Wechselwirkung

Leseprobe "Die fast 70 Jahre alte Geschichte der BRD zeigt: Wer eine Bundestagswahl gewinnt, hat seine politische Zukunft hinter sich. Gewonnene Wahlen sind Vorboten des politischen Niedergangs."
Wechselwirkung

Foto: Keystone/Getty Images

Im Herbst 2017 wählen die Deutschen wieder mal einen Bundestag. Sie entscheiden darüber, welche Abgeordneten dem Parlament in der nächsten, dann 19. Legislaturperiode angehören werden. Indirekt wählen sie auch die nächste Bundeskanzlerin oder den nächsten Bundeskanzler, denn sie oder er wird aus der Mitte der Parlamentarier bestimmt.

Tatsächlich wird bei dieser Wahl – wie überhaupt bei Bundes- tagswahlen seit 1949, mit einer Ausnahme – über gar nichts entschieden.

Bundestagswahlen sind nicht Motor der politischen Entwicklung, wie das Buch darlegen wird, sondern Zirkusvorstellungen von Politikern und Journalisten vor einem nächsten Wahltermin. Die fast siebzig Jahre alte Geschichte der Bundesrepublik zeigt: Wer in Deutschland eine Bundestagswahl gewinnt, hat seine politische Zukunft hinter sich. Gewonnene Wahlen, zumal triumphal gewonnene, sind Vorboten des politischen Niedergangs.

Mitte der fünfziger Jahre, etwa nach der Hälfte der zweiten Legislaturperiode, steht der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer im Zenit seiner politischen Macht und seines persönlichen Ansehens. Als Gründungskanzler hat er ziemlich viele Gleise gelegt, auch richtig gelegt, und mit der Rückholung der letzten Kriegsgefangenen einen medialen Coup gelandet. Mit Konrad Adenauer gewinnt die Union bei der Bundestagswahl am 15. September 1957 50,2 Prozent der Zweitstimmen – so viel wird später nie mehr eine Partei bei einer deutschen Bundestagswahl bekommen.

In der Nacht seines Triumphs beginnt auch schon Konrad Adenauers Kanzlerdämmerung. Ihm will nicht mehr viel gelingen. Herbert Wehner bezeichnet ihn als einen »Kanzler der Liquidation«. Konrad Adenauer, »der Alte«, wie er jetzt häufig genannt wird, bleibt zwar noch sechs Jahre im Amt, doch in dieser Zeit herrscht zum großen Teil politisches Siechtum. Die Fehler der letzten Adenauer-Jahre werfen einen Schatten auf die Leistungen der ersten. Nur weil Konrad Adenauer der erste aller Bundeskanzler ist, Nutznießer eines politischen Systems, das er selbst maßgeblich gestalten darf, kann er sich so lange halten.

Eine Kanzlerdämmerung ist eine Abendröte, wobei der Abend – siehe Konrad Adenauers Amtszeit – lange dauern kann. Auf einen solchen Abend folgt kein Morgen mehr. Alle Kanzlerschaften verlaufen nach diesem Gesetz, mit einer Ausnahme: Helmut Kohl erlebt dank der deutschen Vereinigung eine Morgenröte, auf die er schon nicht mehr hoffen konnte.

Auch Angela Merkel befindet sich im Stadium ihrer Kanzlerinnendämmerung, doch wird auch sie den Zeitpunkt für einen guten Abgang verpassen. Die Terroranschläge in Deutschland rufen Ängste hervor, sie steigern das kollektive Sicherheitsbedürfnis. Angela Merkel steht wie schon Konrad Adenauer für viel Erfahrung und genauso wie er für »Keine Experimente!«. Angst lähmt ein Volk und macht es vorsichtig. Angst schafft keinen Nährboden für eine Aufbruchs- oder gar Wechselstimmung vor der Bundestagswahl 2017.

Die Kanzlerdämmerung ist eine mal kürzere, mal längere Phase, in der eine Bundeskanzlerin oder ein Bundeskanzler den Zenit ihrer oder seiner Macht überschritten hat. Das Programm, für das die Regierungschefin oder der Regierungschef steht, ist abgearbeitet, die Liebe zwischen den Koalitionspartnern verflogen. Offener Streit und vermeidbare Fehler der Protagonisten kehren in zunehmend kürzeren Abständen wieder. Die Leitmedien prognostizieren das Ende der Regierungskoalition, Landtagswahlen gehen reihenweise verloren, weil die Deutschen traditionell auf Bundes- und Landesebene gegenläufig wählen (zumindest in den »swing states«). Und nicht zuletzt wagen sich immer mehr innerparteiliche Kritiker der Kanzlerpartei aus der Deckung.

Konrad Adenauers Nachfolger Ludwig Erhard erlebt keine Dämmerung, sein Sonnenuntergang ist geradezu ein Sonnensturz. Mit den Bundestagswahlen am 19. September 1965 feiert er einen persönlichen Triumph, die Union bleibt dank seiner Popularität auch nach sechzehn Jahren an der Macht. Doch schon wenige Monate später ist das eindrucksvolle Votum der Wähler nichts mehr wert. Nach eigenen Fehlern und einer kleinen Wirtschaftskrise, aber vor allem nach Kabalen seiner »Unionsfreunde«, tritt Ludwig Erhard am 30. November 1966 zurück. Schon am 1. Dezember wird mit Kurt Georg Kiesinger der dritte Unionsmann Bundeskanzler, diesmal im Regierungsbündnis aus Union und SPD. Ludwig Erhard brachte eine Legislaturperiode zu Ende und kommt in der nächsten nur wenige Meter weit.

Die Bedeutungslosigkeit deutscher Bundestagswahlen muss auch Kurt Georg Kiesinger erleben, denn der Kanzler, dessen Partei am 28. September 1969 die meisten Stimmen holt, verliert an diesem Abend sein Amt. Die SPD von Willy Brandt geht eine Koalition mit der FDP ein, die trotz herber Verluste zur Bundeskanzlermacherin, zum »Zünglein an der Waage«, wird. Die Regierungsbildung von Willy Brandt und dem FDP-Vorsitzenden Walter Scheel ist eine Konsequenz aus dem deutschen Wahlrecht, bei dem nicht automatisch der Kandidat mit den meisten Stimmen Regierungschef wird. Es ist eine demokratische Selbstverständlichkeit, dass Parteien Koalitionen eingehen, um Regierungen zu bilden. Aber eine Regierung ohne die stärkste Kraft im Bundestag spiegelt nur mittelbar den Willen der Wähler wider.

Kurt Georg Kiesingers Nachfolger, der Sozialdemokrat Willy Brandt, macht ebenfalls Bekanntschaft mit den Tücken des parlamentarischen Systems. Am 22. September 1972, mitten in der Legislaturperiode, stellt Willy Brandt im Deutschen Bundestag die Vertrauensfrage mit dem Ziel der Parlamentsauflösung. Die Bundesregierung verfügte anfangs über eine knappe Mehrheit von zwölf Stimmen, doch die FDP-Fraktion leidet an fortwährender Schwindsucht. Der Bundeskanzler führt, da seine Regierung keine Gesetze mehr zustande bringt, lange vor dem regulären Termin Neuwahlen herbei.

Am Wahlabend des 19. November 1972 ist Bundeskanzler Willy Brandt mutmaßlich ein glücklicher Mann. Mit ihm als Zugpferd kommt die SPD auf 45,8 Prozent der Zweitstimmen, ein historischer, nie mehr erreichter Rekord! Die SPD wird erstmals auch stärkste Fraktion. Zu was ein Wahltriumph führen kann, mag Willy Brandt ahnen, denn in dieser Nacht macht der »Stern«-Fotograf Thomas Höpker Bilder eines melancholisch dreinschauenden Manns. Gefühlte Sieger sehen anders aus.

Tatsächlich markiert der 19. November 1972 Tag eins von Willy Brandts Kanzlerdämmerung. Wegen einer aufgeschobenen Kehlkopfoperation kann er an den so wichtigen Koalitionsverhandlungen nicht teilnehmen. Hinterher versäumt er es, Personalentscheidungen, mit denen er nicht einverstanden ist, zu korrigieren. Schon Ludwig Erhards Rücktritt begann zu dämmern, nachdem er in den Koalitionsverhandlungen mit der FDP zu nachgiebig gewesen war.

Ein Wahltriumph beschert dem Sieger einen politischen Kredit, doch nur für kurze Zeit. Nach einem Jahr sind Wahlergebnisse in der Hauptstadt, bei Journalisten und im Volk nichts mehr wert. Willy Brandt könnte den Fehlstart seiner zweiten Regierung vergessen machen, doch er steckt in einem Dauer-Burnout, aus dem er nicht rechtzeitig herauskommt. Die geradezu religiöse Verehrung, die Willy Brandt von 1969 an widerfuhr, schlägt jetzt in Enttäuschung und Wut um. Die enttäuschten Verehrer akzeptieren nicht, dass sie sich getäuscht haben, der Zorn trifft den Verehrten, der ein Täuscher war!

Auf den schon angeschlagenen Kanzler beginnt die Hatz. Die sozialdemokratischen »Parteifreunde« sind darin besser als die Kohorten der Opposition, diese Erfahrung werden auch die sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Gerhard Schröder machen. Zwischen Willy Brandts Wahltriumph und seinem Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers am 6. Mai 1974, für den die Enttarnung eines DDR-Spions in seiner Nähe nur den Anlass bietet, liegen gerade einmal ein Jahr und sechs Monate.

Auf Willy Brandt folgt Helmut Schmidt, der noch nie als Spitzenkandidat einer Wahl, sei es einer Landtags-, sei es einer Bundestagswahl, angetreten ist. Nur dank des von Willy Brandt geerbten Stimmenpolsters und dank des energischen Starts von Helmut Schmidt kann sich die sozialliberale Koalition bei den Bundestagswahlen am 3. Oktober 1976 behaupten.

Keinen Wahltriumph, aber doch eine zweite Wiederwahl erzielt Helmut Schmidt bei den Bundestagswahlen am 5. Oktober 1980. Dieses Mal wartet auf die sozialliberale Koalition eine Legislaturperiode mit komfortabler parlamentarischer Mehrheit. Zwar haben Helmut Schmidts Sozialdemokraten nur wenig Stimmen hinzugewonnen (1976: 42,6 Prozent, 1980: 42,9 Prozent), aber der Koalitionspartner FDP kommt auf 10,6 Prozent der Zweitstimmen. Kein Zweifel, viele Deutsche gaben der FDP ihre Zweitstimme, »damit Schmidt Kanzler bleibt«, wie sogar die FDP auf ihre Wahlplakate geschrieben hatte. Doch schon am Wahlabend würde niemand Wetten darauf abschließen, dass die formal gestärkte Koalition weitere vier Jahre hält. Der Historiker Golo Mann hatte bereits ein halbes Jahr vor dem Wahltermin in einem Brief den kommenden Gang der Dinge vorhergesagt: Helmut Schmidt wird über den Widerstand in der eigenen Partei stürzen.

Die Deutschen erleben bald darauf die Agonie einer Koalition, der ein national und weltweit geachteter Politiker voransteht. Fast auf den Tag genau zwei Jahre nach den Wahlen von 1980, am 1. Oktober 1982, wird Helmut Kohl per konstruktivem Misstrauensvotum zum Nachfolger Helmut Schmidts gewählt. Die Wähler können am Fernsehschirm zuschauen.

Mit Blick auf die Regierungszeit von Helmut Kohl scheint es, als sei die These, der zufolge Bundestagswahlen ohne Bedeutung sind, widerlegt. Helmut Kohls parlamentarische Wahl zum Bundeskanzler wird in einer allgemeinen Wahl am 6. März 1983 eindrucksvoll bestätigt (48,8 Prozent der Zweitstimmen für die Union gegenüber 44,5 Prozent zweieinhalb Jahre zuvor). Der sechste Bundeskanzler kann mehrere Legislaturperioden lang eine Regierung aus Union und FDP bilden, wobei die Union jedes Mal stärkste Fraktion im Bundestag bleibt. Erst bei der Bundestagswahl am 27. September 1998 entziehen ihm die Deutschen sehr deutlich das Vertrauen (35,1 Prozent der Zweitstimmen für die Union gegenüber 41,4 Prozent vier Jahre zuvor). Doch der Verlauf von Helmut Kohls Kanzlerschaft ist wie schon erwähnt untypisch, ein Jahrhunderterereignis, die deutsche Vereinigung setzt den Rhythmus der deutschen Politik vorläufig aus.

Bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 holt Helmut Kohl für die Union 43,8 Prozent der Zweitstimmen und wird zu einer Art Konrad Adenauer für das frühere Gebiet der DDR. Die CDU kann auf Jahre hinaus die politischen Gleise in Ostdeutschland legen.

Auf den Triumph folgt rasch Ernüchterung, Helmut Kohl vermag die »blühenden Landschaften«, die er den Ostdeutschen versprochen hat, nicht herzuzaubern. Dass ein Zusammenkommen zweier so verschiedener Gesellschaften ein steiniger Weg ist, dürfte der Bundeskanzler gewusst haben, doch er sagt es jetzt nicht. Helmut Kohls beginnende Kanzlerdämmerung freut und beflügelt seinen Amtsvorgänger Helmut Schmidt, der in Büchern schreibt und in Interviews sagt, was »Herr Kohl« alles falsch macht. »Kohl bringt’s nicht!«, ruft er zum Beispiel im Gespräch mit »Stern«-Kollegen, die das Zitat auf die Titelseite hieven.

Helmut Kohls Kanzlerdämmerung dauert acht Jahre, länger als jede andere zuvor. Helmut Kohl überflügelt Konrad Adenauer, sein großes Vorbild, auch bei solch fragwürdigen Rekorden. Die Ära Kohl wird 1998 durch den ersten Machtwechsel in der Geschichte der Bundesrepublik beendet – ein Machtwechsel, der diese Bezeichnung tatsächlich verdient, denn keine Partei der neuen Koalition hat der Vorgängerregierung angehört. Dieser Machtwechsel setzt endlich einmal lupenrein den Willen der Wähler um – ein Erfolg nicht nur für die Protagonisten Gerhard Schröder und Joschka Fischer, sondern für die demokratische Kultur im Land überhaupt.

Die Euphorie der Linken über den Machtwechsel geht einher mit der Erleichterung über das Ende der Ära Kohl. Wähler und Gewählte erfasst eine Siegesstimmung, die an die Stimmung nach dem Wahltriumph von Willy Brandt 1972 erinnert. Die Hoffnungen und Erwartungen an die Regierungsmannschaft sind hoch. Doch auch Gerhard Schröder braucht kein Jahr, um die euphorische Stimmung des Anfangs verfliegen zu lassen. Der vorherige sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt regierte zwischen 1976 und 1980 mit knapper parlamentarischer Mehrheit (264 Sitze) weniger holprig als der neue sozialdemokratische Gerhard Schröder auf einem weichen Kissen (345 Sitze).

Dass Gerhard Schröder am Wahlabend des 22. September 2002 im Amt bleiben kann, ist politisches Glück. Der Amtsinhaber musste ernsthaft um seine Wiederwahl fürchten. Anders als der CSU-Kanzlerkandidat Franz Josef Strauß 1980, dem Helmut Kohl schlau den Vortritt ließ, gilt der CSU-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber, dem Angela Merkel aus politischer Schwäche den Vortritt ließ, als aussichtsreicher Herausforderer. Doch Gerhard Schröder macht als selbsternannter Deichgraf bei der Flut 2002 nicht nur ganz buchstäblich, sondern auch politisch »Boden gut«. Die 38,5 Prozent der SPD-Zweitstimmen (1998: 40,9) und die 8,6 Prozent von Bündnis 90/Die Grünen (1998: 6,7) reichen knapp zum Weitermachen – kein Triumph, aber ein Erfolg für den Amtsinhaber von der Art, wie ihn Helmut Schmidt 1980 erlebt hat.

Ob auch Gerhard Schröder an diesem Wahlabend dämmert, dass seine Kanzlerdämmerung begonnen hat? Mehr als jeder Bundeskanzler vor ihm und die Bundeskanzlerin nach ihm wird er in den folgenden Jahren politisch gedemütigt, etwa als er den Vorsitz seiner Partei niederlegen muss. Es ergeht ihm, wie es seinen beiden sozialdemokratischen Vorgängern im Amt erging. Jeden Tag zerbröselt seine Macht ein bisschen mehr, so lange, bis nichts mehr von ihr übrig ist. Gerhard Schröder kann die Legislaturperiode nicht zu Ende bringen. Als die SPD am 22. Mai 2005 im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen von 42,8 Prozent auf 37,1 Prozent absackt und die langjährige Regierungsmacht an die CDU verliert, schlägt Gerhard Schröder den Weg zu Neuwahlen ein. Es ist der Anfang vom Ende seiner politischen Karriere.

Am Abend der vorgezogenen Bundestagswahl vom 18. September 2005 kann sich die Kanzlerkandidatin der Union, Angela Merkel, rechnerisch als Gewinnerin fühlen und mit der Bildung einer Bundesregierung aus Union und SPD beginnen. Gefühlt gilt sie als Verliererin, denn in einem Pannenwahlkampf schmolz ihr Vorsprung bis auf einen kleinen Rest dahin. Die Union wiederholt mit 35,2 Prozent der Zweitstimmen ihr schlechtes Ergebnis von 1998 (2002: 35,1 Prozent), doch weil auch die SPD über vier Prozent im Vergleich zur letzten Bundestagswahl verliert (2002: 38,5 Prozent, 2005: 34,2 Prozent), ist die Union stärkste Partei und kann die Bundeskanzlerin stellen.

Bei der Bundestagswahl am 27. September 2009 kommt es, wie es nach vier Jahren Großer Koalition kommen muss: Die Erfolge der Regierung gehen mit der Union heim, während die SPD massiv Wählerstimmen verliert. Die Union verliert zwar auch (33,8 Prozent gegenüber 35,2 Prozent vier Jahre vorher), doch die SPD bleibt mit 23 Prozent um 11,2 Prozent unter ihrem Ergebnis von 2005. Die Wähler wollen, dass die FDP wieder mitregiert, und bescheren ihr mit 14,6 Prozent einen historischen Erfolg. Die 11,9 Prozent der Linken und die 10,7 Prozent der Grünen waren in den achtziger Jahren überwiegend noch der SPD zugefallen.

Nach der Wahl ist wieder einmal von einer Krise der Volksparteien die Rede. Soziologen dürfen erneut die Auflösung der alten Sozialmilieus seit den siebziger Jahren bemühen, Politikwissenschaftler führen die Unübersichtlichkeit von Politik in der Globalisierung ins Feld. Dass es auch am Personal und an der Performance der großen Parteien, von denen eine nicht mehr groß ist, liegen könnte, wird vielleicht hinter geschlossenen Türen diskutiert, bleibt aber ohne Folgen. Noch am Wahlabend erklärt der krachend gescheiterte Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier seinen Anspruch auf den Fraktionsvorsitz im Bundestag, er gibt mit anderen Worten die Botschaft aus: Wir ändern nichts! Noch schlimmer ist, dass ihm niemand in der Partei diesen Anspruch streitig macht.

Ihren persönlichen Wahltriumph erlebt Angela Merkel erst bei der Bundestagswahl am 22. September 2013, als die Union 41,5 Prozent der Zweitstimmen erhält, 7,7 Prozent mehr als 2009. Die FDP von Guido Westerwelle und Philipp Rösler scheitert an der Fünfprozenthürde, die SPD kann sich nur um gut zwei Prozentpunkte auf 25,7 Prozent verbessern. Das Ergebnis erweckt den Eindruck, das Konzept der Volkspartei sei noch nicht tot, doch der Schein trügt, denn es würdigt die Bundeskanzlerin als »Mutter« der Nation. Mit ihr am Ruder fühlen sich die Deutschen in Krisenzeiten sicher. Festigkeit im politischen Sturm hatte schon Konrad Adenauer verkörpert, heute macht Angela Merkel die Inge Meysel der deutschen Politik.

Auch dieser Nimbus währt nicht lang. Angela Merkel gibt noch die Mutter, als ihr die Wähler schon scharenweise davonlaufen. Für sie wie für die Noch-Volkspartei CDU kommt es faustdick. Die »Alternative für Deutschland« verschafft ihr ein vergleichbares strukturelles Problem wie Grüne und Linke der SPD. Die AfD ist Fleisch vom Fleische der Union. Es mindert den Aufstieg der neuen Partei nicht, dass sie wie einst die Grünen mehr Schlagzeilen über interne Richtungskämpfe als über ihr politisches Programm macht. Auch bei der AfD frisst, wie schon bei den Grünen, die Revolution ihre Kinder. (Bei den Linken ging es von Anfang an professioneller zu, weil die Gründer schon vieljährige Erfahrung in einem Parteiapparat gesammelt hatten.)

Die AfD hält unter der Klientel vor allem der Volksparteien reiche Ernte. Bei der jüngsten Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses am 18. September 2016 kommt die CDU auf einen historischen Tiefstand von 17,6 Prozent. Sie tröstet nur, dass die SPD mit 21,6 Prozent ebenfalls ihren tiefsten Stand erreicht. Die AfD kommt auf 14,2, die Linke auf 15,6, die Grünen auf 15,2, die FDP auf 6,7 Prozent. Ein politisches Kellerkind stellt künftig den Regierenden Bürgermeister in einer Stadt, die einmal von einem Ernst Reuter, einem Willy Brandt und einem Walter Momper regiert wurde, ebenso wie von einem Richard von Weizsäcker oder Eberhard Diepgen. Die Stadt erlebte charismatische und farblose Regierungschefs, aber immer Regierungschefs auf einer stabilen politischen Basis. Die deutsche Demokratie hat ein Problem, nicht nur in Berlin.

In den Monaten, da diese Zeilen geschrieben werden, ist die AfD aus der politischen Landschaft der Bundesrepublik nicht mehr wegzuverteufeln, ganz gleich, mit welchen Personen sie welche Politik macht. Die Millionenspenden der gerade einmal 25 000 Mitglieder setzen ein solides Fundament für das neue Parteienbauwerk. Die über 800 000 Flüchtlinge, die bis zum Jahresende 2015 in das Land kommen, bauen ungewollt daran mit. Sie werden als die »Merkel-Flüchtlinge« in die Geschichte eingehen – was für eine Panne der politischen Kommunikation, dass ein Ereignis mit komplexen globalen Ursprüngen auf das vermeintliche Gutdünken einer deutschen Bundeskanzlerin reduziert wird!

Wann begann Angela Merkels Kanzlerinnendämmerung? Man kann den Beginn auf den 5. September 2015 datieren, als Angela Merkel die Grenzen für Tausende auf der Balkanroute festsitzende Flüchtlinge öffnen lässt. Wie die »ewigen Kanzler« Konrad Adenauer und Helmut Kohl kommt auch sie an einen Punkt, wo ihr vieles vermeintlich nicht mehr gelingt. Das mag ihr in der Sache unrecht tun, aber die mediale Wahrnehmung ist in der Politik wichtiger als die Wirklichkeit. Schon bevor sich Angela Merkel zu einer weiteren Kandidatur bei der Bundestagswahl 2017 erklärt, gilt sie als eine Frau im Herbst ihres politischen Lebens. Die deutschen Leitmedien intonieren bereits den Abgesang. Die Erfahrung mit ihren Amtsvorgängern lehrt, dass sich ein Kanzlerwechsel noch lange hinziehen kann, aber die Dämmerung hat begonnen und sie bleibt.

Es gibt noch massivere Anzeichen für Angela Merkels Kanzlerinnendämmerung. Dass der politische Gegner und die Publizistik eine Kanzlerschaft kritisch begleiten, mit wachsender Dauer auch mit wachsendem Überdruss begleiten, gehört zum Business der Demokratie. Viele vermeintliche Meinungsverschiedenheiten in einer Partei sind auch ein Spiel mit verteilten Rollen, mit »good guys« und »bad guys«. Aber dass die CSU eine Bundeskanzlerin der CDU nicht zum Parteitag einlädt und der CSU-Vorsitzende einen Gegner von Angela Merkels Flüchtlingspolitik, den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, in München hofiert, bedeutet eine neue Dimension von Kritik.

Ist eine Bundeskanzlerin oder ein Bundeskanzler lange im Amt, schwindet automatisch die Disziplin in der Truppe. Aber in der Legislaturperiode, die auf Angela Merkels Wahltriumph folgt, beginnt auch schon die Demontage der Kanzlerin, vergleichbar mit der Demontage von Ludwig Erhard. Die politische Hatz ist eröffnet, nicht vom politischen Gegner, sondern von Kritikern in CSU und CDU. So hat es die Union, wenn sie um die Macht bangt, mit Bundeskanzlern (Ludwig Erhard) oder Kanzlerkandidaten (Rainer Barzel) schon immer gemacht.

Angela Merkels Kanzlerschaft kann mit der Wahl im September 2017 zu Ende sein oder in die Verlängerung gehen. Politik, Medien und Wähler wird im Fall einer Verlängerung weniger die Frage beschäftigen, welche Politik ihr dann viertes Kabinett macht, sondern wie lange die Chefin selbst im Amt bleiben und wen sie als Nachfolgerin oder Nachfolger vorschlagen will.

27.04.2017, 13:50

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