Anmerkung des Verfassers
Nach einem halben Leben im Gefängnis, mit kurzen Unterbrechungen, wurde Willie Sutton an Weihnachten 1969 endgültig aus der Attica Correctional Facility entlassen. Sein plötzliches Erscheinen löste ein Medienspektakel aus. Zeitungen, Magazine, Fernsehsender, Talkshows – alle wollten ein Interview mit dem am schwersten zu fassenden und erfolgreichsten Bankräuber in der amerikanischen Geschichte. Sutton gewährte nur ein Interview. Er verbrachte den gesamten nächsten Tag in der Gesellschaft eines Zeitungsreporters und eines Fotografen und fuhr mit ihnen durch New York, um die Schauplätze seiner berühmtesten Raubüberfälle und anderer interessanter Ereignisse in seinem ungewöhnlichen Leben zu besuchen. Der daraus entstandene Artikel war jedoch seltsam oberflächlich, enthielt mehrere Fehler – oder Lügen – und wenig Neues. Leider weilen Sutton, der Reporter und der Fotograf nicht mehr unter uns, weshalb das, was sich zwischen ihnen an jenem Weihnachten abgespielt hat, und das, was Sutton in den vorangegangenen achtundsechzig Jahren widerfahren ist, reine Vermutung bleibt. Dieses Buch ist meine Vermutung. Und zugleich mein Wunsch.
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Eins
Er schreibt gerade, als sie ihn holen kommen. Er sitzt an seinem Metallschreibtisch, gebeugt über einen gelben Notizblock, spricht mit sich und mit ihr – wie immer mit ihr. Deshalb merkt er nicht, dass sie an der Tür stehen. Bis sie mit ihren Stöcken an den Gitterstäben rasseln. Er blickt auf und rückt seine große verkratzte Brille mit dem oft geklebten Steg zurecht. Zwei Wärter stehen nebeneinander da – der linke dick, teigig und blass, wie aus Schmalz gemacht, der rechte groß und schlank, mit einem pfenniggroßen Leberfleck auf der rechten Wange. Linker Wärter zieht seinen Hosenbund hoch.
Auf die Füße, Sutton. Die Verwaltung will dich sprechen.
Sutton steht auf. Rechter Wärter zeigt mit dem Schlagstock auf ihn.
Was zum! Du heulst ja, Sutton.
Nein, Sir.
Lüg mich nicht an, Sutton. Ich seh, dass du geheult hast.
Sutton fasst sich an die Wange. Seine Finger werden nass. Mir war nicht bewusst, dass ich heule, Sir.
Rechter Wärter wedelt mit dem Schlagstock in Richtung Notizblock. Was ist das?
Nichts, Sir.
Er hat dich gefragt, was das ist, sagt Linker Wärter. Sutton merkt, wie sein schlimmes Bein nachgibt, und beißt vor Schmerz die Zähne zusammen. Mein Roman, Sir.
Sie sehen sich in seiner mit Büchern gefüllten Zelle um. Er folgt ihrem Blick. Es ist nie gut, wenn die Wärter sich in deiner Zelle umsehen. Wenn sie wollen, finden sie immer was. Sie schauen erbost auf die Bücher am Boden, die Bücher auf dem Metallschrank, die Bücher am Kaltwasserbecken. Suttons Zelle ist die einzige in Attica, in der Ausgaben von Dante, Platon, Shakespeare und Freud stehen. Nein, seinen Freud haben sie konfisziert. Häftlinge dürfen keine Psychologiebücher besitzen. Der Direktor glaubt, sie könnten sich gegenseitig hypnotisieren. Rechter Wärter grinst. Er stupst seinen Kollegen an – zieh dir das rein. Sein Roman! Wovon handelt er denn?
Ach, Sie wissen schon. Vom Leben, Sir.
Was zum Teufel weiß ein alter Knacki wie du schon vom Leben?
Sutton zuckt die Schultern. Sie haben recht, Sir.
Aber was weiß überhaupt irgendjemand davon? Es spricht sich schnell herum. Gegen Mittag sind bereits zehn, zwölf Zeitungsreporter da und stehen dichtgedrängt am Hauptportal, stampfen mit den Füßen, pusten sich auf die Finger. Einer sagt, er habe eben gehört, es gebe Schnee. Und nicht zu knapp. Mindestens zwanzig Zentimeter. Sie stöhnen alle. Es ist zu kalt zum Schneien, sagt der Veteran in der Gruppe, ein alter Haudegen einer Presseagentur in Hosenträgern und schwarzen orthopädischen Schuhen, der seit dem Scopes-Prozess bei UPI arbeitet. Er fluppt einen Spuckebatzen auf den gefrorenen Boden und blickt missmutig zu den Wolken, dann zum Hauptwachturm, der einige an das neue Dornröschenschloss in Disneyland erinnert. Es ist zu kalt, um hier draußen zu stehen, sagt der Reporter der New York Post. Er nuschelt etwas Abfälliges über den Gefängnisdirektor, der den Pressevertretern dreimal den Zutritt zum Gefängnis verwehrt hat. Die Reporter könnten jetzt heißen Kaffee trinken. Sie könnten die Telefone benutzen, letzte Pläne für Weihnachten schmieden. Stattdessen will der Gefängnisdirektor irgendetwas beweisen. Warum, fragen sie alle, warum? Weil der Gefängnisdirektor ein Arschloch ist, sagt der Reporter von Time, darum. Der Reporter von Look hält Daumen und Zeigefinger knapp auseinander. Gib einem Bürokraten so viel Macht, sagt er, und dann Vorsicht. Zieh dich warm an.
Nicht nur Bürokraten sind so gestrickt, sagt der Reporter der New York Times. Alle Chefs werden irgendwann Faschisten. Das ist die menschliche Natur.
Die Reporter tauschen Horrorgeschichten über ihre Chefs und Ressortleiter aus, elende Schwachköpfe, die ihnen diesen gottverdammten Auftrag eingebrockt haben. Unter Journalisten gibt es einen neuen Ausdruck, der erst in diesem Jahr aus dem Krieg in Asien übernommen wurde und oft für solche Einsätze verwendet wird, Einsätze, bei denen man im Pulk wartet, gewöhnlich im Freien, Wind und Wetter ausgesetzt, im vollen Bewusstsein, dass man nichts Nennenswertes erfährt und schon gar nichts, was der Rest nicht auch erfahren würde. Der Ausdruck heißt Clusterfuck. Jeder Reporter gerät hin und wieder in einen Clusterfuck, das gehört zum Job, aber ein Clusterfuck an Heiligabend? Vor der Attica Correctional Facility?
Das ist uncool, sagt der Reporter von der Village Voice. Sehr uncool.
Besonders sauer sind die Reporter auf den Oberboss, Gouverneur Nelson Rockefeller. Der mit seiner Buddy-Holly-Brille und der chronischen Unentschiedenheit. Gouverneur Hamlet, sagt der Reporter von UPI und grinst in Richtung Mauer. Bringt er es oder nicht? Er brüllt in Richtung Dornröschenschloss: Mach zu oder komm runter vom Pott, Nelson! Stuhlgang oder Abgang!
Die Reporter nicken, grummeln, nicken. Sie werden unruhig, genau wie die Häftlinge auf der anderen Seite der neun Meter hohen Mauer. Die Häftlinge wollen raus, die Reporter wollen rein, und Schuld geben beide Gruppen der Polizei. Frierend, müde, wütend und von der Gesellschaft geächtet, stehen beide Gruppen kurz vor dem Aufruhr. Und beide sehen nicht den schönen Mond, der langsam über dem Gefängnis aufgeht. Ein Vollmond.
Die Wärter führen Sutton von seiner Zelle in Block D durch eine Gittertür in einen Tunnel und zur Kommandozentrale – von den Häftlingen Times Square genannt –, die zu allen Zellenblocks und Büros führt. Vom Times Square wird Sutton zum Büro des stellvertretenden Gefängnisdirektors gebracht. Es ist das zweite Mal, dass er in diesem Monat zum Vize gerufen wird. Letzte Woche teilte man ihm mit, dass sein Begnadigungsgesuch abgelehnt worden sei – ein böser Schlag. Sutton und seine Anwälte waren sich ihrer Sache so sicher gewesen. Sie hatten die Fürsprache prominenter Richter gewonnen, hatten Schwachstellen in den Schuldsprüchen entdeckt und Briefe von Ärzten gesammelt, die attestierten, dass Sutton todkrank war. Doch die dreiköpfige Begnadigungskommission sagte nein. Der Vize sitzt an seinem Schreibtisch und schenkt sich die Mühe aufzublicken. Hallo, Willie.
Hallo, Sir.
Sieht so aus, als hätten wir Startfreigabe.
Sir?
Der Vize deutet mit wedelnder Hand über die verstreuten Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Das sind deine Papiere. Du wirst entlassen. Sutton blinzelt und massiert sein Bein. Enlassen? Von wem, Sir?
Der Vize blickt auf und seufzt. Vom Leiter der Gefängnisbehörde. Oder von Rockefeller. Oder von beiden. Albany hat noch nicht entschieden, wie sie die Sache verkaufen wollen. Als Ex-Banker weiß der Gouverneur nicht so recht, ob er seinen Namen druntersetzen soll. Aber der Leiter der Gefängnisbehörde will sich nicht über den Begnadigungsausschuss hinwegsetzen. So oder so, sie lassen dich laufen.
Laufen? Warum?
Woher soll ich das wissen. Ist mir scheißegal.
Und wann, Sir?
Heute Abend. Wenn das Telefon aufhört zu klingeln und die Reporter mir nicht mehr im Nacken hängen, dass sie mein Gefängnis als privates Fernsehzimmer benutzen wollen. Wenn die verfluchten Formulare ausgefüllt sind.
Sutton mustert den Vize. Dann die Wärter. Soll das ein Scherz sein? Nein, sie wirken ganz ernst. Der Vize wendet sich wieder seinen Papieren zu. Viel Glück, Willie.
Die Wärter führen Sutton zum Anstaltsschneider. Jeder Mann, der aus einem Gefängnis im Staat New York entlassen wird, bekommt einen Entlassungsanzug, eine mindestens hundert Jahre zurückreichende Tradition. Das letzte Mal hatte man Suttons Maße für einen Entlassungsanzug genommen, als Calvin Coolidge Präsident war. Sutton steht vor dem dreiteiligen Spiegel des Schneiders. Ein Schock. In den letzten Jahren stand er nicht oft vor Spiegeln, und er kann nicht glauben, was er sieht. Da ist sein rundes Gesicht, das glatte graue Haar, die verhasste Nase – zu groß, zu breit, mit unterschiedlich großen Nasenlöchern –, und da ist die große rote Verdickung auf seinem Augenlid, die in jedem Polizeibericht und FBI- Flugblatt kurz nach dem Ersten Weltkrieg erwähnt wurde. Aber das ist nicht er – unmöglich.
Sutton hatte sich immer viel auf eine gewisse Verwegenheit in seinem Äußeren eingebildet, auch in Handschellen. Und selbst in Gefängniskluft war es ihm stets gelungen, elegant und weltgewandt zu erscheinen. Jetzt dagegen, mit achtundsechzig Jahren, sieht er in dem dreiteiligen Spiegel nichts mehr von Verwegenheit, Eleganz und Weltgewandtheit. Er ist ein Strichmännchen mit Tränensäcken. Er sieht aus wie Felix der Kater. Selbst der bleistiftdünne Schnurrbart, auf den er früher so stolz war, ähnelt den Schnurrhaaren des Cartoonkaters. Der Schneider, mit einem grünen Maßband um den Hals, tritt zu Sutton. Er ist ein alter Italiener aus der Bronx mit zwei fingerhutgroßen Schneidezähnen. Beim Reden klimpert er mit einer Handvoll Knöpfen und Münzen in seiner Tasche. Sie lassen dich also raus, Willie.
Sieht so aus.
Wie lange warst du hier?
Siebzehn Jahre. Und wann hattest du das letzte Mal einen neuen Anzug?
Oh. Vor zwanzig Jahren. Wenn ich früher gut bei Kasse war, trug ich nur maßgeschneiderte Anzüge. Und Seidenhemden. Von D’Andrea Brothers.
Er erinnert sich noch an die Adresse: Fifth Avenue 587. Und an die Telefonnummer. Murray Hill 5–5332. Ja, sagt Schneider, D’Andrea, die waren wirklich gut. Ich hab noch einen Smoking von D’Andrea. Steig mal auf das Podest.
Sutton gehorcht ächzend. Ein Anzug, sagt er. Mein Gott, und ich dachte, das nächste Mal nehmen sie für mein Leichenhemd Maß.
Ich mach keine Leichenhemden, sagt Schneider. Da sieht ja keiner meine Arbeit.
Sutton schaut stirnrunzelnd auf die drei gespiegelten Schneider. Reicht es nicht, wenn man gute Arbeit leistet? Muss man sie unbedingt sehen?
Schneider legt sein Maßband quer über Suttons Schultern, dann längs über den Arm. Zeig mir einen Künstler, sagt er, der nicht ge- lobt werden will.
Sutton nickt. So ging’s mir früher auch mit meinen Banküber- fällen. Schneider betrachtet das Triptychon der gespiegelten Suttons und zwinkert dem mittleren zu. Dann legt er das Maßband über Suttons schlimmes Bein. Innenbeinlänge sechsundsiebzig, verkündet er. Jacke achtundvierzig.
Als ich hier ankam, hatte ich Größe fünfzig. Ich sollte sie verklagen.
Schneider lacht leise und hustet. Welche Farbe möchtest du, Willie?
Alles außer Grau. Dann Schwarz. Ich bin froh, dass sie dich rauslassen, Willie. Du hast deine Schuld gezahlt.
Vergib uns unsere Schuld, sagt Willie, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Schneider bekreuzigt sich. Ist das aus deinem Roman?, fragt Rechter Wärter.
Sutton und Schneider sehen sich an. Schneider richtet eine Fingerpistole auf Sutton. Frohe Weihnachten, Willie.
Gleichfalls, Kumpel.
Sutton richtet eine Fingerpistole auf Schneider und spannt den Hahn. Peng.