Vorwort
Vor 30 Jahren zogen die Grünen zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag ein, vor 15 Jahren kam es zur ersten rot-grünen Koalition auf Bundesebene. Die Partei, die aus der Friedensbewegung entstanden war, musste nun auch praktisch Außenpolitik betreiben. Und war sofort mit dem Schlimmsten konfrontiert: Kriegsgeschrei auf dem Balkan, lebensfeindliche Dschihadisten, Gotteskrieger aus Texas. Daneben schwierige Zeitgenossen in Kuba und Kolumbien, Libyen und Jemen, Nordkorea und Kambodscha. Eskalierende Konflikte zwischen Israel und Palästina, Eritrea und Äthiopien. »Privatisierte Gewalt«, Kriegsökonomien, Staatszerfall und organisierte Kriminalität begannen zwischenstaatliche Kriege als Hauptproblem der Sicherheits- und Friedenspolitik abzulösen.
Wie haben sie sich bewegt – die rot-grünen Akteure – in der gefahrvollen Unübersichtlichkeit nach dem Ende des Kalten Krieges? Haben sie ihre Prinzipien verraten? Haben sie versagt? Oder haben sie angesichts schwierigster Bedingungen versucht, ihre Vision von der »Zivilmacht Deutschland« zu behaupten? Unserem Land internationale Anerkennung verschafft? Deutschland – nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung? Zur Außenpolitik der rot-grünen Bundesregierung wurde vieles geschrieben, Bücher, Abhandlungen, Essays, gute und flache, nachdenkliche und egomanische. Es gibt scheinbare Gewissheiten und offene Kontroversen.
Als Staatsminister im Auswärtigen Amt und außenpolitischer Sprecher der grünen Fraktion steckte ich meist mittendrin, erlebte das Entstehen von Krisen, die Angst und Verunsicherung der betroffenen Menschen, die politische Entscheidungsfindung mit ihren Zweifeln und Dilemmata, die praktische Diplomatie und das Ringen um Konzepte. Seite an Seite mit Bundeskanzler Gerhard Schröder, mit Außenminister Joschka Fischer, mit dem Staatsminister und späteren EU-Kommissar Günter Verheugen, der von Christoph Zöpel abgelöst wurde, mit dem Kanzleramtschef und späteren Außenminister Frank-Walter Steinmeier, mit zahlreichen Diplomaten des Auswärtigen Am- tes und internationaler Organisationen, in Kooperation mit Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, Experten von Nichtregierungsorganisationen und Parteifreunden. Viele haben Ähnliches erlebt wie ich, manche Wichtigeres, einige ihre Erinnerungen niedergeschrieben.
Was fehlt, ist ein Blick hinter die Kulissen, auf Themen, die nicht in der Tagesschau auftauchten, auf die menschliche Dimension der historischen Ereignisse. Meine Erfahrungen als Staatsminister habe ich zunächst nur zum Eigengebrauch notiert. Freunde, Studierende, Neugierige, denen ich davon erzählte, forderten mich auf: Das musst du unbedingt weitergeben, das darf nicht verloren gehen! Vieles davon ist nicht bekannt, manches vielleicht bedeutsam. Also habe ich die Spuren gesichert.
Anders als meine Schrift »Die Grünen und die Außenpolitik«, mit der ich die »Ideen-, Programm- und Ereignisgeschichte« dieser Partei von der Entstehung bis zum Eintritt in die Bundesregierung nachgezeichnet habe, handelt es sich bei dem vorliegenden Buch nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung. Dennoch ist es eine Art Fortsetzung, mit anderen Mitteln. Was dieses Buch anbieten möchte, sind in erster Linie persönliche Schilderungen, durchzogen allerdings vom Versuch historischer Einordnung und politikwissenschaftlicher Analyse, subjektive Geschichten als Beitrag zur objektivierten Geschichtsschreibung. Andere Akteure mögen die Dinge anders interpretieren.
Es geht nicht um Enthüllung oder Entlarvung, wie manch einer vielleicht von mir erhofft. Doch auch Neues und Überraschendes wird sichtbar, im Großen wie im Detail. Manche Einschätzung widerspricht den kursierenden Deutungen, die zu Gewissheiten zu werden drohen. Auf jeden Fall habe ich nicht versucht, meine Erfahrungen diplomatisch zu verklausulieren. Vielleicht können die kleinen Beiträge den Blick auf die Ereignisse verändern, bevor diese zu falschen Geschichtsbildern gefrieren.
Berlin, im Juli 2013
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7. Ostern, als die Bomben fielen
(Zum Kosovo-Krieg)
Zehn Tage vor Ostern fielen die ersten Bomben. Der Kosovo-Krieg hatte begonnen! März 1999: Der erste Krieg mit deutscher Beteiligung seit dem Zweiten Weltkrieg. Unterstützt von der rot-grünen Regierung. Wenige Wochen nach der Bundestagswahl, als eine Mehrheit links von der Mitte hoffte, nach 16 Jahren konservativen Regierens würde vieles besser auf der Welt. Im Inneren wartete ein enormer Reformstau auf eine beherzte Politik. Im internationalen Bereich sollte die Remilitarisierung der Außenpolitik, die wir zu Oppositionszeiten Helmut Kohl und seinem Verteidigungsminister Volker Rühe vorgeworfen hatten, gestoppt werden. Zivile Konfliktbearbeitung sollte eine militärisch verengte Sicherheitspolitik zurückdrängen.
Doch nun, quasi als Entree der Rot-Grünen in die internationale Politik, warf die Nato mit deutscher Beteiligung Bomben auf Serbien. Erst auf militärische Ziele, dann auf die Infrastruktur, dann auf die chinesische Botschaft in Belgrad, dann auf Zivilisten ... Hatten wir Grünen versagt? Hatten wir unsere Prinzipien verraten? Viele unserer bisherigen Anhänger waren dieser Ansicht und kehrten uns den Rücken. Aber hatten wir wirklich eine Chance besessen, diesen Krieg zu verhindern? Haben wir nicht, angesichts der Situation, die praktisch klügste Politik gemacht? Wie ein Damoklesschwert hing schon während der Koalitionsverhandlungen im Oktober 1998 die Gefahr eines Kosovo-Kriegs über uns. Als Günter Verheugen und ich die Verhandlungen zur Außenpolitik führten, fanden wir schnell einen gemeinsamen Nenner. An der Außenpolitik würde Rot-Grün nicht scheitern. Skeptiker hatten diese Koalition ja für unmöglich gehalten, weil mit den Grünen kein Staat zu machen sei. Wir wussten nun, dass Koalitionsprobleme nicht in unserem Bereich lagen, zumindest nicht programmatisch, nicht auf dem Papier. Aber wir spürten auch, dass sehr schnell die Geschichte über uns hinwegrollen könnte.
Jugoslawien zerfiel seit Beginn des Jahrzehnts in blutigen Kriegen. Die Lage in Bosnien-Herzegowina war auch nach dem Vertrag von Dayton noch nicht wirklich unter Kontrolle, und im Kosovo braute sich etwas zusammen. Kurz nach der gewonnenen Bundestagswahl reiste am 8. Oktober 1998 der designierte Bundeskanzler Gerhard Schröder, begleitet von Joschka Fischer, dem designierten Außenminister, und den beiden zukünftigen Staatsministern Günter Verheugen und mir, nach Washington zum Antrittsbesuch im Weißen Haus. Noch hatte das Kabinett Kohl offiziell die Staatsgewalt inne. Kanzler Kohl hatte sich einige Wochen zuvor hinter die Drohpolitik der Amerikaner gestellt, die der Regierung Miloševic in Belgrad ultimativ Luftschläge angedroht hatte für den Fall, dass die Drangsalierung und gewaltsame Vertreibung der Kosovo-Albaner aus ihrer Heimat nicht gestoppt würde. Die Nato war in Bereitschaft. Für sie galt die Activation Order, kurz ActOrd, die ausgelöst würde, sobald die Nato-Führung das Kommando gab.
Diese Order galt für alle Nato-Staaten, auch – wie Verteidigungsminister Rühe nicht müde wurde zu betonen – für den deutschen, der in wenigen Wochen rot-grün regiert sein sollte. Vorausgesetzt, der Bundestag würde sie billigen. Belgrad zündelte weiter. Die Lunte brannte ... Konnte die neue rot-grüne Mehrheit die Vorentscheidung der Regierung Kohl-Kinkel noch beeinflussen? Wollte sie das überhaupt angesichts der völkermörderischen Politik der Serben im Kosovo? Vertreter pazifistischer Zurückhaltung und humanitärer Intervention stritten seit Jahren in beiden Koalitionsparteien, besonders heftig bei den Grünen, um Gesinnung und Verantwortung.
Diese Grundsatzfrage war unter Rot-Grün noch nicht geklärt. Eine abstrakte Diskussion hätte die neue Koalition zerrissen, kaum dass sie gebildet war, und das nach 16 Jahren Helmut Kohl, als sich selbst liberal-konservative Kräfte in Schröders Neue Mitte eingereiht hatten, um den Reformstau endlich aufzulösen. Wir konnten die Hoffnungen der neuen gesellschaftlichen Mehrheit, für die wir jahrelang gekämpft hatten, nicht dadurch zerstören, dass wir angesichts einer eskalierenden außenpolitischen Situation wieder auseinanderstoben. Zumal der Bevölkerung die Dramatik gar nicht bewusst war. Rot-Grün gewogen – und zu leicht befunden? Es wäre mit diesem Projekt – mit der grünen Partei wohl auch – ein für alle Mal vorbei gewesen: vor der Verantwortung davongelaufen, vor der Geschichte versagt.
Interessant, wie einig Fischer und ich uns plötzlich in dieser Frage waren, die wir uns ein Jahrzehnt als Antipoden in der Partei gegenübergestanden und manch überhitzten Streit geliefert hatten, er als Leitfigur der gemäßigten Realo-Strömung, ich als Leitfigur des moderat linken Flügels. Das Interregnum, die verfassungspolitische Übergangssituation, in der wir uns befanden, schien ein Hintertürchen zu eröffnen. Die alte Regierung abgewählt, die neue noch nicht im Amt – wer hatte eigentlich politisch zu entscheiden? Konnte die alte Regierung, gestützt auf die abgewählte Bundestagsmehrheit, die neue Regierung in einer entscheidenden Frage binden? Formal ja, aber politisch?
Im Flugzeug über dem Nordatlantik wurde überlegt. War es nicht eine gute Idee, den Amerikanern zu sagen: »Wegen der ungeklärten Lage bei uns reden wir den Nato-Strategen nicht hinein. Aber bitte habt Verständnis dafür, dass wir uns ganz aus dem Konflikt heraushalten.« Im Klartext: ActOrd mag gelten, aber wir Deutschen bleiben außen vor. Der mitreisende amerikanische Botschafter John Kornblum hielt dies für denkbar. Washington. Händeschütteln mit dem Präsidenten im Weißen Haus. Ein stilvoller Lunch, bei dem Bill Clinton mit einer Analyse der Weltlage brillierte. Ein längeres Vier-Augen-Gespräch zwischen Clinton und Schröder. Der Kanzler in spe gab danach keine Einzelheiten preis, vermittelte aber den Eindruck, Clinton habe Verständnis für die deutsche Unentschiedenheit. Würden wir mit einem blauen Auge davonkommen? Intellektuell und charakterlich unbefriedigend, weil die Berufung auf das Interregnum ein offensichtlicher Trick war, aber politisch für die beginnende Koalition vielleicht überlebenswichtig.
Kaum waren wir zurück in Deutschland, zirkulierte die Nachricht, die Amerikaner bestünden auf einer klaren Entscheidung! Jetzt doch! Irgendwer hatte in Washington angerufen und klargemacht, die Nato ohne die Deutschen, das ginge nicht. Und so billig dürfe man Rot-Grün nicht davonkommen lassen. Das zumindest war die Informations- oder sagen wir mit dem heutigen Wissen: Gerüchtelage.
Heute, nach dem Studium von Schröders Memoiren, offenbart sich eine andere Wahrheit. Demnach hat sich Schröder unmittelbar nach der Wahl und vor der Washington-Reise seinem Vorgänger Kohl gegenüber festgelegt auf eine »begrenzte Teilnahme an einer militärischen Intervention«. Sein Parteivorsitzender Oskar Lafontaine war bei dem Gespräch dabei wie auch – Joschka Fischer. Mir, wie wohl den meisten anderen, die die Koalition trugen, war Schröders späte Offenbarung neu. Ebenso die Darlegung, er habe sich in diesem Sinne bei dem besagten Gespräch Clinton gegenüber erklärt, worüber er und Fischer anschließend bei den Koalitionsgesprächen berichtet hätten. Auch das war mir neu, obwohl ich in der grünen Verhandlungskommission für Außenpolitik zuständig war. Ich erinnere mich weder an einen solchen Bericht noch an entsprechende grüninterne Unterrichtungen durch Fischer. Sondern vielmehr daran, dass das Gerücht vom Anruf in Washington (die Hardthöhe? Deutsche Militärs im Nato-Stab? Rühe selber?) kräftig genährt wurde.
Für den objektiven Gang der Dinge ist dieser Umstand unerheblich, nicht aber für die Frage, wer wen politisch funktionalisiert hat und wo in dem erbitterten Ringen um die richtige Politik gegenüber dem Kosovo die Wahrhaftigkeit liegt. Wie auch immer, der Bundestag musste nun entscheiden! Kohl, Schröder, Lafontaine und Fischer hatten sich im kleinsten Kreis auf die gemeinsame Unterstützung der Nato-Politik verständigt. Noch bevor die neue Regierung die Amtsgewalt übernahm, trat der alte Bundestag zur Entscheidung zusammen. Die Haltung der SPD war fast geschlossen pro Militärintervention. Die Grünen waren gespalten. Für die Mehrheitsbildung war das nicht relevant, denn es galt noch die alte schwarz-gelbe Übermacht, die zudem auf SPD-Stimmen rechnen konnte. Aber als Signal für die zukünftige Regierung war die Stimmung in den alten Fraktionen der neuen Mehrheit bedeutsam.
Jahrelang hatten die Grünen vehement über die Haltung zu den Balkan-Krisen gestritten: radikale Pazifisten auf der einen Seite, die nie und unter keinen Umständen Waffengewalt erlauben wollten. Auf der anderen Seite Pragmatiker, die, über die sich einschleichende Denkfigur der humanitären Intervention hinaus, sich den Mustern der traditionellen Sicherheitspolitik näherten. Für sie stand Joschka Fischer. Dazwischen die Position des politischen Pazifismus, der Militäraktionen nicht zustimmen wollte, solange nicht alle zivilen Mittel der Krisenprävention und Konfliktbearbeitung ausgereizt und die Sicherheitsorganisationen entsprechend umgebaut waren. Dafür stand ich.
Nach dem Massaker von Srebrenica hatten sich Joschka Fischers und meine Position angenähert. Für das Wahlprogramm 1998 hatten wir eine Formel gefunden, mit der alle gut leben konnten. So meinten wir. Das sicherheitspolitische Primat lag demnach bei der zivilen Krisenprävention. Nur wenn diese trotz ernsthafter Bemühungen endgültig gescheitert war, sollte ein Nachdenken über begrenzte militärische Konsequenzen möglich sein. Das war eine klare Abgrenzung gegen die konservative Rede von der ultima ratio militärischen Eingreifens. Denn diese Formel verschwieg, dass über die »ersten« Mittel in der traditionellen Sicherheitspolitik nicht nachgedacht und das »letzte« Mittel somit zum einzigen wurde.
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