Demokratie als Narrativ

Leseprobe "Warum haben sich politische Wahlen durchgesetzt, sodass die Legitimation politischer Herrschaft seit Beginn des 20. Jahrhunderts kaum noch ohne Massenpartizipation möglich ist? Wie lässt sich der Erfolg dieses Verfahrens erklären?"
Demokratie als Narrativ

Foto: Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Einleitung

Demokratie als Fiktion

Warum haben sich politische Wahlen durchgesetzt, sodass die Legitimation politischer Herrschaft seit Beginn des 20. Jahrhunderts kaum noch ohne Massenpartizipation möglich ist? Wie lässt sich der Erfolg dieses Verfahrens erklären? Als Antwort finden sich recht eindeutige Erzählungen: Wahlen ermöglichen den Menschen ein gleiches, allgemeines, direktes und freies Mitspracherecht. Folglich haben sich Männer und Frauen dieses Recht im Laufe der Jahrhunderte in Form von Massenwahlen und gegen die politische Autorität erkämpft. Zuerst geschah das in England, dann prominent in den USA und Frankreich. Andere Länder zogen nach, während Preußen mit seiner Demokratieunfähigkeit auf den Abgrund undemokratischer Entwicklungen verweist. »In jedem von uns gibt es etwas, das nach Freiheit schreit«, rief Martin Luther King im Kampf für das Wahlrecht der Afroamerikaner, und gegen alle Widrigkeiten haben sich Frauen und Männer immer wieder diese Freiheit angeeignet, Demokratien errichtet und damit Gleichheit und Gerechtigkeit installiert.

Diese Geschichten sind populär, und sie werden vielfach von der Forschung aufgegriffen. Doch wollten die Menschen tatsächlich von jeher wählen? Und warum wurde der Schrei nach Freiheit ausgerechnet seit der Aufklärung so laut? Und kam er tatsächlich zunächst nur aus den Kehlen von angloamerikanischen oder französischen Männern (denn tatsächlich sind Frauen in diesem Chor lange Zeit kaum zu hören)? Warum setzte sich ausgerechnet das Verfahren der Massenwahlen durch, dessen Technik durch seine Manipulations- und Korruptionsanfälligkeit besonders viele Fallstricke birgt? Damit scheint das Wahlverfahren den Versprechen der Moderne, der Gleichheit, der Freiheit und der Autonomie der Individuen, nicht besonders förderlich zu sein. Wählen bedeutet aber auch deswegen ein gerüttelt Maß an Unfreiheit, weil sich alle dem Mehrheitsentscheid beugen müssen. Würde also nicht das Losverfahren für mehr Gleichheit und Gerechtigkeit sorgen? Und gesetzt den Fall, es würde aufgrund des Freiheits-, Gleichheits- und Selbstbestimmungsprinzips gewählt werden, warum setzte sich dann nicht die direkte Demokratie durch, in der die Dinge unmittelbar vor Ort abgestimmt werden? Warum ging stattdessen Massenpartizipation Hand in Hand mit der Entwicklung des modernen Staates und der Nationskonstruktion?

Da das Narrativ des Freiheitskampfes zur Erklärung offenbar nicht ausreicht, will ich es um drei Thesen ergänzen. Diese untersuche ich in jenem Zeitraum, in dem sich moderne Massenwahlen entwickelt haben: im 19. Jahrhundert. Die Untersuchung soll vergleichend anhand von Preußen und den USA durchgeführt werden, also zweier Länder mit einer als konträr geltenden Wahlgeschichte. Ich möchte dabei vor allem die Praxis der Wahlen untersuchen, auch wenn ich ideengeschichtliche und diskursive Aspekte nicht unbeachtet lassen werde. Durch diesen Zugriff ergeben sich die folgenden drei Thesen: Erstens wurden Wahlen zu Beginn der modernen Demokratiegeschichte eher von oben oktroyiert als von unten eingefordert, und auch im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts erwiesen sich moderne Wahlen zwar nicht immer, aber immer wieder als Elitenprojekt. Zentral erscheint mir die Funktion von Wahlen als Disziplinierungsinstrument der Eliten. Dabei fasse ich Elite diskursiv als einen wertfreien Begriff, der Personen bezeichnet, die sich in den Augen der Mehrheitsgesellschaft im weitesten Sinn durch Machtfülle oder Leistungen auszeichneten und dadurch Einfluss genossen.

Entsprechend entwickelte sich zweitens die Massenpartizipation nicht notwendig aufgrund einer normativen Dynamik, etwa als Freiheitskampf, sondern wurde häufig durch sozialstrukturelle Bedingungen gefördert – wobei sich ideelle und strukturelle Impulse gegenseitig befeuern konnten. Die strukturellen ökonomischen Grundlagen etwa dienten unterschiedlichen Akteursgruppen als Anreiz, Wahlen durchzuführen oder einzufordern: Für die Regierung konnte es beispielsweise in der ersten Jahrhunderthälfte sinnvoll sein, die immer reicher werdende Bevölkerung mit Wahlen zu integrieren, während es für die insgesamt besser gestellten, gebildeten, politisierten Arbeiter in der zweiten Jahrhunderthälfte zweckmäßig wurde, mehr Partizipationsrechte in Preußen einzufordern.

Drittens ergab sich auf der Grundlage eines Sets an spezifischen Ideen und strukturellen Prozessen eine relativ parallele Entwicklung für Preußen und die USA, die den Schluss einer nordatlantischen Geschichte nahelegt und rein länderspezifische Erklärungen für die Ausbreitung der Massenwahlen wenig überzeugend erscheinen lässt.

Dabei waren die USA und Preußen im 19. Jahrhundert grundverschieden. In der Neuen Welt stimmte man stolze Lobgesänge auf die Republik an, Männer präsentierten sich als freie Bürger auf freiem Grund. In Preußen aber herrschte vielfach die Reaktion, und die Obrigkeit unterdrückte Revolutionen und Sozialisten. Universal suffrage hier – Dreiklassenwahlrecht da. Immer wieder werden Preußen und die USA als Gegenpole verstanden. Daher ist es sinnvoll, diese Fallbeispiele zu analysieren. Falls meine Thesen auf beide Länder zutreffen, können bestimmte nationale Erklärungsmuster, die in Demokratie- und Parlamentsgeschichten auftauchen, neu überdacht werden.

Sowohl für Preußen als auch für die USA liegen bereits hervorragende Forschungen zum Thema Wahlen vor, sodass es möglich ist, beide über diesen langen Zeitraum in den Blick zu nehmen. Doch weil sich diese Studie für die genaue Wahlpraxis und ihren sozialen und kulturellen Kontext interessiert, sollen in jedem Land beispielhaft zwei Tiefenbohrungen durchgeführt werden: in je einer ländlichen Gegend – Pommern und South Carolina – und in je zwei Metropolen – Berlin und New York City. Alle vier Regionen sind in gewisser Weise symptomatisch für den ganzen Staat: Pommern mit seiner relativen Rückständigkeit, South Carolina mit seiner einflussreichen Elite in einem (ehemaligen) Sklavenhalterstaat; Berlin als Residenz-, aber auch als Revolutionsstadt, mit seinen Möglichkeiten liberalen und sozialistischen Denkens, New York mit den sozialen und ethnischen Spannungen und seinem hitzigen politischen Leben; schließlich stehen beide Metropolen für den Hochdruck, mit dem Städte im 19. Jahrhundert wuchsen und Innovationen entfesselten. Sämtliche vier Regionen sind zugleich Extremfälle, doch gerade das Extreme kann wie in einem Brennpunkt das Typische verdeutlichen, so etwa die konservative Gesinnung der Menschen auf dem Lande in Pommern oder South Carolina. Wichtig ist dabei allerdings die Einbettung der Befunde in die Zusammenhänge des jeweiligen Nationalstaates, um unangemessene Verallgemeinerungen zu vermeiden. Im Fall Preußen geht der Blick zudem immer auch wieder in die anderen deutschen Länder, weil Preußen eng in den deutschen Kontext eingebunden war, spätestens mit der Reichsgründung 1871 kaum noch eine unabhängige Politik betrieb und weil insbesondere seit Ende des 19. Jahrhunderts sein Wahlrecht als eine gesamtdeutsche Frage diskutiert wurde.

Obwohl es vor allem in der Zeit nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg, der 1865 endete, zu einem Austausch zwischen den Ländern kam und transnationale Prozesse die Entwicklung moderner Wahltechniken wesentlich prägten, geht diese Studie vergleichend vor. Allerdings handelt es sich nicht um einen strengen historischen Vergleich im orthodoxen Sinne. Vielmehr lässt sich die Studie von globalhistorischen Ansätzen inspirieren, die aus ihrem weit schweifenden Blick eine Vielfalt an Erkenntnissen gewinnen können.

Um den Erfolg der Institution Wahlen zu verstehen, gilt es, jene Jahrzehnte in den Blick zu nehmen, in denen sie sich herausgebildet hat. Der Untersuchungszeitraum setzt daher mit der Zeit um 1800 ein und endet mit dem Ersten Weltkrieg, in dessen Vorfeld sich ein gewisser Konsens für allgemeine Wahlen durchsetzen konnte, der dann durch den Brandbeschleuniger des Weltkriegs in vielen Ländern auch das Frauenwahlrecht ermöglichte. Bewusst entscheide ich mich für den Begriff »Moderne«. Moderne bedeutet in diesem Zusammenhang ganz konventionell mit Max Weber gesprochen die Rationalisierung der westlichen Welt. Damit verbunden sind (idealtypisch zugespitzt) die Industrialisierung und ein Anstieg des Wohlstandes, die Konstruktion von Nationen mit dem einhergehenden Gleichheitsanspruch der Bürger, die Differenzierung der Gesellschaft in funktional spezifizierte Teilbereiche, sodass sich Politik, Wirtschaft, Wissenschaft oder Religion zunehmend unabhängig voneinander artikulieren konnten. Moderne bedeutet der selbstbewusste Auftritt des Bürgertums und damit der Anstieg des Bildungsniveaus, die Entwicklung der Presse, die Möglichkeit einer unabhängigen Öffentlichkeit. Koselleck nennt den Anbruch der Moderne »Sattelzeit«: Die westliche Welt überwand das Bergmassiv, und vor ihr lag eine neue, verheißungsvolle Welt. Die Antinomien der Moderne gehören freilich dazu, nationalistische Exklusionsprozesse etwa, Rassismus oder die Disziplinierung des Subjekts. Die ideellen Grundlagen moderner Zeiten lassen sich entsprechend mit den aufklärerischen Forderungen nach Rationalität, nach der Würde des Menschen und nach seiner Pflicht zur Selbstbefreiung identifizieren, aber auch mit einem konservativen Sicherheitsbedürfnis, mit Ängsten und der Sehnsucht nach Traditionen. Vor allem die Freiheitsdiskurse waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts Elitendiskurse, doch entwickelten sie eine faszinierende Dynamik. Gewiss, »Moderne« und »Modernisierung« sind hochumstrittene Begriffe. Wenn man sich ihnen aber ohne akademische Ressentiments nähert, bieten sie ein theoretisches Modell mit hoher Erklärungskraft.

[...]

24.08.2017, 13:58

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