Hier wird es wieder Leben geben
Meine letzten Gedanken sind noch nicht ganz verflogen, da reißt mich Gabriel, unser treuer Begleiter, aus der Starre. Wir sind unterwegs, wieder einmal im Irak, in Sindschar. Wir fahren durch diese Gegend, die fast aussieht wie aus einem apokalyptischen Blockbuster – nur düsterer und zerstörter, und ich fühle mich immer elender. Es ist nicht meine erste Tour in ein Kriegsgebiet, es sind nicht die ersten Toten und Gräber, zerbombten Häuser und Autos, die ich gesehen hatte. Seit Jahren bin ich in Regionen unterwegs, in die kaum ein Westler gekommen war, geschweige denn ein deutscher Journalist. Doch Sindschar erschüttert sogar mich.
Gabriel also reißt mich aus meinem Vor-mich-hin-Brüten und zeigt auf einen Schutthügel. Er beginnt zu sprechen, auf Aramäisch, seine Muttersprache und die Sprache meines Clans. Gabriel, dieser schwerbewaffnete Kämpfer, erzählt mir, dass hier in seiner alten Heimatstadt, bevor der IS ihm dieses Zuhause geraubt hatte, eine syrisch-orthodoxe Marienkirche gestanden hatte. Ich weiß nicht genau warum, aber Erinnerungen an meine Kindheit, an meine Eltern steigen auf. Ich fange an zu lächeln, mitten in dieser zerbombten Einöde, und sammele meine Kräfte. Ich rappele mich auf, renne los, renne wie von Sinnen, immer auf das zerstörte Kirchengebäude zu. Rone, ein anderer Kompagnon, ruft noch, ich solle vorsichtig sein, ich würde jeden Augenblick in eine verdrahtete Mine hineinlaufen. Ich sehe die Mine tatsächlich erst in diesem Moment, weiche aus, renne aber weiter, bis ich an einem Schutthaufen angekommen bin. Von der Verzierung der Treppe, die einst die Kirchenräume verbunden hatte, sticht aus dem Schutt und der Asche ein teils verbogenes Kreuz heraus. Ich grabe, ich wühle es mit meinen blanken Händen aus den Trümmern. Meine Begleiter müssen mich in dem Moment für verrückt halten. Doch mir ist das egal. Fast andächtig nehme ich das, was von diesem heiligen Ort übriggeblieben ist, in meine Hand. Ich stelle das Kreuz auf, ramme das spitze Ende in den Boden und beginne zu beten:
»Herr, der du für uns am Kreuz gestorben bist, bitte vergib mir.
Vergib mir, dass ich den Glauben an dich verloren habe.
Vergib mir, dass ich vergaß, was mich meine Eltern einst lehrten.
Vergib mir, dass ich nicht mehr wusste, was Liebe ist.
Herr, vergib mir, dass ich auf dem falschen Weg war und so wie die zu werden drohte, die so viel Leid über die Menschen gebracht haben.«
So bete ich leise vor mich hin. Für mich alleine. In Gedanken bei Gott. Bei meinen Eltern, meinen Geschwistern, meinen Freunden.
Ich weiß nicht mehr, wie spät es ist. Nichts kann mich in diesem Moment stören, als ich die Wärme spüre, die mein Herz berührt. Ich beginne endlich, wieder etwas zu fühlen. Und als ich fühle, weiß ich, dass ich lebendig bin. Ich sage nur noch zwei Worte: »Danke, Herr.«
In diesem Augenblick klopft Gabriel auf meine Schultern. Ich bin mir nicht sicher, ob er etwas ahnt, doch die Fröhlichkeit in seinem Gesicht, dieser Moment des Glückes, nach all den Verlusten, die er erlitten hatte, irritiert mich. Gabriel zeigt mit der Hand in eine Richtung, und ich verstehe: Mitten in den Trümmern, den Mondkratern, den die Bomben geschlagen haben, mitten in dieser grauenvollen Verwüstung steht in dem früheren Garten der Kirche ein Olivenbaum. Unbeschadet, mit sattem Grün, die Sonne glitzernd in den Zweigen, die sich im Wind leicht regen. Gabriel packt mich am Arm, seine Wangen glühen und seine Stimme zittert, und er stößt, voller Freude, hervor: »Das ist ein Olivenbaum. Das Zeichen des Lebens. Hier wird es wieder Leben geben.«
Einleitung
Wenn ich heute darüber nachdenke, wie mein Leben verlaufen ist und aus welchem Grund ich dies alles mache, so kann ich nur eine Erklärung geben: Ich habe auf meine innere Stimme gehört. Zum Leidwesen meiner Eltern, meiner Geschwister und meiner Exfrau. Eigentlich hatte ich alles, was man als junger und ehrgeiziger Mensch in einer westlichen Industrienation haben kann: einen Topmanager-Posten, finanzielle Absicherung, all die Annehmlichkeiten der westlichen Welt. Eigentlich. Stattdessen blicke ich zurück auf Jahre voller Abenteuer, nicht selten voll schmerzerfüllter Erinnerungen, auf die Bilder vergewaltigter Frauen und Mädchen, enthaupteter Männer, zerfetzter Leichen. Mein Leben war ursprünglich weit weg davon. Doch entkommt man so tatsächlich den Problemen dieser Welt?
Nein. Früher oder später würden sie uns einholen. Ob wir wollen oder nicht. Der Nahe Osten ist der Hotspot unserer Gegenwart. Gut sechzig Prozent der gesamten Erdölvorkommen liegen in dieser geschichtsträchtigen Region, vierzig Prozent der weltweiten Gasvorkommen. Europa und eine industrielle Welt benötigen billige Energie, um den gewohnten Lebensstandard aufrechterhalten zu können. Doch es ist Wahnsinn zu glauben, dass wir auf ewig so weitermachen dürfen. Früher machte ich mir keine großen Gedanken darüber, weil ich die Konsequenzen unseres Konsums nicht direkt mitbekam. Ich sah nicht die vielen Toten, die Schlachtfelder, die Lügen, weswegen Kriege geführt werden und Millionen Menschen ihr Leben lassen müssen.
Die innere Stimme hatte auch gar nichts damit zu tun, am Anfang zumindest. Es war stattdessen ein innerer Drang, mich auf die Suche nach meiner Vergangenheit zu machen, nach der Geschichte meiner Vorfahren im nahöstlichen Raum. Damals noch mit einem Schwarz-Weiß-Bild im Kopf, das die Welt in eine freie, meistens christliche Welt, und eine dunkle, meistens islamische Welt, unterteilte. Im Islam sah ich das Übel aller negativen Entwicklungen.
Im religiösen Dogmatismus, besonders im politischen Islam, der, ob man nun will oder nicht, die gesamte Gesellschaft in Geiselhaft nimmt, sehe ich nach wie vor einen der Verursacher der aktuellen Konflikte. Gerade die autoritäre Auslegung des Islam ultraorthodoxer Prägung, mit einem Absolutheitsanspruch behaftet, eignet sich perfekt dazu, eine patriarchalische Gesellschaft zu legitimieren, die Frau zu entmündigen und um blinde, wütende und zu allem entschlossene Krieger in den Dschihad zu entsenden. Allerdings begriff ich bald: Religion ist eben auch nur ein Instrument. Eine Zutat, die man einem Konflikt mit verschiedenen Akteuren mit vielen anderen Zutaten beimischt, bis sich daraus eine toxische Mischung ergibt. Aber nur eine Zutat unter vielen.
Die Kraft des Glaubens ist mir gerade als Christ in zweierlei Hinsicht bewusst, im positiven wie im negativen Sinn. Ohne die Hoffnung auf und den Glauben an einen gütigen und liebenden Schöpfer, der verzeiht und für uns alle einen Platz hat, würde ich heute wahrscheinlich nicht diese Zeilen verfassen. Weil ich oftmals einer tödlichen Situation entkommen und mit unvorstellbaren Grausamkeiten konfrontiert worden bin, mag manch einer denken, dass ich vielleicht den Verstand verloren hätte. Das habe ich nicht. Was ich verloren habe, was ich hinter mir gelassen habe, war ein Leben in einem Hamsterrad, auf einem wichtigen Posten in einem global agierenden Konzern sitzend, immer dem Profit hinterherjagend. Auch wenn ich dafür weitere Opfer in Kauf genommen habe, inklusive einer Scheidung von einem Menschen, den ich liebte, und viel Schmerz, den ich vor allem meiner Mutter bereitete, so bin ich mir zu einhundert Prozent sicher, dass ich das Richtige getan habe. Ich folgte und folge immer noch einem Ruf und kam dadurch nicht nur meinem Glauben viel näher, als es in der westlichen Welt möglich gewesen wäre. Nein, ich machte in den letzten Jahren einen gewaltigen Transformationsprozess durch, der mein Innerstes nach außen stülpte und mich dem Frieden näher brachte, so paradox das klingen mag. Und zwar gerade in dem Moment, als Bombenkrater, Minen und verkohlte Leichenfetzen dschihadistischer Kämpfer meine Umgebung säumten.
Die folgenden Erzählungen schildern diesen Transformationsprozess. Ein persönlicher Prozess, der über meinen Krieg und meinen Frieden erzählt. Der aber auch einen anderen Blick auf die Welt zulässt und zeigt, dass und wie Frieden möglich ist und warum ich daran glaube. Gerade weil ich dort war.