Der Erstkontakt
Die Flüchtlinge kommen an einem heißen Freitag in unserem Örtchen an, das träge unter der Julihitze schlummert. Die Röcke sind kurz, die Abende lang, die Hits im Radio mitreißend und man kann die Sommerferien schon riechen. In der Woche zuvor hatte mir die engagierte Hilfsaktivistin des Helferkreises Asyl, Abteilung Sprachförderung, erklärt, dass wir mit unseren Kursen erst in der zweiten Woche beginnen würden, wenn alle Registrierungen und Erstuntersuchungen abgeschlossen sein würden. Und wenn man genau hinhören will im Dorf, dann gibt es natürlich auch noch einen ganz anderen Grund: Wer weiß denn schon, was die uns so alles anschleppen, richtig? Aleppo-Beule, Tuberkulose, HIV? Und was ist überhaupt mit Tröpfcheninfektion? Nein, nein, da kann doch keiner hin, um Gottes Willen.
Ungeduldig lasse ich das erste Wochenende verstreichen und beschließe am Montag, mich dann doch unter Einsatz meines Lebens der Turnhalle zu nähern. Immerhin haben doch alle Asylsuchenden bereits ein Erstscreening hinter sich und zudem sind doch auch durchgehend Ersthelfer und Security vor Ort. Heißt es. Und überhaupt will ich ja sowieso nicht gleich alle in den Arm nehmen und mich anniesen lassen, sondern einfach nur Hilfestellung bei möglichen Verständigungsproblemen geben.
Wenn ich als Übersetzerin gebraucht werde, dann doch jetzt, in den ersten Stunden und Tagen. Und wenn das nicht der Fall ist, weil Französisch hier nicht gebraucht wird, dann wird doch wohl noch irgendjemand mit mir auf Englisch reden wollen? Ich bin nicht sehr talentiert, wenn es um – eigentlich alle – serviceorientierten Dienstleistungen geht, aber reden, das kann ich. Und zuhören auch. Ich nehme also all meinen Mut zusammen und nähere mich dem Halleneingang. Ich will mich zu erkennen geben, will erklären, warum ich hier bin, nicht einfach eindringen, stören. Leider ist niemand zu sehen. Also laufe ich ratlos einmal um die Halle. Bin erstaunt ob der säuberlich aufgereihten kleinen Zelte, jeweils mit einer Garnitur von Biertischen versehen. Hier war bestimmt am Wochenende die Registrierung vorgenommen worden. Große Abfallcontainer stehen sehr säuberlich aneinandergereiht gegenüber dem Haupteingang der Turnhalle.
Alles akribisch vorbereitet. Kann man nicht meckern, saubere Arbeit, deutsch halt. Nur eben niemand, der mich gerne als Samariterin schätzen will. Aber ich komme doch, um zu helfen! Nur 200 Flüchtlinge sind hier. Also 196, um genau zu sein. Aber jetzt kann ich doch nicht einfach so nach Hause gehen! Nach einer Runde um die Halle bin ich jetzt wieder am Parkplatz vor dem Gebäude angekommen und eine Gruppe junger, schwarzer Männer, die sich in die Nähe des Haupteingangs auf den Fahrradständer gesetzt haben, gibt mir freundlich lächelnd und achselzuckend zu verstehen, dass sie zwar genau zu wissen scheinen, warum ich hier bin, aber mir im Moment wohl auch nicht helfen können. In der Ferne sehe ich Männer mit blauen T-Shirts, das könnten sie sein, diese Betreuer jener Firma, die für die Halle zuständig ist. Aber sie machen einen so schwer beschäftigten Eindruck, dass ich nicht stören will. Außerdem laufen sie genau in die entgegengesetzte Richtung weg.
Dann komme ich eben wieder. Automatisch schlage ich die Richtung nach Hause ein und bin schon auf der Parkfläche vor dem Gebäude angelangt. Das ist jetzt aber auch echt blöd, bisher war mein Besuch völlig ergebnisfrei. Die meisten Flüchtlinge scheinen sich draußen aufzuhalten. Und die sitzen da und schauen mich einfach nur an. Lethargisch sitzen sie da, es ist unglaublich heiß, schon morgens um zehn Uhr war die 30-Grad-Marke geknackt. Sie hocken teilweise in Grüppchen, teilweise einzeln im Schatten unter den Bäumen auf dieser Parkfläche. Sie sitzen direkt auf dem Gras oder auf den Kieselsteinchen, niemand hat eine Decke oder so etwas dabei. Niemand spricht, niemand bewegt sich. Und mir schießt der Gedanke durch den Kopf, dass jetzt eigentlich nur noch die Kuhschwänze fehlen, die mit rhythmischen Bewegungen die Fliegen wegscheuchen, sich aber der Rest der Kuh nicht bewegt. Es ist so seltsam still. So entsetzlich still. Niemand spricht auch nur ein Wort. Kein Kind weint. Einige haben die Augen geschlossen, ein Mann schläft sogar im Sitzen an einen Baum gelehnt. Ich kann ihn tief atmen hören. Hätte ich in diesem Moment alle meine Sinne beisammen, würde ich wahrscheinlich weglaufen. Das ist irgendwie alles so befremdlich, mir wäre lieber, die machten Krach. Aber die sind wohl einfach nur ausgelaugt. Unendlich erschöpft. Oft hört man sagen: »Ich bin am Ende meiner Kräfte.« Hier kann ich es sogar sehen, das Ende der Kräfte. Wie kann ich ihnen helfen?, frage ich mich. Was kann ich schon tun, ich Mittelschichtbürgerin mit mangelhaften Kenntnissen über arabische Kultur, afrikanische Gepflogenheiten und die aktuelle Situation im Westbalkan. Was ich tun kann? Ganz einfach: trösten, informieren, dableiben. Und dann setze ich mich einfach dazu. Still erst, auch ohne zu reden. Und so beginnt meine Reise.
Ich habe mir eine kleine Gruppe mit Kindern ausgesucht, willkürlich, nur eben mit Kindern. Wenn da Kinder sind, denke ich, dann verstehen die, dass ich nichts Böses will, sondern nur mal eben »hallo« sagen, sie begrüßen möchte. Es ist eine Gruppe von acht Personen. Ich setze mich also im Schneidersitz hin, wedle nach einem kurzen Moment der Stille – gemessen am Tempo ihrer Bewegungen wohl schon ansatzweise hysterisch – mit der Hand und sage »hallo, hallo« dazu. Wohl eher für diese Leute verständlich als »Grüß Gott« oder »Servus«, denke ich mir. Sicherheitshalber füge ich noch ein »Willkommen, welcome« dazu – meine notdürftig zusammengeraufte Art der Willkommenskultur. Diese sinnbefreite Aneinanderreihung von deutschen Begrüßungen, kombiniert mit der jeweils mir am geeignetsten erscheinenden Gestik, sind also die ersten Worte, die ich an die Flüchtlinge richte. Und der Beginn eines Dialoges, der bis heute nicht abgebrochen ist. Die Familie lächelt mich scheu an, der Vater nickt mir freundlich zu. Der Clan kommt aus Syrien und das kleine siebenjährige Mädchen, das auf dem Gras sitzt, heißt Maria. Sie zeigt mir stolz ihre Puppe. Aus einem Taschentuch und einem Haargummi gebastelt. Die Mutter, Aisha, bietet mir sogleich einen Schluck aus ihrer Wasserflasche an und ich lehne höflich dankend ab. Tröpfcheninfektion. Tröpfcheninfektion. Tröpfcheninfektion. Nur ein Mann aus der Gruppe, Yusuf, kann ausreichend Englisch sprechen. Und übersetzt mir die Frage von Aisha, die sie wohl schon das ganze Wochenende beschäftigt, seit sie hier ankam: »Sagen Sie, Miss, sind Fahrräder hier eigentlich sehr teuer?« »Nein, es gibt inzwischen auch schon sehr billige Fahrräder, und wenn man sie gebraucht kauft, sind sie sehr preiswert, warum?«
»Na, weil hier nur Autos vorbeifahren!«
Ach wie nett, ist das wirklich die erste Frage, die ich von den Flüchtlingen gestellt bekomme? Ist dies das Bild, das wir hier in unserer eigentlich umweltbewussten Gemeinde den Fremden abgeben? Trotz der Sprachbarriere unterhalten wir uns jetzt immer angeregter, das Eis ist gebrochen. Das Gespräch ist unverkrampft, bewusst vermeide ich Fragen, die die lockere Atmosphäre stören könnten, und antworte der Familie geduldig auf alle Fragen. Und dann wage ich mich noch einen Schritt weiter. Nämlich zu einem einzelnen, offensichtlich vom afrikanischen Kontinent stammenden jugendlichen Mann, der auf der Holzbarriere sitzt, die als Abgrenzung für den Parkplatz dient. Er fällt mir auf, weil er eben nicht auffällt. Er starrt stumm auf den Boden, die Hände in den Hosentaschen vergraben, die Kapuze seines Pullis tief ins Gesicht gezogen. Was muss das heiß sein. Die arme Seele, sein Leid schreit aus seinen Augen, als er zu mir aufblickt, er muss Schreckliches durchgemacht haben, fast unerträglich ist es für mich, ihn anzusehen. Ich bin sofort so gar nicht mehr entspannt, wie ich es gerade eben noch bei der syrischen Familie war. Hier kommt die Realität zurück, es geht nicht um Fahrräder und Autos. Aber dieser Moment dauert nicht lange, denn sofort blickt der Mann wieder zu Boden. Er ist aus Mali. Mehr möchte ich nicht fragen und bis zum letzten Tag kenne ich seinen Namen nicht. Er spricht Englisch mit mir, seine Stimme ist gebrochen. Mein Gott, jetzt sitzt er auch noch ganz alleine hier. Niemand kümmert sich um ihn, tröstet ihn. Ich begreife schnell, es geht nicht mal darum, ihm zuzuhören. Er will nicht reden, das spürt man. Es geht nur darum, dazubleiben. Ich setze mich also in respektvollem Abstand zu ihm auf den Holzbalken und bin trotzdem da. Ein Königreich für eine psychologische Ausbildung. Ich habe weder das eine noch das andere, prima. Und ungemütlich ist es auch auf diesem Holzding. Und überhaupt habe ich riesigen Durst. Aber ich bleibe einfach stumm sitzen. Irgendwann, ich weiß nicht, wie lange wir da einfach nur sitzen, ertrage ich die Stille dann doch nicht mehr und will wissen: »Hast Du Fragen?« Er nickt. »Wo sind wir hier?« Und bedankt sich nach meiner Auskunft brav mit einem »God bless you, Ma’am«. Unfassbar. Am dritten Tag weiß dieser arme Teufel nicht einmal den Namen des Ortes, in dem er für die nächsten Wochen sein Zuhause haben soll.
Zwischendurch muss ich dann doch auch nach Hause, wie blöd. Aber ich kann an nichts anderes mehr als die Flüchtlinge denken, den gehetzten Blick des jungen Mannes aus Mali werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Die traurigen Augen Malis. Ich kehre im Laufe des Tages immer wieder dorthin zurück, wie im Rausch. Ich will diese Leute kennenlernen, ihre Geschichten hören, ihnen Mut zusprechen, ihnen erklären, wo sie sind. Ich achte auch weiterhin vorsichtig darauf, mich immer zu einer anderen Gruppe zu setzen, meist mit Kindern, weil ich denke, dass sie sonst eifersüchtig sind, wenn sie merken, dass man immer nur zu den gleichen Leuten geht. Ein Schwarzafrikaner beäugt mich neugierig und will mich etwas fragen, traut sich aber nicht, sich mir zu nähern. Also gehe ich beherzt zu ihm und ziehe erneut meine »Hallo-Willkommen-Show« ab. Aber der Mann aus Eritrea kann ohnehin astreines Englisch und will wissen: »Please, Miss, do you have Wi-Fi?« Ah ja. Auf diese Frage habe ich ja jetzt nur gewartet. Fast enttäuscht war ich schon, dass sie bei uns so gar nicht gestellt wurde. Allzu viel habe ich darüber gelesen, in der Zeitung, auf Facebook. Ich weiß, sie brauchen Internet, um ihre Telefone zu aktivieren. Und als hätte dieser Kerl einen Schalter umgelegt, die verbotene Frage ausgesprochen, so kommen immer mehr Flüchtlinge zusammen, um nach dem Internet-Passwort zu bitten. Ich stelle fest, die Smartphone-Dichte ist hier überdurchschnittlich hoch. Shaan aus Pakistan ist der Nächste. Er will seine Eltern anrufen. Per Skype. Er will ihnen sagen, dass er noch lebt. Aber er kann dieses verdammte Telefon nicht freischalten ohne Internet. Er habe Geld, sagt er und will schon in seiner Hosentasche kramen. Ich bitte ihn, sofort damit aufzuhören, bin beschämt. Ich versichere ihm, den Helferkreis und vor allem das fleißige Team in den blauen Shirts von der Firma, die diese Erstaufnahmeeinrichtung hier betreut, zu informieren. Wir werden helfen, ich verspreche es ihm. Shaans Augen leuchten jetzt. Er ist 17 Jahre alt. Und er will einfach nur seine Mama anrufen.
Nachmittags nehme ich dann auch meine Kinder dorthin mit. Nicht ohne vorher meine Töchter zu bitten, sich umzuziehen, raus aus den ärmellosen, kurzen Sommerkleidchen. Ich weiß, die Diskussionen zu diesem Thema sind kontrovers, die Journalisten in der Tagespresse und die Fangruppen in den doch eigentlich »sozialen« Netzwerken haben sich dazu die Finger wundgetippt in der letzten Zeit: »Wenn die schon hierherkommen und hier leben wollen, dann müssen die sich schon auch nach unserer Kultur richten. Wieso sollen jetzt unsere Frauen und Kinder sich verhüllen wegen denen, ja geht’s noch!?« Ich verstehe zwar die Argumentation, habe aber ganz einfach auch die Auffassung, dass man aus Respekt ja nicht bauchfrei und in Hotpants vor einem Flüchtlingslager mit zum Großteil alleinstehenden, jungen Männern rumhüpfen muss. Ich möchte meine Kinder zu Respekt erziehen und das hat eigentlich mit anderen Kulturen so rein gar nichts zu tun. Ich würde meine Töchter auch dazu anhalten, sich ein korrektes T-Shirt über den Bikini zu ziehen, wenn direkt nebenan der ortsansässige Männergesangsverein proben würde. Deswegen war das mit der Kleiderordnung für unseren Besuch bei den Asylsuchenden sehr schnell und problemlos geklärt. Das kennen sie einfach schon zu sehr aus der Schule, da gilt auch bei uns die »Fingerregel« bei der Hosenwahl: Wenn die Arme seitlich am Körper anliegen und die Hotpants kürzer sind als die Finger seitlich am Bein entlang reichen, dann wird die Hose wieder ausgezogen und gegen eine längere getauscht. Over and out. Ja, nennt mich nur oll und gemein, ungerecht und ungechillt, liebe Kinder. Macht mir gar nichts. (In ein paar Jahren werde ich euch auch bei Gelegenheit mal fragen, wie oft ihr euch, kaum in der Schule angekommen, heimlich wieder umgezogen habt.) Naja, jedenfalls sind meine Kinder diese erzkonservativen Kleidungsregeln von ihrer nervigen Mutter ohnehin schon gewöhnt und es läuft dieses Mal aus unerfindlichen Gründen sogar ohne Murren und äußerst reibungslos ab. Nicht bauchfrei, Hose oder Rock übers Knie, naja, am besten sowieso Hose. Wir laufen zu Fuß die wenigen Minuten von unserem Haus zur Halle. Ich nutze die Zeit, um meinen Kindern einige Anweisungen zu geben. »Anweisung«, wie sich das anhört. Aber irgendwie bin ich jetzt auch schon ganz kirre und lasse mich einschüchtern von der Panikmache der Akademikerkindergartenmütter. Ich kann einfach nicht einordnen, warum niemand dort unten bei den Leuten ist, das muss doch irgendetwas zu bedeuten haben! Ich versuche also, meine Kinder zu sensibilisieren. Sie sollen kein Kind umarmen, noch nicht. Die Halle nicht betreten, sondern nur draußen auf dem Parkplatz bleiben, drinnen haben sie ohnehin nichts verloren. Damit das mal offiziell gesagt wurde. Allen freundlich die Hand geben, sollte es sich so ergeben. Die Hände und ihren Ball aber dann desinfizieren, sobald wir nach Hause kommen. Sich entfernen, wenn jemand hustet. Nicht in eine blutige Wunde fassen. (Habe ich das echt gesagt???) Habe ich irgendetwas vergessen?
»Chill mal, Mama!«, bekomme ich als Antwort. Der Asphalt ist jetzt in der Mittagshitze so heiß, dass meine Kinder nicht mal mehr barfuß laufen können, sondern maulend ihre Sandalen anziehen müssen. Wenn die wüssten, dass die Kinder dort unten an der Halle so gerne Schuhe anziehen würden, aber zum Großteil gar keine haben. Heute Morgen habe ich einen kleinen Jungen gesehen, ich weiß nicht, welche Nationalität er hat, aus Syrien, vermute ich. Ungefähr acht Jahre alt, vielleicht neun. Er trug, wie viele Kinder, die ich im Laufe des Tages gesehen hatte, keine Schuhe. Was ja nicht weiter verwunderlich ist an einem heißen Sommertag. Meine zwei Hexen laufen auch am liebsten barfuß. Aber der Kleine hatte offene Füße. Hier war ganz klar: Dieser Junge hat ohne Schuhe hierherkommen müssen. Was hätte ich als Mutter mit meinen Kindern auf der Flucht gemacht, so ohne Schuhe? Hätte ich ihnen Plastiktüten umgebunden? Sicherlich, aber wenn keine da wären? Oder wenn er gar keine Mutter mehr hat, der arme Kerl? Ich muss das unbedingt bald herausfinden. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken, als ich an seine offenen Wunden denke, da kann es so heiß sein wie es will, und ich drücke meiner kleineren Tochter, die neben mir läuft, fest die Hand. Wir gehen weiter, schweigend jetzt, meine Kleine ist sehr skeptisch und möchte am liebsten wieder umkehren. Ich spüre, dass ihr das irgendwie alles zu viel ist. Keine ihrer Freundinnen macht so was Verrücktes mit ihren Eltern, das will sie nur mal klarstellen. Fremden Menschen »Hallo« zu sagen und so. Erst später habe ich mir die Frage gestellt, ob ich nicht vielleicht unverzeihlich unvernünftig war, meine Kinder so früh mitzunehmen – das Erstscreening war zwar bei jedem gemacht, aber immerhin waren die medizinischen Untersuchungen noch nicht abgeschlossen, weiterhin ist niemand aus dem Dorf im Umkreis der Halle zu sehen. Es scheint, als halten sich alle bewusst fern. Aber an diesem Tag, in diesem Moment, da fühlt es sich einfach nur richtig an. Ich will meinen Kindern ein Vorbild sein, sie Toleranz lehren und ihnen zeigen, dass man sich sein eigenes Bild machen muss, bevor man urteilt. Ich will, dass sie Willkommenskultur nicht nur aus bewegenden Bildern aus dem Fernsehen kennen, sondern sie auch selbst bewusst erleben. Eine Willkommenskultur der Taten. Selbst sehen, dass sie keine Angst zu haben brauchen. Ich möchte, dass sie lernen, den Menschen Mut zu machen, nur mit einem Ball oder Straßenmalkreide bewaffnet. Und deswegen kommen wir nun auch gemeinsam hier unten auf der Parkfläche an, in der glühenden Mittagshitze. Mit einem Ball und Buntstiften.
Eine wertvolle Empfehlung des Helferkreises ist es, die Leute nicht danach zu fragen, warum sie ihr Land verlassen haben oder auf welchem Wege, das könne retraumatisierend sein. Von Helfern einer Asylbewerberunterkunft aus einem der benachbarten Dörfer war zu erfahren, dass Frauen noch sechs Wochen nach dieser Frage ins Bett genässt hätten. Ich halte mich also absolut daran und beschränke meine Willkommenskultur weiterhin auf mein »Hallo« mit dazugehöriger Wedelgeste und der Frage: »Woher kommst Du?« Das »Servus« kann noch warten. (Sehr schön war es zu sehen, wie auch noch Wochen danach Flüchtlinge, die mir im Dorf begegneten, mir immer freundlich »Hallo« zuposaunten und dazu winkten.) In diesen ersten Stunden bei den Flüchtlingen lerne ich auch, dass es für die Menschen aus arabischen Kulturen natürlich nicht selbstverständlich ist, dass Frauen Männern die Hand geben, um sie zu begrüßen, und ich notiere mir das alles fein säuberlich in ein kleines Notizbuch, das ich jetzt immer bei mir habe, um Ideen für meinen späteren Deutschkurs zu sammeln. »Achtung«, schreibe ich, »beim Thema Begrüßung mit dazu erklären, dass es in Deutschland üblich ist, die Hand zu geben. Frauen dürfen auch Männern die Hand geben.«
Diese Empfehlung des Helferkreises zur Vermeidung von eventuell retraumatisierenden Fragen war aber wohl nicht bis zu meiner zehnjährigen Tochter gelangt. Sie ist gerade dabei, mit der gleichaltrigen Sereen aus Syrien arabische Schriftzeichen in ihr Top-Model-Heft zu malen, welches sie ihr kurz zuvor feierlich überreicht hat. Und sie fragt sie doch direkt mal, wie denn ihre Reise hierher war. Dazu gräbt sie sorgfältig ihr bisher spärlich vorhandenes Englisch aus, normalerweise möchte sie noch nicht reden, aber hier stört es sie nicht. Und Sereen gibt bereitwillig Auskunft. Ich kann nur mit einem Ohr zuhören, denn ich versuche gleichzeitig, meine ältere Tochter nicht aus den Augen zu verlieren, die am anderen Ende des Parkplatzes im Gras mit erschreckend vielen afghanischen Jugendlichen Volleyball spielt. Dem armen Kind muss unglaublich heiß sein in der langen Hose. Aber sie hält tapfer durch. Und spielt und spielt. Im- mer mehr Flüchtlinge gesellen sich dazu.
Ich bin stolz auf meine Kinder und freue mich, dass es überhaupt keine Berührungsängste gibt. Sie haben heute Kindern und Jugendlichen durch Spielen und Malen gezeigt, dass sie hier willkommen sind, nichts zu befürchten haben.
Das kostet uns so wenig. Aber es gibt uns so viel.