Kapitel 1
Das Ende
Ein grauer Endnovembermorgen, kurz nach 8 Uhr. Bohrende Geräusche an der Eingangstür zu meiner Wohnung in der Kölner Südstadt, und, ehe ich mich aus dem Bett schälen kann in meinem Schlafzimmer, noch mehr Krach und plötzlich Menschen in meinem Wohnzimmer. Zwei Rettungssanitäter und der bösartige Typ von der Kanzlei, die meine sogenannte Betreuung übernommen hat. Der Mann, der mich in einer E-Mail als völlig irre und krank bezeichnet hat. Steht da, lange Haare und Hornbrille, und fordert mich ziemlich unsanft auf, sofort mitzukommen, ohne mir die Möglichkeit zu geben, meine Siebensachen einzupacken. Zeigt mir das Dokument des Amtsgerichtes, das diesen Eingriff legitimiert: Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik.
Ich protestiere. Ich sage ihm, dass ich nichts ohne meinen Anwalt tun werde und dass ich ihn jetzt anrufe. Ich wähle die Nummer meines Anwaltes, mit dem ich mich gegen die Betreuung wehren will und der meine zahlreichen Strafanzeigen unterstützen soll, erreiche aber niemanden. Ich bin total nervös, ratlos, sitze an meinem Tisch, noch im Pyjama. Die Sanitäter wissen nicht genau, wie sie sich verhalten sollen und beobach- ten mich. Der Mann mit der Hornbrille drängt. Ich versuche, so viele Dinge wie möglich zu packen, werde aber immer wieder von ihm dazu angehalten, mich auf das Allermindeste zu beschränken und jetzt mitzukommen. Ich ziehe mir eine Hose und einen Pulli über den Pyjama und lasse mich wegführen.
Das ausgewechselte Schloss liegt auf dem Klavier, die Späne der Tür im Halbkreis auf dem Fußboden. Ich werfe einen letzten Blick auf meine Wohnung und ergebe mich immer noch nicht ganz in mein Schicksal.
Auf der Treppe versuche ich es wieder bei meinem Anwalt. Im Rettungswagen kommt schließlich eine Verbindung zustande. Wie so oft in den vergangenen drei Jahren, tröste ich mich selbst, nachdem der Anwalt mir zugesichert hat, dass er mich in der Klinik aufsucht. Ich tröste mich mit der Hoffnung, dass sich doch noch alles aufklären und mir Gerechtigkeit zuteil wird. Ich spiele mit meinem Schlüssel und den wenigen Habseligkeiten, die ich in einer Tüte mitgenommen habe. Ich friere in dem Rettungswagen, aber die Fahrt dauert nicht lange. Das Stück Weg hätte man auch zu Fuß gehen können, denke ich, ehe der Wagen vor einem mehrstöckigen Haus zum Stehen kommt.
Dann noch zwei Treppen hoch, bis wir vor einer Tür anhalten, die von innen aufgeschlossen wird. Ich bin in einer geschlossenen Abteilung. Die Sanitäter und der Mann mit der Hornbrille verabschieden sich. In einem Ambulanz-Zimmerchen werde ich aufgefordert, persönliche Gegenstände abzugeben und bekomme einen Raum zugewiesen, worin bereits eine Patientin untergebracht ist. Mein Raum hat die Nummer eins und liegt direkt neben dem Zimmerchen, das offenbar die Anlaufstelle für alle darstellt. Dort gibt es zu den Mahlzeiten Medikamente, dort ist immer jemand zu erreichen. Dort treffen sich die Ärzte und Pfleger.
Einer, Dr. P., nimmt sich Zeit, sich meine Geschichte anzuhören. Und die geht in etwa so: »Das hier alles ist ein großes Missverständnis. Denn ich bin überhaupt nicht krank. Ich bin nicht krank, sondern ich bin jahrelang mit falschen Diagnosen als »psychisch krank« etikettiert worden und irrtümlich in eine Mühle hinein geraten. Ich wurde als Kind entführt und meiner tatsächlichen Eltern beraubt, in Berlin, denn ich bin eigentlich die Nichte von John F. Kennedy, mein Vater ist Mick Jagger. Fragen sie nicht, warum das nicht richtig zusammenpassen will, wenn Sie in die Geschichtsbücher schauen, aber es ist so. Das Amtsgericht hat falsch entschieden. Haben Sie noch Fragen?«
Dr. P. hatte ein paar Fragen. Und nachdem ich Ende März 2016 entlassen wurde, gab es für mich selbst noch viel mehr Fragen. Oberflächlich war alles wieder in Ordnung. Ich war nicht mehr psychotisch, das heißt, ich war nicht mehr in meinem eigenen Wahngebilde gefangen. Ich stand zwar unter Druck, weil meine Eigentumswohnung versteigert worden war und ich die Räume verlassen musste, ich stand unter Druck, weil ich meinen Arbeitsplatz verloren und meine Lebensversicherung aufgebraucht hatte, ich stand unter Druck, weil wohlmeinende, aber meiner Meinung nach ziemlich falsch liegende Ratgeber in der Klinik mir eine Frühverrentung ans Herz gelegt hatten – und ich alles andere wollte, als nicht zu arbeiten. Aber ich war wieder in der »normalen« Welt. Ich hatte sogar einen neuen Job. Ich hatte trotz Schufa-Einträgen über meine Betreuerin eine Wohnung gefunden, war also nicht obdachlos.
Aber ich war tief gefallen. Im Prinzip lag mein Leben in Trümmern wie noch nie. Zwar hatte ich schon früher Psychosen gehabt. Aber sie waren nicht von so langer Dauer, es war immer jemand da gewesen, der mich irgendwie auch während der akuten Krankheitsphase erreichen konnte, so dass ich schließlich Medikamente nahm, was mich dann wieder die Wirklichkeit erkennen ließ. Ich hatte noch nie meine Arbeit verloren, war noch nie von sozialem Abstieg bedroht gewesen. Diesmal war es anders.
Ich hatte insgesamt zwei Jahre und einige Monate mehr oder weniger alleine in meinem Wahn gelebt. Viele Beziehungen sind in dieser Zeit zerbrochen, viele Kontakte abgebrochen. Noch in der Klinik, als mir langsam dämmerte, dass ich mich an kruden Illusionen festgehalten hatte, habe ich versucht, mich für mein Verhalten zu entschuldigen und abgerissene Fäden wieder aufzunehmen. Das Ergebnis war gemischt: Viele antworteten nicht, einige sagten explizit, dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollten, andere waren völlig unvoreingenommen und gaben mir eine Chance: Sie akzeptierten, dass mein Verhalten während der Psychose etwas mit einer Krankheit, einer frühkindlichen psychischen Verletzung zu tun hatte und gingen dann ganz ohne Vorbehalte wieder mit mir um. Das war meine Rettung.
Ohne diese positiven, winzigen Erfolge, ohne diese positive Rückmeldung durch andere Menschen hätte ich es nicht bis zu dem Punkt geschafft, an dem ich heute stehe. Zwar stehe ich noch lange nicht dort, wo ich einmal war oder wo ich wieder hinmöchte. Aber ich habe mich aufgerafft, zunächst unter Pseudonym und jetzt mit diesem Buch, unter meinem richtigen Namen, meine Geschichte zu erzählen. Es soll eine Einladung sein, sich mit diesem sperrigen Thema zu beschäftigen, darüber zu diskutieren. Je mehr es aus seiner Sonderecke herauskommt, je weniger es tabuisiert wird, desto einfacher ist ein Leben mit der Diagnose »psychisch krank«, desto besser können Betroffene, Angehörige, Freunde, Bekannte und Kollegen damit umgehen.
Denn ich habe schmerzlich feststellen müssen, dass eine große Sprachlosigkeit und Scham herrscht, wenn es um Psychosen geht. Viele Menschen haben eine Heidenangst davor. Es ist ein riesiger Unterschied, wie andere mit mir (und anderen Erkrankten wahrscheinlich) umgehen, je nachdem, ob sie von meiner Erkrankung wissen oder nicht. Dabei sind recht viele von Psychosen direkt oder indirekt betroffen, allein unter Schizophrenie leidet ein Prozent der Bevölkerung weltweit. Besonders kränkend ist es für mich, wenn ich gegen Mauern anrenne; wenn Menschen mich auflaufen lassen, das Gespräch mit mir verweigern – macht ja nichts, ist ja nur so ’ne »Bekloppte«.
Auf der anderen Seite: Wenn ich die Chance habe, anderen zu erklären, was da mit mir los war, dann reagieren die meisten positiv und mitfühlend. Also muss ich einfach nur meinen Beitrag dazu leisten, dass endlich Bewegung in dieses sehr zähe, schwere Thema kommt. Muss daran glauben, dass sich eine Gesellschaft auch in diesem Punkt fortentwickeln kann und wird.
Zunächst einmal gehört dazu die eben schon erwähnte, breite gesellschaftliche Diskussion. Wenn sich alle – Betroffene, Angehörige, Freunde, Bekannte und Kollegen, Therapeuten und Ärzte, Personalverantwortliche sowie diejenigen, die bislang nichts damit zu tun haben – beteiligen, können vielleicht Antworten, oder zumindest Annäherungen gefunden werden auf die vielen Fragen, die psychische Krankheiten aufwerfen. Eine Krankheit wie die Schizophrenie bringt nämlich zurzeit noch so viele Belastungen mit sich, dass es nur sehr schwer möglich ist, sie auszuhalten und zu stemmen. Wenn jetzt etwa wenigstens die Stigmatisierungen abnehmen würden, wäre das ein Fortschritt, der Betroffenen ihr Leben erheblich erleichtern könnte. Das wäre ein Anfang, der vieles in Bewegung bringen könnte.
Und ich gehe noch ein bisschen weiter: Es gehört ein frischer Wind auch in die Praxen der niedergelassenen Psychiater und in die Kliniken. Dort haben sich Verhärtungen eingenistet, zumindest teilweise, die ebenfalls kontraproduktiv für den Heilungsprozess sind, oder um es anders zu formulieren, in den Prozess, der sich in Richtung Heilung bewegen könnte.Ein frustrierter Psychiater wird wohl kaum in der Lage sein, mit einem ebenfalls frustrierten Patienten Perspektiven zu erarbeiten. Viele haben angesichts der Schwere der Krankheit und der Anfälligkeit für Rückschläge, die Menschen mit Psychosen aufweisen, kapituliert. Das darf nicht sein. Psychisch Kranke sind nicht der Bodensatz der Gesellschaft, den man aussondern darf.
Ich bin Historikerin. Psychisch Kranke waren die erste Opfergruppe, die von den Nazis zu Versuchszwecken vergast und entsorgt wurden. Es wäre meine große Hoffnung, dass auch diese »Gruppe« eine Chance bekommt, alte, miefige Vorstellungen über sich in die Mottenkiste der Geschichte zu verbannen. Was, wenn die Forschung mehr Mittel ausgibt, um Medikamente zu entwickeln, die kaum noch Nebenwirkungen haben, wenn endlich allgemein anerkannt wird, dass Psychotherapie doch einen Beitrag zur Verbesserung der Krankheit leisten kann, wenn psychisch Kranke dann eine Perspektive bekommen und sie die Tabletten weniger ablehnen, wenn die Gesellschaft mit Psychosen umgeht wie mit Diabetes? Und sich die Betroffenen in deren Mitte fühlen? Und das alles im Vergleich zu Zwangssterilisierungen und Elektroschocks als Behandlungsmethode noch vor gar nicht allzu langer Zeit? Wie schön wäre das?
Das ist wahrscheinlich viel zu hoch gegriffen. Im Moment noch. Das heißt aber nicht, dass es nicht irgendwie losgehen oder weitergehen muss. Der Schriftsteller Thomas Melle hat es vor zwei Jahren mit seinem Roman »Die Welt im Rücken« ganz mutig vorgemacht (und andere, etwa Dorothea Buck, haben das früher auch schon getan). Er hat mit seinem Namen zu seinem seltsamen Verhalten während seiner Psychose gestanden und es zu erklären versucht. Ich möchte jetzt das Thema journalistisch und unter Beteiligung einiger Leidtragender und Beobachter anpacken. Ich habe mich dazu entschlossen, aber noch ein wenig Angst.
Was wird diese Veröffentlichung für meinen weiteren beruflichen Weg bedeuten? Was, wenn ich wieder meinen Job verliere, was, wenn Personaler mich, wenn ich mich künftig bewerbe, aussondern? Was, was, was ...?
Aber es hat keinen Zweck. Angst überwinden. Meine Geschichte erzählen. Hier ist sie.