Erleben und Erzählen

Leseprobe "Der Zeitzeuge ist wie eine Wünschelrute, die mal hier, mal da ausschlägt, aber er ist auch das Salz in der Suppe des Historikers, weil seine Erinnerungen zu wertvoll sind, um unterschlagen zu werden."
Erleben und Erzählen

Foto: Philipp Guelland/AFP/Getty Images

Grün sticht Rot!

Reinhold Weber

Die Geschichte der Grünen, das ist aus der Sicht des amerikanischen Politologen Andrei S. Markovits der politische Erfolg der westlichen Nachkriegsgeschichte. Sie ist nichts weniger als die Abkehr von der großen kommunistischen Erzählung und das Erstarken einer umwelt- und frauenbewegten neuen Partei. Überall in der westlichen Welt hat es nach dem Zweiten Weltkrieg Umweltproteste gegeben, ob in den USA oder in Japan, in Frankreich oder England. Doch in keinem Land hat sich der grüne Gedanke so entwickelt und schließlich direkt auf das Zentrum der Regierungsmacht gezielt wie in Deutschland. Keine Angst vor der Macht! Der Titel dieses Buches ist gewollt doppeldeutig. Er steht für die frühe Phase der Grünen, in der ihr »Anti«-Reflex die Grundlage politischer Aktivität bildete. Die Grünen sind aus den Bürgerinitiativen und Neuen Sozialen Bewegungen der siebziger Jahre heraus entstanden, als Protestbewegung gegen staatliches Handeln im Zeichen des ungebremsten Fortschrittsoptimismus und Machbarkeitswahns. Sie sind als Affront gegen die Wirtschaftswundergeneration entstanden und passten damit in manch kleine Revolution im eigenen Elternhaus. Einer jungen, werteorientierten Generation ging es um Protest und Provokation, um Themen, die in der klassischen Nachkriegsgeneration unhinterfragt geblieben waren: Umwelt, Frieden, Geschlechtergerechtigkeit, globale Verantwortung. Es ging darum, keine Angst vor der Macht zu haben, kreativ und gewaltfrei Protest zu äußern und Alternativen zu leben.

Der Titel des Buches steht aber auch für ein zentrales Merkmal der baden-württembergischen Grünen. Keine Angst vor der Macht! In der Tat, so kennt man sie, die Südwest-Grünen, die immer ein etwas anderer Landesverband im Reigen der deutschen Alternativen waren. Die radikalsten Auswüchse der frühen Jahre der Grünen waren hier milder und heilten früher aus als anderswo. Früh schon hatte sich in weiten Teilen der Landespartei die Erkenntnis durchgesetzt, dass man Wirtschaft und Ökologie sinnvoll miteinander verbinden müsse, dass Finanz- und Sozialpolitik gesellschaftsrelevant sind, dass die CDU kein Teufelszeug ist, und vor allem, dass man auf der Klaviatur der parlamentarischen Demokratie spielen muss, wenn man die eigenen Anliegen voranbringen will. Die parlamentarischen Spielregeln wurden von den Südwest-Grünen von Anfang an anerkannt, die parteipolitische Pubertätsphase der Fundamentalopposition wurde gewissermaßen übersprungen. Die im Bundesvergleich frühe Ausbildung halbwegs professioneller Parteistrukturen und generell die frühe realpolitische und pragmatische Ausrichtung stehen für den Gestaltungs- und Kooperationswillen der Grünen im »Ländle«, denen es – zumindest in weiten Teilen der Partei – ein Anliegen war, auch aus der Opposition heraus konstruktive Politik zu machen. Wie sagte doch Rezzo Schlauch schon in einem Zeitungsinterview im Dezember 1984? Für grüne Politik müsse man eben auch bereit sein, »Kröten zu schlucken« und »nichts von vornherein zu tabuisieren«. Keine Angst also auch davor, sich im demokratischen Wechselspiel von Regierung und Opposition, von Mehrheit, Minderheit und Kompromiss an der Macht zu beteiligen und Politik zu gestalten. Insofern haben die Grünen die baden-württembergische Landespolitik geprägt, verlief die politische Konfliktlinie im Land oftmals eher zwischen CDU und Grünen als zwischen CDU und SPD. Die Grünen im Land haben von Anfang an Themen gesetzt, die politische Agenda gestaltet und die politischen Kontrahenten zur Reaktion gezwungen.

Und ganz plötzlich, im Jahr 2011, als die Spitzenpolitiker der Landesgrünen schon Druckstellen vom langen Sitzen auf der Oppositionsbank zu haben schienen, waren sie nach der Landtagswahl im März 2011 dort, wo sie immer schon hinwollten: an der Macht. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik waren die Grünen nicht nur als Juniorpartner an einer Regierung beteiligt, sondern stellten mit Winfried Kretschmann den Regierungschef. War das der Durchbruch der Grünen zur dritten Volkspartei in Deutschland, wie manche Politikexperten meinten, oder nur ein Betriebsunfall in der 58 Jahre währenden Dominanz der CDU in Baden-Württemberg? Der »schwarze Donnerstag« war gerade einmal ein halbes Jahr her. An diesem Tag waren mehr als 100 Demonstranten gegen das milliardenschwere Bahninfrastrukturprojekt »Stuttgart 21« im Stuttgarter Schlossgarten von Wasserwerfern verletzt worden, vier davon schwer. Bei »Stuttgart 21« ging und geht es ja nicht nur um den Protest gegen ein höchst umstrittenes Großprojekt, sondern im Kern um Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie – um ein urgrünes Thema also. Und es ging immer auch um die Unzufriedenheit mit der CDU-geführten Landesregierung, der Arroganz und Abgehobenheit vorgeworfen wurde. Ausgerechnet die Partei, die ähnlich wie die CSU in Bayern als »Baden-Württemberg-Partei« galt, weil Wohl und Wehe des Landes über Jahrzehnte hinweg mit dem der CDU verknüpft schien, hatte scheinbar den Draht zur Bevölkerung verloren.

Dann war da noch der »Mappus-Faktor«. In seiner gerade einmal 14 Monate währenden Amtszeit war es dem CDU-Ministerpräsidenten nicht gelungen, sich zum Landesvater zu mausern. Von allen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg hatte er die niedrigsten Zustimmungswerte. Dabei ist es doch eine Binsenweisheit: Der Ministerpräsident ist in der Landespolitik das größte Pfund, mit dem eine Partei wuchern kann. Nur dieser tritt aus dem medialen Schatten heraus, in dem sich Landespolitik oftmals befindet. Das allerdings war bei den Grünen zur gleichen Zeit anders. Ihr Spitzenkandidat verkörperte perfekt den Markenkern der Partei: Winfried Kretschmann, grünes »Urgestein«, Mitbegründer der Partei und seit einigen Jahren Fraktionsvorsitzender im baden-württembergischen Landtag. Über all die Jahre hinweg war er einfach der geblieben, der er immer schon war. Bei der Bevölkerung kam (und kommt) er als authentisch, verlässlich, bodenständig und erfahren an. Er gilt als »Lichtgestalt« mit Sympathiewerten wie nur wenige »Landesväter« vor ihm.

Zu dieser personalpolitischen Konstellation kam noch die Nuklearkatastrophe von Fukushima hinzu, die am 11. März 2011, gut 14 Tage vor der Landtagswahl, ihren verheerenden Lauf nahm. Die Auswirkungen des Super-GAU auf die Baden-Württemberg-Wahl waren offensichtlich: Während es für CDU-Wähler genügend Gründe gab, der Wahlurne fernzubleiben, mobilisierte die Unfallserie in dem japanischen Kernkraftwerk die Grünen-Wähler enorm. Die Wahl wurde zur Abstimmung über den Atomausstieg und die Energiewende. Auch hier war ein Markenkern der Grünen getroffen.

An diesem 27. März 2011 spielten also mehrere Themen den Grünen direkt in die Karten – eine besondere Konstellation! Nun wurde mit Winfried Kretschmann der erste grüne Ministerpräsident in Deutschland gewählt – und das in einem Regierungsbündnis, in dem die altehrwürdige SPD mit einem historischen Tief von gerade einmal 23,1 Prozent den Juniorpartner geben würde.

Mit diesem Wahlsieg schien der »grüne Weg durch schwarzes Land« an seinem Ziel angekommen. Der Titel eines Buches, das die baden-württembergischen Grünen zu ihrem zehnjährigen Bestehen 1989 veröffentlicht hatten, scheint wie kein anderer Spruch geeignet, den Wandel von der einstigen Protestpartei zur Regierungspartei zu charakterisieren. Eine ganze Reihe historischer Traditionslinien liegt dabei offen auf der Hand: Die Grünen in Baden-Württemberg sind aus der Umwelt- und Anti-Atomkraft-Bewegung entstanden. Der Protest gegen das im südbadischen Wyhl geplante AKW Mitte der siebziger Jahre war in seiner Symbolkraft ein besonders starker Gründungsimpetus der Partei. Noch heute gilt Wyhl als hoch aufgeladener »Erinnerungsort« für die Landes-Grünen. Und nun, gut 25 Jahre danach, hatte die Atomdebatte, wenn auch nicht allein, die Grünen an die Regierung gebracht. Dabei gibt es einige baden-württembergische Besonderheiten: Schon der Protest in Wyhl hatte gezeigt, dass das Geheimnis des Erfolgs im Zusammenwirken von kleinstädtisch-ländlichem und städtisch-universitärem Milieu lag: Winzer und Fischer vor Ort zusammen mit Studenten und Akademikern aus dem nahen Freiburg. Sei es ein strenger Katholizismus oder der alt-württembergische Pietismus mit seiner Tradition der sozialen Kontrolle, sei es das Tüfteln an unorthodoxen Lösungen oder einfach der grün-alternative »Eigensinn« – der mentale Mix, dem die Grünen entsprungen waren, passte zu ihnen. Oder um es praxisnah zu formulieren: Wer jede Woche zum Besen greift und Kehrwoche macht, dem ist auch klarzumachen, dass man die Umwelt sauber halten muss.

Gewiss, eine Volkspartei im klassischen Sinne sind die Grünen nicht, eher eine Volkspartei der Akademiker und Dienstleister. Das hat auch die Wahl 2011 gezeigt: Der typische Grünen-Wähler ist Beamter oder Angestellter im Dienstleistungssektor, überdurchschnittlich gut gebildet und verdient auch überdurchschnittlich gut, so dass manche schon länger unken, die Grünen übernähmen mehr und mehr das Profil der FDP. Die Zukunft wird es zeigen, ob die Grünen es schaffen, über ihr engeres Stammwählermilieu hinaus dauerhaft in der breiten städtischen und ländlichen Bevölkerung Fuß zu fassen.

Dieses Buch fragt fast vierzig Jahre nach ihrer Gründung, wo die Ökopartei herkommt. Wo liegen politisch, regional und auch der Mentalität nach ihre Wurzeln? Es fragt weiterhin: Welche Entwicklungen hat es auf dem langen Weg gegeben von einer Protest- und Bewegungspartei hin zu einer Programm- und Funktionspartei, nicht zuletzt im Hinblick auf das spannungsreiche Verhältnis der baden-württembergischen Grünen zu den nord- und westdeutschen Landesverbänden und zur Bundespartei? Welche Häutungen, Brüche und Stolpersteine hat es gegeben? Darüber hinaus geht es aber auch um Inhalte und Köpfe einer Partei, die wie keine andere das bis weit in die siebziger Jahre hinein eingefrorene Zweieinhalbparteiensystem (Union, SPD, FDP) der »alten« Bundesrepublik verändert hat.

Im Rückblick geht es auch darum, bestimmte Klischees zu hinterfragen. Auch wenn die Partei im Südwesten von Anfang an pragmatisch ausgerichtet war, gilt doch, dass ein Realo-Durchmarsch keineswegs selbstverständlich war. Vielmehr waren auch in Baden-Württemberg die innerparteilichen Flügelkämpfe lange virulent. Die innergrüne Machtbalance stand des Öfteren auf Messers Schneide. Selbst die Realo-Urgesteine wie Winfried Kretschmann, Fritz Kuhn oder Rezzo Schlauch, die später die Schalthebel der Macht bedienen sollten, waren nicht selten kurz davor, die Flinte ins Korn zu werfen und den Grünen den Rücken zuzukehren.

»Geschichte, die noch qualmt ...«

Von seiner Anlage her ist dieses Buch ein Experiment in der Rubrik »Wissenschaftler trifft Zeitzeuge«. Auf der einen Seite der Zeithistoriker, der um Objektivität bemüht ist und einzelne Sachverhalte in größere Zusammenhänge stellen will, Gegenwartsbezug inklusive. Auf der anderen Seite der Zeitzeuge, der gemeinhin als der größte Feind des Historikers gilt, weil er sich seine (Lebens-)Geschichte zurechtbiegt und sich nicht immer richtig erinnern kann (oder will). Der Zeitzeuge ist wie eine Wünschelrute, die mal hier, mal da ausschlägt, aber er ist auch das Salz in der Suppe des Historikers, weil seine Erinnerungen zu wertvoll sind, um unterschlagen zu werden. Er kann Anekdotisches und Atmosphärisches liefern, und beides ist in der Politik nicht zu unterschätzen. Hinzu kommt der Leser. Für ihn geht es um »die Jahre, die ihr kennt«, wie der Schriftsteller Peter Rühmkorf eines seiner Bücher betitelt hat. Es sind die Jahre, die man selbst erlebt hat, in den Worten der Historikerin Barbara Tuchman »die Geschichte, die noch qualmt«. Viele der Konflikte und Auseinandersetzungen unter Zeitgenossen wirken nach. Sie haben Spuren hinterlassen und sind teilweise sogar noch Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen. Das verspricht Spannung. Und in diesem Spannungsfeld soll der Zeithistoriker Orientierung geben.

Die Geschichte der baden-württembergischen Grünen ist ohne den zeithistorischen Kontext nicht zu verstehen. Erst vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Polarisierungen und des Wertewandels der siebziger Jahre, der Großkonflikte der achtziger Jahre oder der Entstehung eines alternativen Milieus in der Bundesrepublik sowie nicht zuletzt vor der Folie der globalen Herausforderungen der neunziger Jahre wird diese Parteigeschichte plastisch und verständlich. Einen lebhaften Kontrast bilden dagegen die persönlichen und auch politisch pointierten Stellungnahmen von Rezzo Schlauch, einem der markantesten Grünen aus Baden-Württemberg, sowie die Interviews mit Marieluise Beck, Erhard Eppler, Wolf-Dieter Hasenclever, Fritz Kuhn, Cem Özdemir und Erwin Teufel – allesamt parteipolitische Wegbegleiter oder politische Kontrahenten der Grünen. Sie geben dem Ganzen Frische und Authentizität – Zeitzeugen halt.

15.10.2015, 13:41

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