Die Männer und Frauen, deren Biografien in diesem Buch versammelt sind, haben eines gemeinsam: Sie alle mussten sich den Herausforderungen und Widersprüchlichkeiten des 20. Jahrhunderts stellen. Kriege und Terror, politische Utopien, totalitäre Ideologien und Diktaturen, politisch motivierte Gewalt, Menschenrechtsverletzungen, Flucht und Vertreibung sind die Kennzeichen dieses 20. Jahrhunderts, aber auch die demokratische Gesellschaft, der Sozialstaat, Wohlstand, Liberalisierung und die europäische Integration.
Die Porträtierten stammen aus ganz unterschiedlichen Milieus und politischen Strömungen. Ihre Vielfalt macht es möglich, ein faszinierendes Bild des 20. Jahrhunderts zu zeichnen, das eine bis dahin ungekannte Eskalation der Gewalt brachte, aber auch neue Hoffnungen. Viele aus dieser Porträtgalerie wurden noch im »langen« 19. Jahrhundert politisch sozialisiert. Sie haben das Kaiserreich, den Durchbruch der Moderne, den Ersten Weltkrieg als »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« und die Weimarer Republik als erste Demokratie auf deutschem Boden erlebt und gestaltet. Manche haben im »Dritten Reich« Widerstand geleistet und damit besonderen Mut und Entschlossenheit bewiesen. Einige davon sind Opfer der NS-Gewalt geworden.
Andere hingegen sind den totalitären Verlockungen des 20. Jahrhunderts (zumindest zeitweise) erlegen oder haben sich instrumentalisieren lassen – oder sie mussten einfach überleben. Viele von ihnen konnten nach 1945 an die demokratischen Traditionen in Deutschland anknüpfen und waren ein wichtiges personelles Kontinuum beim Wiederaufbau der Demokratie in (West-)Deutschland. Andere wiederum bekamen eine »zweite Chance«, haben dazugelernt und sich zu Demokraten entwickelt. Nicht wenige der Porträtierten haben die drei großen politischen Umwälzungen von 1918, 1933 und 1945 und damit drei politische Systeme erlebt.
Es gibt darüber hinaus eine weitere Gemeinsamkeit: Alle 20 politischen Köpfe stammen aus dem heutigen Baden-Württemberg oder haben eine wichtige Phase ihres Lebens dort verbracht. Sie haben damit Elemente der spezifischen politischen Kultur des deutschen Südwestens auf die gesamtdeutsche Ebene getragen – sei es der sprichwörtliche Liberalismus aus dem badischen »Musterländle« oder das ausgleichende Wesen, das gemeinhin den Schwaben nachgesagt wird. Das 20. Jahrhundert hat viele Gesichter. Das historische Panorama, das die hier Versammelten eröffnen, ist dabei nur eine Perspektive auf die Epoche.
Aber sie schärft den Blick für das, was hinter uns liegt, und für die Art, wie es unsere Gegenwart bestimmt. Die Portätierten sind Vorkämpfer der Demokratie, der sozialen Verpflichtung, des Friedens und der Geschlechtergerechtigkeit, die hier von ausgewiesenen Expertinnen und Experten in kurzen biografischen Essays dargestellt werden. Es sind Mutige, die zu jenen wenigen gehören, die aktiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet haben oder die – wie es der Sozialdemokrat und NS-Verfolgte Kurt Schumacher nach 1945 nannte – einfach nur »sauber geblieben sind und sich nicht den Charakter erkältet haben«.
Aber, um in seiner Wortwahl zu bleiben, es gab eben auch die »Defekten und Brüchigen«, diejenigen, die den Verlockungen des Regimes nicht standhalten konnten und die Fehler gemacht haben, die sie später bereut haben – oder eben auch nicht. Alle 20 Köpfe sind Personen der jüngsten Zeitgeschichte, die nach dem berühmten Wort der Historikerin Barbara Tuchman Geschichte ist, die noch qualmt. Sie werden – je nach Perspektive – kontrovers diskutiert, niemals nur einseitig heroisiert oder verurteilt. So wird manch ein »Säulenheiliger« von seinem Sockel geholt, kommt uns damit aber näher als in der üblichen Entrückung.
Jenseits der oftmals ideologisch bedingten Zuschreibungen werden die politischen Köpfe vielmehr mit all ihren Widersprüchlichkeiten dargestellt. Die Lebenswege der hier Beschriebenen sind keine geradlinigen Erfolgsgeschichten, sondern gleichen oftmals eher Irrwegen. Nicht zuletzt wird also deutlich: »Helden« fallen nicht vom Himmel – schon gar nicht in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts mit ihren Brüchen und Katastrophen.
Unser herzlicher Dank geht an die Autorinnen und Autoren, an Rüdiger Müller vom emons Verlag, an die Lektorin Nicole Janke, an die Grafikerin Karen Auch und nicht zuletzt an die Bildgeber, die uns dabei unterstützt haben, dass dieses Buch nicht nur ein Lese-, sondern auch ein Bilderbuch geworden ist.
Ines Mayer und Reinhold Weber
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Walter Mühlhausen
Friedrich Ebert (1871–1925)
Sozialdemokrat und Staatsmann
Der Sattler aus Heidelberg war das erste demokratische Staatsoberhaupt Deutschlands. 1918/19 bahnte er den Weg in die Demokratie. Als Reichspräsident verteidigte er mit hohem Verantwortungsethos die von vielen ungeliebte Republik.
Weimar am 11. Februar 1919, gegen 16 Uhr: Auf der Tagesordnung der Nationalversammlung steht die Wahl des Reichspräsidenten. Es gilt als sicher, dass der SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert, der fünf Tage zuvor als Vorsitzender der revolutionären Übergangsregierung das erste demokratische Reichsparlament im Weimarer Theater eröffnet hat, das Rennen machen wird. Weil es an diesem Tag insgesamt schon die fünfte Abstimmung der Nationalversammlung ist, beginnt man mit dem fünften Buchstaben im Alphabet, dem »E«. Und so wird als Erster Ebert zur Urne gerufen. Das führt zu allgemeiner Heiterkeit im Saal und verursacht auch bei ihm ein Schmunzeln. Das Ergebnis steht nach einer halbstündigen Auszählung fest. Ebert, der für Beobachter vor dem entscheidenden Augenblick sehr ernst wirkt, erhält 277 von 379 abgegebenen Stimmen.
Dass mit Ebert einer jener im Kaiserreich als »Reichsfeinde« diffamierten Sozialdemokraten erstes demokratisches Staatsoberhaupt in der deutschen Geschichte wird, macht den verfassungspolitischen Neubeginn weithin sichtbar. Für den Heidelberger Sattlergesellen bedeutet dies die Krönung seines politischen Weges. Der Sozialdemokrat offenbart in seiner Dankesrede an die Abgeordneten sein Amtsverständnis: »Ich will und werde als der Beauftragte des ganzen deutschen Volkes handeln, nicht als Vormann einer einzigen Partei.« Diese Verpflichtung zur Überparteilichkeit, das Leitmotiv des politischen Handelns des ersten Reichspräsidenten, ist ein Novum für ein deutsches Staatsoberhaupt und sollte stilbildend auch für die Bundespräsidenten der zweiten deutschen Republik werden. Der Sozialdemokrat fühlt sich jedoch auch seinen Wurzeln verpflichtet: »Ich bekenne aber auch, dass ich ein Sohn des Arbeiterstandes bin, aufgewachsen in der Gedankenwelt des Sozialismus, und dass ich weder meinen Ursprung noch meine Überzeugung jemals zu verleugnen gesonnen bin.« In diesem Spannungsfeld zwischen Staatsinteresse und Parteiräson steht Ebert sechs Jahre an der Spitze einer von vielen ungeliebten, von außen bedrängten und innerlich zerrissenen Republik.
Vom Sattlergesellen zum Arbeiterführer
Eberts Ursprung war eine Wohnung von knapp 50 Quadratmetern in der Altstadt Heidelbergs, wo er am 4. Februar im Reichsgründungsjahr 1871 als siebtes von neun Kindern eines Schneiderehepaares geboren wurde und die typische Jugend in einem Kleinhandwerkerhaushalt durchlebte. Nach Volksschule und Sattlerlehre ging er Anfang 1889 auf Wanderschaft, auf der er sich der von Staat und Gesellschaft ausgegrenzten Sozialdemokratie anschloss. In Bremen, 1891 Endstation der Wanderschaft, vollzogen sich politisch wie privat entscheidende Weichenstellungen: Hier heiratete er die aus ärmlichen Verhältnissen stammende Fabrikarbeiterin und Gewerkschafterin Louise Rump (1873– 1955) und gründete eine Familie. Hier erwarb er sich auch das Rüstzeug eines Parteiarbeiters. Seine Karriere verdankte er seinem Engagement, seinem Redetalent, seiner Organisationsfähigkeit sowie seinen autodidaktisch erworbenen Kenntnissen in Sozialpolitik und Sozialrecht, die ihn zum versierten Berater der Arbeiterschaft machten, zunächst ehrenamtlich als Gastwirt (1894–1900) und ab 1900 als besoldeter Arbeitersekretär und als SPD-Fraktionsvorsitzender im Bremer Landtag.
Der bald auch über die Region hinaus bekannte Parteiführer wurde auf dem Parteitag 1905 in den zentralen SPD-Vorstand gewählt, wo er sich als Organisator und als Mann des Ausgleichs zwischen den auseinanderstrebenden Flügeln der kontinuierlich wachsenden Partei bewährte, deren Mitgliederzahl bis 1914 auf über eine Million anstieg. Seit den »roten« Wahlen von 1912, bei denen Ebert erstmals ein Reichstagsmandat gewann, stellte die SPD mit 110 von 397 Abgeordneten die stärkste Fraktion. Nach dem Tod des zum »Arbeiterkaiser« stilisierten Vorsitzenden August Bebel wählte der Parteitag in Jena am 20.September 1913 den Heidelberger mit 433 von 473 Stimmen zum Parteivorsitzenden neben Hugo Haase. Auch in der Parteispitze ging es Ebert darum, die politische Schlagkraft der SPD zu erhöhen, um so dem kaiserlichen Klassenstaat Reformen abzuringen. Die tagtägliche Konfrontation mit den Problemen des Proletariats hatte seinen Standort in den ideologischen Grabenkämpfen der SPD geprägt. Er wollte Demokratie und sozialen Fortschritt auf dem Weg der Reform verwirklichen.
Unter dieser Zielsetzung stand auch seine Politik im Ersten Weltkrieg, als weite Teile der SPD mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten im August 1914 ihren Frieden mit der Nation schlossen. Doch die damit begründete und von Ebert bis Kriegsende verfochtene Burgfriedenspolitik, der Verzicht auf Opposition gegen das System, führte die SPD in eine Zerreißprobe. Die Spaltung der Sozialdemokratie, die im Frühjahr 1917 mit der Bildung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) Realität wurde, versuchte er bis zuletzt zu verhindern – vergeblich. Die Gründung einer zweiten sozialdemokratischen Partei, in der sich die Gegner der Burgfriedenspolitik sammelten, stärkte jedoch Eberts Position innerhalb der Mehrheitssozialdemokratie und ermöglichte ein Zugehen auf die bürgerlich-demokratischen Parteien.
Als im September und Oktober 1918 eine erste parlamentarische Regierung gebildet werden sollte, drängte er – trotz der sich abzeichnenden militärischen Niederlage – seine Partei gegen Widerstände zum Eintritt in die Regierung von Reichskanzler Max von Baden. Es sei »verdammte Pflicht und Schuldigkeit« der SPD, sich in die »Bresche zu werfen«, um den ersehnten Frieden herbeizuführen, die Revolution zu vermeiden und die Monarchie zu demokratisieren. In dieser Aufforderung spiegelte sich seine während des Krieges immer stärker gewordene Identifikation mit dem Schicksal der Nation wider, die sich mit einem über die eigene Partei hinausreichenden Verantwortungsethos paarte – beides Elemente, die später sein Handeln als Revolutionsführer und Staatsoberhaupt prägen sollten.
Wegbereiter der Republik
Friedrich Ebert war in der Kriegszeit zu einem auch über die eigene Partei hinaus geachteten Politiker aufgestiegen und zur Schlüsselfigur im durch Krieg und Revolution geschwächten Reich geworden. Als das Kaiserreich in der Agonie lag, der Krieg verloren war und die revolutionäre Welle die fürstlichen Kronen fortspülte, trug der letzte kaiserliche Reichskanzler Prinz Max am Mittag des 9. November 1918 dem SPD-Vorsitzenden die Reichskanzlerschaft an. Ebert akzeptierte: »Es ist ein schweres Amt, aber ich werde es übernehmen.«
Dieser verfassungsrechtlich höchst problematische, aber politisch unausweichliche Akt markiert eine historische Wende: Der Regierungschef des kaiserlichen Deutschland legte dem Vorsitzenden der SPD das Schicksal des Reiches in die Hände. Von dem jähen Zusammenbruch überrascht, trat Ebert in die Verantwortung. Mit der Parlamentarisierung des Reiches, der Abdankung Wilhelms II. und der Übernahme der Regierung waren zentrale Ziele der SPD erreicht worden. Ganz in diesem Sinne formulierte Ebert kurz danach: »Deutschland hat seine Revolution vollendet.« Die Weichen waren gestellt. Wie es verfassungsrechtlich weiter- gehen sollte, ließ er noch offen. Hatte er sich bis zum 9. November noch mit einer »Monarchie mit sozialem Einschlag unter parlamentarischem System« einverstanden erklärt – allerdings ohne den gänzlich diskreditierten Kaiser als Regenten –, so wurde er von der weiteren Entwicklung überrollt. Sein Mitvorsitzender an der Spitze der Partei, Philipp Scheidemann, rief, sehr zum Unwillen Eberts, vom Balkon des Reichstags die Republik aus. Es gab kein Zurück mehr. Jetzt ging es darum, ohne große Verwerfungen den Weg in die Republik zu bahnen, denn, so hatte Ebert Anfang November geschrieben: »Die Demokratie ist für Reich und Volk eine Lebensnotwendigkeit.« Der sozialen Demokratie galt sein Streben.
So begriff er den am Tag nach der Übernahme der Reichskanzlerschaft paritätisch aus SPD und USPD gebildeten Rat der Volksbeauftragten als Konkursverwalter des alten Regimes und als Treuhänder der Macht. Die sechsköpfige Revolutionsregierung hatte in einer der komplexesten Problemlagen deutscher Geschichte das Erbe des Kaiserreiches und die Folgelasten des verlorenen Krieges zu überwinden. Zugleich galt es, den reibungslosen Übergang in den demokratischen Verfassungsstaat zu sichern.
Neben einem auf die Funktionstüchtigkeit des Staates ausgerichteten Handeln und Denken war die Sorge um die Konsolidierung der desolaten wirtschaftlichen und sozialen Lage für den Verzicht der Revolutionsregierung auf einen umfassenden personellen Wechsel in den politischen und militärischen Kernbereichen verantwortlich. Das gehörte zu den Basiskompromissen, die für viele Zeitgenossen und einige Historiker über das unbedingt erforderliche Maß hinausgegangen sind. Damit habe die Revolutionsregierung Chancen zu einer als notwendig erachteten Neuordnung nicht genutzt. Doch der Blick auf das, was nicht geschaffen wurde, hat den Blick auf das, was erreicht und was verhindert wurde, bisweilen verstellt. Es gab nicht nur verpasste Chancen, sondern auch verhinderte Katastrophen. Es war das Verdienst von Ebert und der Revolutionsregierung, dass angesichts der schwierigen Rahmenbedingungen das Chaos vermieden wurde und schon nach so kurzer Zeit ein Reichsparlament seine Arbeit aufnehmen konnte. Darüber hinaus verwirklichte der Rat der Volksbeauftragten am 12. November grundlegende sozialdemokratische Forderungen: Frauenwahlrecht, Verhältniswahlrecht und Achtstundentag wurden eingeführt und die Grundrechte gesichert.
Ebert erreichte in der Revolution das, was er für notwendig und möglich hielt: die parlamentarische Demokratie. Wer beseelt war von dem Glauben, dass die Republik nur dann lebensfähig sei, wenn die im Kaiserreich bestehende gesellschaftliche Kluft zwischen »Reichstreuen« auf der einen Seite und den sozialdemokratischen »vaterlandslosen Gesellen« auf der anderen Seite überwunden werde, und wer weiterhin den Wählerwillen zum Richtmaß politischen Handelns nahm, der konnte keine grundlegend andere Politik betreiben, als sie Ebert in den Revolutionsmonaten verfolgte. Das blieben seine Orientierungsmarken auch als Staatsoberhaupt.
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