihrem Rückweg getroffen worden waren, blutüberströmt vom Wagen fielen. Am Wegesrand wurden sie versorgt, bekamen Verbände, Wasser und irgendwelche Tabletten. Gut sahen sie nicht aus.
Es gibt keinen Gott außer Gott – ratatatatatata!
La Ilaha illa Allah – ratatatatatata!
La Ilaha illa Allah – ratatatatatata!
Auch Gent drückte ab, wenn die anderen schossen. Sein Zeigefinger war längst taub, sein Arm zitterte vor Erschöpfung. Er versuchte, ein wenig schräg zu schießen. Er hoffte, dass die Kugeln, die er abfeuerte, in dem Wassermelonenfeld niedergehen würden, das merkwürdigerweise direkt neben der Straße lag, obwohl sie schon fast im Zentrum angekommen waren. Er musste daran denken, wie er das erste Wassermelonenfeld angestarrt hatte, das er zu sehen bekam. Das war kurz nach seiner Ankunft gewesen. Er hatte sich vorher nie gefragt, wie und wo Wassermelonen wuchsen.
Im Schritttempo kroch der Konvoi durch die Stadt. Seit einer Stunde schon, dabei war es nur eine kleine Stadt, eher ein großes Dorf. An einer Tankstelle vorbei; an einem staubigen Blumenladen, an Geschäften, in denen man Pistazien und Kürbiskerne kaufen konnte, an einem kleinen Restaurant mit roten Plastikstühlen, an einer Bäckerei vorbei; an einer Schule vorbei, aus deren Fenstern Kinder in blauen Uniformen starrten. Im Augenwinkel sah Gent, wie ein Mann auf einer Leiter balancierte, die an ein Haus gelehnt war. Der Mann hatte Schweißperlen auf der Stirn und ließ eilig ein Bettlaken über das Schaufenster seines Ladens fallen.
Alkohol, vermutete Gent. Einer der Brüder auf dem Wagen vor seinem zeigte auf den Mann und lachte. Er hatte einen Revolver.
Tack. Tack. Im Fallen warf der Mann die Leiter um.
Es war heiß. Einige Brüder tanzten auf den Fahrzeugen: dunkelgrüne Mannschaftswagen, gepanzert gegen Sprengfallen, ein Kettenfahrzeug, das sich keuchend und qualmend um die Kurven quälte, weiße Toyota-Pickups mit Flecktarnnetzen über den Ladegflächen und sogar zwei Polizeimotorräder mit blau-roten Lampen. Immer wieder ließen die Brüder, die sie bestiegen hatten, die Sirenen aufjaulen.
»Takbir!«, schrie ein Bruder irgendwo neben oder hinter ihm auf der Ladefläche des Transporters, auf dem er gelandet war. Vielleicht war es Kalashin oder Shruki, vielleicht jemand ganz anderes, Gent wusste es nicht, er sah nicht hin, aber gemeinsam mit allen anderen folgte er der Aufforderung: »Allahu Akbar! Allahu Akbar! Allahu Akbar!« Gott ist größer! Ratatatata!
Aber wie auch nicht, wenn es doch keinen anderen Gott außer Gott gibt?
Gent schloss die Augen, und alle Geräusche um ihm herum verschmolzen zu einem Stampfen, einem gewaltigen Mahlen, alles fügte sich ein, die peitschenden Schüsse, die schweren Motoren, die wabernden Gesänge, der Jubel, die Schreie, selbst das Zirpen der Grillen, sogar der Geruch von Öl und Feuer. Ihm wurde übel. Natürlich hatte er Angst.
1
Als Titus Brandt das unauffällige kleine Ladengeschäft in der Bergmannstraße verließ und dann von außen abschloss, bemerkte er nicht, dass gleich zwei Menschen ihn beobachteten. Sonst hätte er nicht vor sich hin gesummt. Und ganz sicher hätte er nicht in einem Anfall überreizter Albernheit versucht, den Schlüssel, den er gerade abgezogen hatte, mit einem Wurf aus der rechten Hand und über seine linke Schulter in den halb geöffneten Rucksack liegen zu lassen, der an den Schiebegriffen seines Rollstuhls angebracht war. Mit einem Klirren schlug der Schlüssel auf dem Asphalt auf. Titus seufzte, wendete den Rollstuhl und machte sich bereit, den Schlüssel aufzuklauben. Er war auf seiner linken Seite gelandet, sein Gehör hatte ihn nicht getäuscht. Doch bevor er den Schlüssel aufheben konnte, ergriff ihn eine andere Hand. Sie war groß, das war das Erste, was Titus wahrnahm. Dann sah er die dazugehörigen Hosenbeine, eine grau karierte Anzughose mit Aufschlag, und als Nächstes die geflochtenen schwarzen Lederschuhe. Titus hob den Blick und erkannte einen hochgewachsenen Mann von etwa fünfzig Jahren mit schütterem grauem Haar. Der Mann war stämmig, aber nicht dick. Sein Gesicht war rund, und seine Augen waren sehr klein und versteckten sich hinter den dicken Gläsern einer Hornbrille. Der Ausdruck des Mannes war ... ausdruckslos, dachte Titus. Nicht freundlich, nicht unfreundlich, nicht offen und nicht verschlossen, als hätte ein Kind ihn gemalt, und sein Gesicht bestünde aus ein paar Strichen und ansonsten aus unbemaltem Papier. Der Mann hielt ihm den Schlüssel hin. Neben dem Mann stand eine Frau, etwa im selben Alter.
»Hier«, sagte der Mann.
»Danke«, antwortete Titus.
Als Titus die Frau ansah, lächelte sie schüchtern.
»Wir wollten eigentlich reinkommen. Wir dachten, es sei noch geöffnet«, sagte der Mann.
Norddeutschland, tippte Titus.
»Kein Problem«, sagte er.
»Wir haben von Ihnen gehört«, sagte jetzt die Frau und lächelte erneut. Aber das Lächeln war schnell wieder verschwunden.
»Es gab einen Stau«, warf der Mann ein.
»Woher sind Sie denn gekommen?«, fragte Titus.
»Aus der Nähe von Rostock«, sagte der Mann. »Sie sind doch Titus Brandt, oder?«
Titus war eigentlich verabredet. Er trainierte für den Rollstuhlbike-Marathon im September, und in einer halben Stunde wollte er sich mit Ernst auf dem Tempelhofer Feld treffen, um ein paar Runden zu drehen und danach ein Bier zu trinken.
»Wir könnten um die Ecke gehen, da gibt es eine Tapas-Bar«, schlug er vor.
»Wir wollen Ihnen keine Umstände machen«, sagte die Frau. »Wir könnten bestimmt hier irgendwo ein Zimmer finden und morgen früh wiederkommen.«
Sie sah müde aus. Titus fragte sich, ob sie wohl enttäuscht war. Ob sie etwas anderes erwartet hatte als einen Mittdreißiger im Rollstuhl, der Schwierigkeiten hatte, seinen Schlüssel zu verstauen.
»Sohn oder Tochter?«, fragte er.
»Sohn«, sagte der Mann.
»Gent«, sagte die Frau im gleichen Moment. »Er heißt Gent.« »Lassen Sie mich kurz telefonieren«, sagte Titus.
Die Bar war ziemlich voll, aber sie hatten Glück und fanden einen Tisch. Den kurzen Weg hatten sie schweigend zurückgelegt. Auch jetzt, da sie saßen, hatte noch niemand ein Wort gesagt. Die Kellnerin brachte die Speisekarten. Der Mann und die Frau schlugen sie auf, legten sie aber gleich wieder auf den Tisch.
»Wo ist ihr Sohn jetzt, wissen Sie das?«, fragte Titus.
»Nicht genau«, sagte der Mann.
»In Syrien, glauben wir«, sagte die Frau. »Er ist vor ungefähr einem Jahr verschwunden.«
»Wo wir wohnen, gibt es niemanden, der sich so richtig mit so etwas auskennt«, sagte der Mann.
Die Kellnerin kehrte zurück, und Titus bestellte ein Glas Rioja und Schinken und Käse. Der Mann fragte, ob es Bier gäbe. Es gab welches. Die Frau bestellte ein Mineralwasser. Und dann, kurz entschlossen, auch einen Rioja.
»Entschuldigung, Herr Brandt, dass wir Ihnen so aufgelauert haben«, sagte sie, nachdem die Kellnerin verschwunden war. »Wir waren uns nicht sicher, ob man einen Termin machen muss. Und dann sind wir einfach losgefahren.«
Titus nickte. Er war froh, dass die Musik nicht allzu laut war.
»Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt«, sagte der Mann. »Sassenthin. Karl Sassenthin. Und das ist meine Frau.«
»Elisabeth Sassenthin«, sagte die Frau. »Freut mich sehr.« »Meinen Namen kennen Sie ja«, sagte Titus.
»Ja, das stimmt«, sagte Karl Sassenthin.
Titus saß an einer Seite des kleinen, quadratischen Holztisches, der Mann und die Frau saßen ihm gegenüber, eng an eng. Immerhin, dachte Titus. Er hatte Eltern getroffen, die einander nicht mehr ertragen konnten.
Elisabeth Sassenthin muss einmal eine sehr schöne Frau gewesen sein, dachte er. Ist sie immer noch. Braune, glatte Haare. Hohe Wangenknochen. Große, grüne Augen. Schlank. Karl Sassenthin hatte sich offenbar beim Rasieren am Morgen geschnitten. Ein winziger Schnitt am Kinn, ein dünner, senkrechter Strich verkrusteten Blutes. Er trug eine braune Cordjacke und umfasste sein Bierglas mit beiden Händen, die kräftigen Finger auf der Rückseite des Glases ineinander verschränkt.
»Seit einem Jahr ist er weg?«, fragte Titus.
»Ja«, sagte Elisabeth Sassenthin. »Zwei Jahre nachdem er den Islam angenommen hat. Er hat nicht mehr bei uns gelebt. Aber wir haben fast jede Woche telefoniert, uns oft gesehen. Und plötzlich war er fort. Von einem Tag auf den anderen.«
Den Islam angenommen, registrierte Titus. So wird er es gesagt haben. Sie verwendet seine Worte. »Keine Anzeichen, dass er ins Ausland wollte?«
»Nichts«, sagt der Mann. »Da war gar nichts. Ich meine, wir wussten, dass er, wie sagt man das ... dass er abgedriftet war, über nichts anderes mehr reden konnte. Aber es gab keine Ankündigung, keine Abschiedsbotschaft, nichts.«
»Außer, na ja, er war eine Woche vorher noch einmal bei uns. Er war auf dem Dachboden und kam mit einem Schlafsack wieder herunter. ›Wofür brauchst du das alte Ding denn?‹, habe ich ihn gefragt. ›Ach, ein Ausflug‹, hat er gesagt.«
»Elli, daraus konnte man doch nichts ableiten.«
»Ich weiß. Ich dachte nur, vielleicht ist es ja wichtig.«
Titus sah, dass sie kurz davor war zu weinen. Er war froh, dass die Kellnerin sein Essen brachte. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er, »aber ich habe heute Mittag nichts gegessen.«
»Herr Brandt«, sagte Karl Sassenthin, der ihn gar nicht gehört zu haben schien, »könnten Sie uns kurz erklären, wie das läuft? Also Ihre Arbeit? Wie funktioniert das?«
»Können Sie manchmal helfen?«, warf Elisabeth Sassenthin hinterher.
Titus, der gerade den Mund voll hatte, machte den beiden ein Zeichen mit dem Zeigefinger, um zu bedeuten, dass er gleich so weit sein würde.
»Ob ich helfen kann«, antwortete er schließlich, »hängt nicht von mir allein ab. Es hängt von Ihnen ab. Es hängt von Ihrem Sohn ab. Es hängt von Dritten ab, auf die wir keinen Einfluss haben. Es kann von den Sicherheitsbehörden abhängen. Ich kann Sie nur beraten. Ich kann Ihnen nichts versprechen.«
Titus wusste, dass es nicht half, Hoffnung zu schüren. »Haben Sie Kontakt zu Ihrem Sohn?«, fragte er stattdessen.
»Das ist es ja«, antwortete Elisabeth Sassenthin. »Gestern hat Gent sich gemeldet. Zum ersten Mal, seit er uns vor über elf Monaten eine SMS aus der Türkei geschickt hat, dass wir uns keine Sorgen machen sollen. Aber wir wissen nicht, was die Nachricht bedeutet.«
Drei Stunden später saß Titus Brandt in dem kleinen Garten vor seiner Wohnung in Friedrichshain an seinem Laptop und rauchte langsam die eine Zigarette, die er sich jeden Abend noch erlaubte. Eine Ligusterhecke schirmte seinen Garten nach vorne von der Bänschstraße und nach rechts vom Hauseingang ab. Auf der linken Seite begrenzte die gelbe Hauswand den Garten. Fast alle Häuser in der Bänschstraße waren gelb oder orange gestrichen, eigentlich alle, wenn er genauer darüber nachdachte, bis auf die rot geklinkerte Kirche natürlich. Das war nicht immer so gewesen. Mit den Ureinwohnern des Samariterkiezes konnte man kaum ein Bier trinken, ohne dass man vor Augen geführt bekam, wie es hier früher ausgesehen hatte, wahlweise vor der Wende, vor der großen Sanierungswelle oder vor der Gentrifizierung. Er selbst kannte die Bänschstraße nur in Gelb-Orange, seit er durch einen glücklichen Zufall die Wohnung gefunden hatte; vor sieben Jahren war das gewesen. Sie war etwas teuer, als er es sich eigentlich leisten konnte, weil sie für zwei Personen gedacht war. Dafür war sie behindertengerecht.
Den Garten mochte er besonders gern, auch wenn der Rasen braun und stumpf war und er die Pflanzen kaum pflegte, weil er davon nichts verstand. In dem Garten war er vor Blicken geschützt und bekam trotzdem mit, was um ihn herum geschah. So wie jetzt, als er von der gegenüberliegenden Straßenseite die spielenden Kinder hörte und von rechts, aus dem portugiesischen Café ein paar Schritte die Straße herunter, Gesprächsfetzen herüberwaberten.
Es war noch warm, auch wenn die Sonne schon vor einer Stunde untergegangen war. Der Bildschirm tauchte seine Hände in bläuliches Licht. Er hatte angefangen, einen Bericht über das Gespräch mit Elisabeth und Karl Sassenthin zu verfassen. Er betreute derzeit 23 Fälle. Das bedeutete 23 Familien, 23 verkorkste Lebensgeschichten, 23 junge Männer und junge Frauen, die nach Syrien oder in den Irak gezogen waren, kurz davor standen oder bereits zurückgekehrt waren. 23 Fälle, die ihn schon jetzt rund um die Uhr beschäftigten. Zwölf Mal hatte sein Handy geklingelt oder SMS-Nachrichten empfangen, während er mit den Sassenthins in der Tapas-Bar gesessen hatte. Und bevor er heute ins Bett ging, würde er nicht nur diesen Bericht zu Ende schreiben und einigen der anderen Eltern eine Antwort schicken, auf die sie ohne Zweifel schon warteten, sondern anschließend noch eine Stunde oder auch zwei Stunden damit verbringen, sich durch die im Laufe des Tages veröffentlichten Videos aus Syrien und dem Irak zu zwingen.
So sah sein Leben an den meisten Tagen aus, seit er vor fünf Jahren in der Beratungsstelle zu arbeiten begonnen hatte.
Anfangs waren sie zu zweit gewesen, nur er und Lotte. Das Büro in Kreuzberg gab es da noch nicht, bloß einen improvisierten Schreibtisch in Lottes Gästezimmer, den sie sich teilen mussten. Er hatte sich kurz nach Abschluss seines Studiums bei ihr beworben, das sich viel zu lange hingezogen hatte, weil er schon nach dem zweiten Semester nicht mehr gewusst hatte, warum er dabei war, Sozialarbeiter zu werden. Auch wenn alle anderen es logisch fanden, dass er Sozialarbeiter werden wollte. Oder vielleicht: Gerade weil alle anderen es logisch fanden. Seine Mutter zum Beispiel, die ihm das Studium vorgeschlagen hatte. Und ein paar Kommilitonen, die ihm allen Ernstes auf tausend verschiedene und immer noch verschwiemeltere Arten wissen ließen, dass sie ihn regelrecht beneideten, weil er ja aus eigener Erfahrung wisse, wie es sei, wenn man Unterstützung brauche.
Aber abbrechen wollte er das Studium auch nicht. Stattdessen bemerkte er, dass ein bestimmter Gedanke sich immer wieder in seinen Kopf schlich und jedes Mal ein wenig länger blieb. Ein rätselhafter Gedanke, den er selbst nicht ganz verstand: Wenn ich schon helfen muss, dann will ich Arschlöchern helfen!
Nazis zum Beispiel. Üblen Nazis. Solchen von der Sorte, die ihn in der Tram umgestoßen und »Ins Gas mit dir, du Missgeburt!« gerufen hatten.
Er sprach mit niemandem über diesen Gedanken. Aber eines Tages, kurz bevor die letzten Klausuren anstanden, klaubte er in der Mensa eine Broschüre auf. »Soziale Arbeit in der Stadt« oder irgend so etwas stand darauf. Darin war auch »Neuanfang« erwähnt, eine Beratungsstelle, die dabei half, Nazis auf dem Weg aus der Szene zu begleiten. Darunter stand Lottes E-Mail-Adresse.
»Nichts zu machen, Herr Brandt. Keine Stellen bei den Nazis, tut mir leid! Aber ich hätte eventuell trotzdem etwas für Sie«, hatte sie gesagt, als er ein paar Wochen später vor ihr saß. »Falls Sie Lust auf etwas ganz anderes haben!«
Dann hatte sie ihm von ihrem neuen Projekt erzählt. Davon, dass immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene aus Deutschland nach Syrien und in den Irak zogen, um sich Terrorgruppen anzuschließen. Und warum sie glaubte, dass dieselben Techniken, mit denen sie selbst jahrelang den Rechten beigestanden hatte, vielleicht auch bei den Dschihadisten funktionieren könnten. »Es geht auch bei denen ganz sicher nur, wenn sie es selbst wirklich wollen. Und es geht auch bei denen vermutlich am ehesten, wenn man die Familien einbezieht. Tja, das ist jedenfalls der Plan.«
Monatelang hatte sie Experten kontaktiert, Imame in sogenannten Problem-Moscheen besucht, schließlich auch Eltern gesucht und gefunden, deren Kinder zur ersten Rutsche deutscher Foreign Fighters gehört hatten, die schon Jahre zuvor nach Waziristan zu al-Qaida oder nach Somalia zu den Shabaab gezogen waren. Dann hatte sie ein Konzeptpapier geschrieben. Und tatsächlich erreicht, dass »Neuanfang« eine neue Sparte eröffnete: jetzt neu – Beratungsstelle Islamismus.
»Und jetzt geht es los, Herr Brandt. Und Sie könnte ich gerade noch so bezahlen. Wenn Sie genügsam sind.«
Einen Moment lang hatte er sie über die auf zwei Holzblöcken stehende Sperrholzplatte hinweg angesehen und kein Wort gesagt. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Nicht einmal, was er denken sollte.
»Eine Frau und ein Rollstuhlfahrer«, hatte Lotte schließlich noch trocken hinterhergeschoben. »Was soll da schon schiefgehen?«
Das war der Moment, in dem er sicher war, dass er Ja sagen würde.
Mittlerweile waren sie bei »Amal« zu fünft. Amal hieß Hoffnung auf Arabisch. Auch das war Lottes Idee gewesen. Geld war jetzt kein Problem mehr. Sie bekamen Geld vom Ministerium und vom Bundesamt, und es gab sogar Spenden. Dafür war die Zahl der Fälle eine Herausforderung. Sie kamen kaum noch hinterher: mit dem Papierkram und mit der Korrespondenz mit den Angehörigen. Vor allem aber mit dem Dabeisein, wenn die Eltern mit dem Sohn oder der Tochter in Rakka oder Mosul chatteten, damit sie den Eltern in Echtzeit Ratschläge geben konnten, wie sie am besten reagierten, was sie jetzt schreiben sollten, um sicherzustellen, dass sie aus lauter Angst und Sorge und Wut nicht den letzten zarten Draht zerschredderten, der ihre – wie hatte Karl Sassenthin es genannt? – abgedrifteten Kinder noch mit ihnen verband.
Dieser Draht war das Allerwichtigste.
Denn ab und zu, ganz selten, führte dieser Draht dazu, dass Murad oder Amira oder Thomas den Weg nach Hause fanden. Ohne sich die Hände und den Rest ihres Körpers und ihre Seelen mit Blut beschmiert zu haben.
Die Frage, ob er es mit Arschlöchern zu tun hatte, stellte er sich nicht mehr. Sie war unwichtig geworden. Er war gut in seinem Job. Und er war gerne gut in dem, was er tat.
[...]