Einleitung
Wir wollen mit unserem Buch der Frage nachgehen, wie man die besten Elemente der Regierungsformen in Ost und West, die sich über Jahrhunderte unter ganz unterschiedlichen historischen und kulturellen Bedingungen entwickelt haben, nutzen könnte, um die gemeinsamen Herausforderungen zu bewältigen, die sich uns durch die Globalisierung stellen.
Wir konzentrieren uns dabei auf China und die USA, nicht als wortwörtliche Alternativen, sondern als Metaphern für die Kompromisse, die man in Erwägung ziehen muss, wenn man ein Verfassungssystem entwickeln will, das typische Elemente beider Vorlagen umfasst – also einerseits die Leitung durch meritokratische Eliten und deren langfristige Perspektive und andererseits die Herrschaft des Volkes in Form einer Demokratie.
Im ersten Kapitel »Die Globalisierung 2.0 und die Herausforderungen für eine gute Regierung« vergleichen wir die geopolitischen und geozivilisatorischen Perspektiven von West und Ost angesichts des derzeitigen Wandels, bei dem sich aus einer Globalisierung unter Führung der USA eine wechselseitige Abhängigkeit multipler Identitäten entwickelt. Wir führen außerdem das Konzept der »intelligenten Regierung« als einen Lösungsansatz für den politischen und kulturellen Umbruch ein, der Teil dieser globalen Verlagerung ist. Wir argumentieren, dass eine gute Regierung Macht dezentralisieren und die Bürger auf sinnvolle Weise beteiligen muss, aber gleichzeitig die Übertragung von Befugnissen (durch die Verteilung von Entscheidungsgewalt) auf Institutionen legitimieren sollte, die in der Lage sind, die systemischen Verbindungen der Integration zu bewältigen.
In Kapitel 2, »Die amerikanische Konsumentendemokratie im Vergleich zum modernen chinesischen Mandarinsystem«, analysieren wir die aktuellen Stärken und Schwächen beider Systeme.
In Kapitel 3, »Der liberale demokratische Konstitutionalismus und die Meritokratie: Mögliche Mischformen«, lassen wir die Debatten über die Vorteile einer politischen Meritokratie im Vergleich zur Wahldemokratie noch einmal aufleben und gehen dabei auch auf die Ursprünge der chinesischen Beamtenprüfungen und die Überlegungen der amerikanischen Gründerväter zu den Fallstricken einer direkten Demokratie ein.
Wir zeigen Verbindungen zwischen der antiken griechischen Philosophie, der Aufklärung und den konfuzianischen Grundsätzen und überlegen, welche Bausteine man für eine Mischverfassung wählen könnte, bei der die Regierenden aufgrund ihrer Verdienste ausgewählt, aber durch demokratische Wahlen kontrolliert werden.
In Kapitel 4 stellen wir diese Diskussionen dann in den Kontext der aktuellen Herausforderungen und Chancen im 21. Jahrhundert – soziale Netzwerke, die Entstehung von Megastädten und die globale Verteilung des Produktionsprozesses –, auf die alle Regierungssysteme reagieren müssen.
Unter Berücksichtigung dieser Thesen bietet Kapitel 5 »Intelligent regieren: Grundsätze und eine Vorlage für ein Regierungssystem« Überlegungen und Gedankenexperimente zu einem Verfassungsentwurf, der einen Mittelweg zwischen Ost und West aufzeigt – keine einheitliche und allgemeingültige Schablone für alle, sondern einen Idealvorschlag, dessen Grundsätze den konkreten Gegebenheiten angepasst werden können.
In den Kapiteln 6, 7 und 8 berichten wir von unseren praktischen Bemühungen, die Prinzipien einer intelligenten Regierung auf ganz unterschiedliche Verhältnisse zu übertragen, von Kalifornien über die G20 bis zu Europa.
Kapitel 9 stellt unsere Diskussion in einen möglichst breiten historischen Kontext, in dem wir annehmen, dass es zur Entstehung der ersten wirklich globalen Zivilisation kommen könnte – wenn wir verstehen, wie wir unsere verschiedenen Betriebssysteme aufeinander abstimmen. Der Titel »Das Überleben der Klügsten« sagt alles.
Das Buch berichtet von laufenden, sich verändernden Projekten. Der Leser kann sich über die Aktivitäten des Berggruen Institute on Governance daher informieren unter: http://berggruen.org.
Teil I
Globalisierung und Regierung
Kapitel 1
Die Globalisierung 2.0 und die Herausforderungen für eine gute Regierung
Einleitung
»Osten ist Osten und Westen ist Westen« heißt es in Rudyard Kiplings Gedicht, doch heute sind die beiden miteinander verflochten.
Die gegensätzlichen Merkmale beider Zivilisationsräume sind allgemein bekannt: Autorität versus Freiheit, Gemeinschaft statt Individuum, der Kreislauf der Weltalter im Gegensatz zum historischen Fortschritt, repräsentative Demokratie anstelle der Herrschaft einer Meritokratie wie dies in China der Fall ist. Andererseits weiß man auch, dass China mittlerweile die Fabrik der Welt und der größte Gläubiger der Vereinigten Staaten ist.
In unserem Buch befassen wir uns mit den beiden Räumen, über die Kipling schrieb, sie würden sich »niemals treffen«, in diesem neuen historischen Kontext, in dem China und der Westen so eng aneinander gebunden sind, aber dennoch so verschieden bleiben.
Heute, da der Westen seine Jahrhunderte währende Dominanz verliert und das Reich der Mitte wieder in der Weltgeschichte Fuß fasst, müssen wir das sich verändernde Gefüge nicht nur aus westlicher, sondern auch aus östlicher Sicht betrachten.
Überspitzt formuliert neigt man im modernen westlichen Denken dazu, unvereinbare Gegensätze zu sehen, die sich nur über die Dominanz des einen über das andere auflösen. In der Tradition Hegels1 wählte auch Francis Fukuyama diesen Ansatz, als er nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Triumph der liberalen Demokratie über andere Regierungsformen das »Ende der Geschichte« postulierte. Im geopolitischen Denken des Westens werden Territorien entweder gewonnen oder verloren.
Im östlichen Denken sieht man dagegen einander ergänzende Aspekte eines Ganzen – im taoistischen Sprachgebrauch Yin und Yang –, die ausgehend von einer pragmatischen Grundhaltung und unter Beachtung der sich wandelnden Bedingungen kontinuierlich ausbalanciert werden müssen. Die Geschichte hat kein Ende. Die Zyklen setzen sich fort; das Verhältnis von Freiheit und Autorität oder des Einzelnen und der Gemeinschaft findet immer wieder zu einem neuen Gleichgewicht. Im »geozivilisatorischen« Denken des Ostens kann das Unvereinbare nebeneinander bestehen.
Wenn George Yeo, der ehemalige Außenminister Singapurs und einer der wichtigsten politischen Vordenker und Pragmatiker Asiens, davon spricht, dass »Tao viel tiefgründiger als Hegel« sei, spielt er auf diesen Unterschied in der östlichen und westlichen Philosophie an. Unser Buch übernimmt Yeos Haltung und befasst sich mit den gemeinsamen Herausforderungen für die Regierungsführung, die Ost und West aufgrund ihrer vielfältigen und komplexen wechselseitigen Abhängigkeiten meistern müssen.
Wir folgen dem pragmatischen, nicht von Ideologie geprägten östlichen Ansatz, weil wir glauben, dass wir voneinander lernen können. Die Frage lautet nicht, ob sich die Herrschaft einer Meritokratie, die in Chinas »Kultur der Institutionen« wurzelt, letztendlich gegenüber der Demokratie westlichen Stils durchsetzen wird oder umgekehrt. Wir überlegen vielmehr, ob eine ausgewogene Kombination aus Meritokratie und Demokratie, Autorität und Freiheit, Gemeinschaft und Individuum die Grundlage eines soliden Staatswesens und einer intelligenten Regierungsform für das 21. Jahrhundert bilden kann. Tatsächlich stellen wir uns die Frage, ob sich hier nicht sogar die Möglichkeit eines neuen »Mittelwegs« aufzeigt.
Ist Demokratie selbstkorrigierend?
Im Westen herrscht die weit verbreitete und auch nicht unbedingt falsche Ansicht, dass China mit seinem modernen Mandarinsystem und seiner offiziell kommunistischen Staatsform zwar beeindruckende Leistungen erbracht hat, wie etwa Hunderte Millionen Menschen in nur drei Jahrzehnten aus der Armut zu führen, aber nicht selbstkorrigierend und damit auch nicht zukunftsfähig ist. Die »rote Dynastie« muss ihren autokratischen Griff lockern und eine freiere Meinungsäußerung und demokratischere Mechanismen für einen öffentlichen Diskurs zulassen und für Rechenschaftspflicht in öffentlichen Ämtern sorgen, sonst droht ihr der politische Niedergang – in Form einer immer stärker um sich greifenden Korruption, willkürlichen Machtmissbrauchs und Stagnation –, wie ihn bereits vorangegangene Dynastien in der jahrtausendealten Geschichte Chinas erleben mussten.
Unserer möglicherweise überraschenden Beobachtung nach besitzt die westliche Demokratie, wie wir am Beispiel der Finanzmärkte gesehen haben, kein größeres Potenzial zur Selbstkorrektur als das chinesische System. Wie die Volksrepublik steuert auch die Demokratie mit ihrem Prinzip der Wahlgleichheit, die eingebettet ist in eine Konsumkultur der sofortigen Befriedigung, auf einen politischen Niedergang zu, es sei denn, sie schafft es, sich zu reformieren. Immerhin hat der demokratische Westen die Chance, aus Chinas Erfahrungen mit einem meritokratischen System zu lernen und kompetente Institutionen einzurichten, die sich sowohl Langfristigkeit als auch das Allgemeinwohl zum Ziel setzen. Wir werden darlegen, dass die Wiederherstellung des Gleichgewichts in jedem System eine Justierung des politischen Rahmens und die Schaffung einer Struktur erfordert, die eine kluge Demokratie mit einer rechenschaftspflichtigen Meritokratie kombiniert.
Governance
Bei »Governance« geht es um die Frage, wie die kulturellen Gepflogenheiten, politischen Einrichtungen und das Wirtschaftssystem einer Gesellschaft so aufeinander abgestimmt werden, dass sie den Menschen das erwünschte gute Leben bieten. Dementsprechend ist eine gute Regierung (»good governance«) gegeben, wenn diese Strukturen einander in einem ausgewogenen Verhältnis ergänzen und effektive und nachhaltige Resultate zum Wohle aller hervorbringen. Bei einer schlechten Regierungsführung (»bad governance«) haben sich die zugrundeliegenden Bedingungen so verändert, dass einst effektive Praktiken nicht mehr funktionieren, oder der politische Niedergang setzt ein, weil Sonderinteressen immer mehr Bedeutung erlangen – oder beides zusammen. Schulden und Defizite sind untragbar, Kartelle rauben der Wirtschaft die Kraft, die Korruption zerstört das Vertrauen, die soziale Mobilität gerät ins Stocken und die Ungleichheit wächst. Der bestehende Konsens verliert seine Legitimation. Der Verfall setzt ein.
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