Jeder Einzelne

Leseprobe "Der gläserne Verbraucher ist erstmals technisch machbar und bezahlbar – und jeder von uns liefert bereitwillig die Puzzlesteine, auf die gewinnorientierte Firmen angewiesen sind."
Jeder Einzelne

Foto: Adam Berry/Getty Images

Einführung

Wie würden Sie sich fühlen, wenn Ihr Arbeitgeber von Ihnen verlangte, ihm die Passwörter Ihrer Facebook- und Twitter-Konten zu geben? Oder wenn Sie mit dem Wissen in ein Bewerbungsgespräch gingen, dass der potenzielle Arbeitgeber einen Internetdienst einsetzt, der Jahre Ihres Online-Lebens durchkämmt? Vielleicht verfolgt Sie Ihre Versicherung heimlich, still und leise im Netz, um zu entscheiden, ob Ihre Prämien erhöht werden sollten. Und vergessen Sie nicht, dass Ihr heißes Date in der Bar das Telefon herausholt, sobald Sie auf die Toilette gehen, um schnell einige Hintergrundinformationen über Sie abzurufen -- etwa, ob Sie eine Eigentumswohnung besitzen oder bei den Eltern zur Miete wohnen und ein Vorstrafenregister haben.

Das ist keine Science Fiction. Genau so ergeht es einigen Menschen jetzt gerade.

Wie sieht es mit dem Leben Ihrer Kinder aus, die von Geburt an von Unternehmen datentechnisch verfolgt werden, damit sie Werbung rund um ihre digitale Präsenz platzieren können, genau ausgerichtet auf ihre Interessen und Einkäufe - Lied für Lied, Spiel für Spiel, “Stubs” für “Stubs” und “Gefällt mir” für “Gefällt mir”? Wenn Ihr Nachwuchs dann das erste Bankkonto eröffnen will, sind ihre Freunde und Familie dank einer Spiele-App, die ihre Fotosammlung und das Adressbuch hochgeladen hat, schon längst in anonymen Datenbanken kreuz und quer vernetzt. Der Hochschul-Mitarbeiter, der über ihren Stipendiumsantrag entscheidet, wird Suchmaschinen konsultieren, um irgend welche verdächtigen Löcher in ihrer Biografie zu füllen.

Auch das ist keine Science Fiction, sondern passiert Mitmenschen hier und heute.

Es kann durchaus sein, dass Sie am Flughafen landen und wegen eines albernen Beitrages Ihrer Freunde, den die Einwanderungs- oder Zollbeamten in den falschen Hals bekommen haben, abgewiesen werden. Und wundern Sie sich nicht, wenn die Kassiererin im Supermarkt oder die Rezeptionsdame im Hotel weiß, wo Sie letzte Woche waren. Schließlich zieht die neue Kasse die Daten von ortsbezogenen Diensten und sozialen Netzwerken heran, in denen Sie aktiv sind, und kann sie mit einem biometrischen Gesichtsprofil sowie den neuesten Kreditkarteneinkäufen abgleichen. Sie werden wie üblich Ihre Rechnung begleichen. Aber je nach persönlichem Suchergebnis werden Sie vielleicht bevorzugt behandelt oder umgekehrt diesmal keinen Rabatt erhalten - alles abhängig von Ihrem jüngsten Online-Verhalten und vielleicht sogar Ihrer geistigen Verfassung.

Wenn Sie einem Unternehmen Zugriff auf Ihr im Netz gespeichertes DNA-Profil geben, bietet es Ihnen sogar eine VIP-Behandlung an, weil es Ihr Erbgut aufbereiten, untersuchen und weiterverkaufen kann.

Mit Ausnahme des letzten Beispiels des genetischen Marketing ist keines dieser Szenarien erfunden, sondern beschreibt Algorithmen, die bereits in der freien Wildbahn ihr Unwesen treiben, entweder als Pilotprojekt oder als kommerzielles Produkt. Persönliche Daten sind das schwarze Gold des 21. Jahrhunderts, das die Internet-Wirtschaft antreibt. "Umsonst" ist der Standard im Netz, aber der Preis, den Sie für vermeintliche Gratis-Dienste zahlen, sind Ihre personenbezogenen Daten -- je präziser, desto besser.

Unternehmen befinden sich in einem digitalen Goldrausch, um detaillierte Identitäts-Datenbanken anzulegen, die ihnen im Idealfall automatisch und in Sekundenbruchteilen ein komplettes Bild von jedem einzelnen Menschen liefern. Der gläserne Verbraucher ist erstmals technisch machbar und bezahlbar -- und jeder von uns liefert bereitwillig die Puzzlesteine, auf die gewinnorientierte Firmen angewiesen sind, um diese beängstigende Vision Realität werden zu lassen.

Wenig Gedanken macht man sich jedoch über die Frage, welchen Schaden dieses Übermaß an Mitteilsamkeit oder Oversharing und fraglos hingenommener Offenheit an unserer Identität anrichtet, an unserer Rolle als Familienmitglieder und Freunde, als Schüler und Lehrer, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Verbraucher und Bürger. So viel ist sicher: Es ist fast unmöglich geworden, seine Vergangenheit zu bereinigen, geschweige denn als unbeschriebenes Blatt von vorn zu beginnen.

Wie Sie die Kontrolle übernehmen

Dieses Buch ist kein Plädoyer für den Verzicht auf das Internet im Allgemeinen und Soziale Medien im Besonderen. Beide machen einfach zu viel Spaß, um sich ihnen kategorisch zu verweigern. Wir müssen am Leben und am Austausch online teilnehmen, um uns nicht im Sozialen oder in der Karriere zu behindern.

Dieses Buch handelt vielmehr vom aufgeklärten und durchaus misstrauischen Umgang mit beiden Angeboten, und davon, wie Sie die Kontrolle über Ihre eigene Identität bewahren oder zurück erobern.

Sie haben die Wahl: Wollen Sie sich auf eine einzige, maschinenlesbare Größe reduzieren lassen, nur weil es große Unternehmen glücklich macht? Eine einzige Identität für die digitale Welt erleichtert es Internetfirmen, mit uns zu rechnen und zu handeln, aber es steht in diametralem Gegensetz zu allem, was uns menschlich macht.

Ebensowenig handelt dieses Buch von Regierungsspionage. Mit diesem Thema ließe sich gewiss ein Buchregal füllen, aber wir konzentrieren uns auf die kommerziell motivierte Verfolgung von Bürgern und Verbrauchern und wie Sie als Einzelner sinnvolle digitale Selbstverteidigung betreiben können.

Große Unternehmen sitzen auf immer mehr nützlichen Daten über Personen. Daten, zu denen manchmal nicht einmal die Behörden vollen oder zeitgleichen Zugang haben. Das hat seine Vor- wie Nachteile, denn im Gegensatz zu demokratischen Staaten müssen Unternehmen keineswegs im Interesse der Bürgerinnen und Bürger handeln. Sie sind zuerst einmal ihren Anteilseignern oder Anlegern verpflichtet, und die wollen aus Daten und neuer Technologie möglichst schnell Gewinn schlagen.

Aufsichtsbehörden und Politiker in der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten, Indien und China ringen mit der Frage, wie sie Daten und Privatsphäre ihrer Verbraucher und Bürger am besten schützen. Viele der Diskussionen drehen sich um die Grundsatzfrage, ob Datenschutz und Privatheit ein Recht oder eine Ware sind. Gleichzeitig haben Regierungen selbst ein begründetes Interesse am Zugriff auf diese Informationen, wenn es ihnen die eigene Erfassung und Analyse erspart.

Egal wie aufrichtig bemüht und erfolgreich Beamte und Aufsichtsbehörden sind, uns zu schützen, die Gesetze werden immer den Entwicklungen der realen Welt hinterher hinken. Deshalb sind wir als Einzelne gefragt und gefordert, uns um uns selbst zu kümmern, bevor uns der technische Fortschritt vor vollendete Tatsachen stellt.

Viele digitale Dienste sind ohne Frage nützlich. Sie helfen uns, in Kontakt mit Freunden und Verwandten zu bleiben, Zeit und Geld zu sparen, oder ermöglichen es dem Einzelnen, sich selbst zu vermarkten, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen oder der eigenen Eitelkeit zu schmeicheln. Für manche ist der positive Aspekt dieser Dienstleistungen so groß, dass sie darüber einfach den Datenschutz vergessen. Die Privatsphäre ist tot, so das Argument, machen Sie sich frei von dieser veralteten Vorstellung.

Wir sehen das anders. Mit einem Einwand: Der in Diskussionen übliche Begriff der "Privatsphäre" ist unserer Meinung nach in vielerlei Hinsicht veraltet und wird zu oft missbraucht, um wirklich nützlich zu sein. Die dahinter stehende Idee bedarf einer neuen Definition: Es geht um meine Fähigkeit zu entscheiden, wer was über mich weiss, wann und in welchem ​​Kontext.

Oft sagen wir unserem besten Freund nicht das Gleiche, das wir unserem Ehepartner erzählen. Ebensowenig erzählen wir unserem Chef die Dinge, die wir mit unseren Eltern oder Kindern teilen. Wir sind unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Situationen. Und manchmal wollen wir einfach in Ruhe gelassen werden und anonym bleiben. Dieses Buch wird sich mit all diesen Facetten befassen, wenn es darum geht, die Kontrolle über das zu erlangen, was Ihnen wichtig ist -- und wer über die Einzelheiten Ihres Lebens online Bescheid wissen sollte.

Ehrlich rächt sich am längsten

Der Widerstand gegen den Raubbau an personenbezogenen Daten formiert sich langsam, aber sicher. Das Gleiche geschah vor über einem Jahrhundert, als einige Intellektuelle ein Gespräch darüber begannen, wie "Fotografische Aufnahmen und Zeitungsunternehmen in den heiligen Bezirk des privaten und häuslichen Lebens eingedrungen sind." Wie Helen Nissenbaum, Professorin an der Universität New York , in ihrem Buch "Privacy in Context" schreibt, war dies der erste Schritt, um das Recht auf Privatsphäre zu schaffen. Heute bewegt sich alles und wächst so viel schneller, dass sich moderne Kritiker um die langfristigen Folgen dieser riesigen Datenbank in der Cloud sorgen, die alle auf Lebenszeit verfolgen und nie vergessen wird. Der europäische Plan, das “Recht vergessen zu werden” gesetzlich zu verankern, ist ein klarer Hinweis, in welche Richtung die Debatte geht.

Das ist genau der Punkt, an dem dieses Buch ansetzen will. Gehen Sie online und spielen, sagen wir, vernetzen Sie sich und kaufen Sie ein im Netz. Aber denken Sie daran, dass Ihnen Dutzende von Dienstleistern und anderen Firmen auf Schritt und Klick folgen werden. Firmen, von denen Sie noch nie gehört haben, die sich nicht zu erkennen geben, und die Ihre Bewegungen, Absichten und Vorlieben sammeln und katalogisieren wollen. Sie leben davon, die Einzelteile Ihrer Persönlichkeit und Identität -- all das, was Sie zu dem macht, was Sie sind -- Stück für Stück einzufangen und zu vermarkten. Kurzum: Ihre Identität steht auf dem Spiel.

Also warum nicht ab und zu so tun als ob? Warum freiwillig jedes letzte Detail über sich an Menschen und Software preisgeben, die Sie nicht kennen? Lassen Sie uns etwas Sand ins Räderwerk des maschinenlesbaren Lebens streuen und hin und wieder so tun als ob. Let´s Fake It! Ein reibungslos effizientes Leben ist nur ein Ideal der Ökonomen, aber nicht ein Spiegelbild dessen, was uns zu gut abgerundeten, neugierigen Menschen macht. Sie haben das Recht zu schweigen oder albern zu sein, das Recht, erfinderisch zu sein, das Recht, Nein zu Algorithmen zu sagen, und vor allem das Recht in Ruhe gelassen zu werden, um Raum zu haben, darüber nachzudenken, wer Ihnen wichtig ist und was Sie nicht teilen wollen.

Dieses Buch ist in 13 Kapitel unterteilt. Die ersten beiden Kapitel legen dar, warum der Schutz der Privatheit und digitale Selbstverteidigung so wichtig sind und wie viel unsere persönlichen Daten am Markt eigentlich wert sind. Ihnen schließt sich eine Führung durch einen Tag im vernetzen Leben an. Alle Geschichten über Irrungen und Wirrungen des Online-Verhaltens und seine Folgen, die so genannten Fälle, sind wahre Geschichten. Wir identifizieren unsere Gesprächspartner nur mit einem fiktiven Vornamen, denn genau wie Sie haben sie das Recht auf Anonymität. Wir kennen ihre wahren Namen und ihre Kontaktinformationen oder haben ihre Geschichten aus glaubwürdigen und validierten Quellen.

Unsere Fallbeispiele stammen von Menschen auf der ganzen Welt. Das Internet ist global, und so ist auch dieses Buch. Gebrauch und Missbrauch von personenbezogenen Daten sind heute definitiv ein größeres Problem in den USA als in Europa, das Persönlichkeitsrechte und Datenschutz besser gesetzlich verankert hat. Aber fast alle Beispiele in diesem Buch haben sich in Europa zugetragen, und die meisten der betroffenen Unternehmen operieren weltweit.

Beim Lesen dieses Buches werden Ihnen viele Werkzeuge, Tipps und Tricks zur digitalen Selbstverteidigung begegnen, die in Kapitel 12 im Detail erläutert werden. Wir tun dies nicht, um Kriminellen dabei zu helfen, sich im Netz besser zu verstecken oder Verbrechen zu begehen. Aber wie bei allen Werkzeugen lassen sie sich für gute wie böse Zwecke einsetzen.

Sollten Sie in Eile sein und nur einen Ratschlag beherzigen wollen, dann ist es dieser: Wenn Sie online auch nur den leisesten Zweifel haben, halten Sie sich zurück! Veröffentlichen Sie nichts, laden Sie nichts hoch und klicken Sie nichts an. Enthalten Sie den Datenhäschern Ihre Informationen vor. Geben Sie die Identität Ihrer Freunde und Familie nicht preis. Verwenden Sie ein Pseudonym oder Aliasnamen, wenn Sie sich für einen neuen Dienst anmelden. Und löschen Sie Fotos von Ihnen, wo Sie Ihnen online begegnen. Es gibt viele gute Gründe, digitalen Selbstmord schon zu Lebzeiten in Betracht zu ziehen.

Versuchen Sie, reinen Tisch im Netz zu machen, solange es noch möglich ist. Es ist schwieriger, als Sie denken. Aber es lohnt sich. Denn es gibt keinen wirklich zwingenden Grund, Ihr Privatleben nach dem Geschäftsmodell und den dystopischen Vorstellungen des einen oder anderen sozialen Netzwerks einzurichten. Sie können Ihre wahre Identität für bestimmte, klar umgrenzte berufliche und persönliche Zwecke nutzen. Aber sobald andere Aspekte Ihres Lebens im Spiel sind, etwa Unterhaltung auf Facebook oder ein virtueller Schaufensterbummel auf Pinterest, oder wenn jemand, den Sie nicht kennen oder vertrauen, Ihre Daten verlangt, sollten Sie sich angewöhnen, eine fiktive Identität zu benutzen und ihr wahres Ich zu verbergen. In der Welt der Datenhäscher gilt: Immer ehrlich sein rächt sich am längsten. Also zögern Sie nicht -- tun Sie so als ob!

Steffan Heuer & Pernille Tranberg, Winter 2012

02.05.2013, 17:21

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