Einleitung
Siebenelf: Il sette undici bin ich geboren, am siebten Elften, und mehr als die Hälfte meines Lebens habe ich in Stuttgart verbracht, Vorwahl Null Sieben Elf. Ein Zusammenhang, der mir erst aufgefallen ist, als ich anfing, meine Erinnerungen für dieses Buch zu sammeln und einzuordnen. Schicksal oder purer Zufall? Stehen vielleicht diese Zahlen nicht nur für den Beginn, sondern auch für das Ende meines Lebens?
Einmal sagte mir jemand, dass es eine besondere Verbindung zwischen Stuttgart und Montepulciano, meinem Geburtsort, gäbe: Die Achse Stoccarda – Montepulciano. Er habe es in den Sternen gelesen. Ob das wohl stimmt? Sterne und Mond beeinflussen vielleicht das Leben, und vielschichtig ist ein echter Skorpion wie ich sowieso.
Wenn man mich fragt, wo meine Heimat ist, antworte ich: „Von sette undici zu Sieben-Elf – das sind die Koordinaten meiner Heimat. Sie ist dort, wo meine Freunde sind, die Menschen die mich mögen, die ich liebe“. Meine Wurzeln sind aber im Chiana-Tal, auf der Ebene unterhalb von Montepulciano: Dort komme ich her, dort beginnen meine Erinnerungen.
Podere Santa Luisa
Ich wurde auf einem Bauernhof namens Santa Luisa in der Tenuta del Ciuffi, den Ländereien der Familie Ciuffi, im Chiana-Tal geboren. La Fila war eine strada bianca, eine unasphaltierte Straße, die wie eine mit dem Lineal gezogene Gerade den Großgrundbesitz durchschnitt. In regelmäßigen Abständen unterbrachen große Bauernhöfe die Reihen der alten Maulbeerbäume (sie gaben das Futter für die Seidenraupen, die man hier bis vor dem 2. Weltkrieg züchtete), die auf beiden Seiten die Straße säumten. Die case leopoldine, die Bauernhöfe, die Großherzog Pietro Leopoldo nach der Trockenlegung des Tals Ende des 18. Jahrhunderts bauen ließ, hatten alle eine ähnliche Struktur: breite, quadratische Gebäude. Im Erdgeschoss befanden sich der Kuhstall, der Keller und andere Abstellräume sowie die Remise für die Karren, die sich mit einem breiten Bogen zum Platz vor dem Haus hin öffnete. Im ersten Stock gab es dann eine riesige Wohnküche und die Schlafzimmer. Die Häuser waren alle von einem Türmchen mit Bögen, dem Taubenschlag, gekrönt. An der Fassade, blau auf weißen Kacheln, war neben dem Bild eines Heiligen auch dessen Name angebracht, der gleichzeitig der Name des Hofes, del podere, war. Im meinem Geburtshaus war es die heilige Luisa, Santa Luisa.
In der geräumigen Wohnküche im ersten Stock stand an der Wand gegenüber dem Eingang ein großer Herd, rechts ein Spülstein aus Granit mit Töpfen und Pfannen darüber, links der Kamin. Dieser war so groß, dass mehrere Personen darin Platz fanden: Hinten an der Wand die Feuerstelle, rechts und links an den Seitenwänden des Kamins waren Bänke eingebaut, vorne standen Stühle. Dort saßen wir an kalten Winterabenden direkt vor dem Feuer; die Beine ganz heiß, die Kälte im Rücken. Ich wollte immer in der hintersten Ecke sitzen, von der Eingangstür abgewandt, denn draußen in der Finsternis lauerten in meiner Vorstellung die bösen Geister. So hätte ich sie wenigstens nicht gesehen, wenn sie sich in die Küche zu mir hineingeschlichen hätten. In der Mitte des Raums befand sich ein langer Tisch mit Sitzbänken zu beiden Seiten, dann ein Schrank mit der Wäsche der Familie, eine Vitrine mit dem Geschirr und ein großer Backtrog, la madia, in dem das Brot gemacht und aufbewahrt wurde.
Nach dem Sommer nahm die Dunkelheit die Räume, die wir bewohnten, langsam in Beschlag, bis sie alles beherrschte. Im Winter verfing sich nächtelang der Nordwind – la tramontana – in den Stromleitungen und jaulte mit fast menschlicher Stimme um die Mauern. Für mich als Kind eine endlos lange Zeit der Finsternis. Es gab aber auch viel Sonne und Licht und die Erinnerungen an meine Kindheit beinhalten beides – Licht und Schatten. Abends in den lauen Sommernächten saßen wir alle zusammen, Alte und Junge, Kinder, Frauen und Männer auf der Bank um den Stamm von
il moro, dem alten dicken Maulbeerbaum vor dem Haus, und die Glühwürmchen tanzten um uns herum. Viele Bilder haben sich eingeprägt, die ich mein ganzes Leben lang in mir tragen werde: Das Rot der Sonnenuntergänge hinter Montepulciano, fern auf dem Hügel, das es wie eine Märchenstadt aussehen ließ. Das Glitzern der Getreidestoppeln, als wir barfuß darüber rannten und die entfesselte Bande Robin Hoods nachspielten. Oder das Quadrat, das die Sonne auf den Boden des weiten schattigen Flurs zeichnete, in dem die Frauen die heißen Nachmittage verbrachten, nähten und schwatzten. Im Winter waren es die Funken des Feuers, die vom schwarzen Kaminschlund wie von einem Schwamm hochgesogen wurden und unsere geheimsten Wünsche mit sich hinaufnahmen.