Früh übt sich

Leseprobe "Er liest und liest und liest, flieht in die Welt der Bücher. Mit Sprache weiß er schon früh umzugehen, weshalb ihm seine Mutter rät: 'Junge, du musst später etwas machen, wobei du quatschen kannst.'"

I. Hamburg, Oldenburg und Kiel

Der Mann, der in den dramatischen Tagen der Finanzkrise im Oktober 2008 den »Sparerinnen und Sparern in Deutschland« garantiert, dass sie »nicht befürchten müssen, einen Euro ihrer Einlagen zu verlieren«, wird gehört, wenn er sich zu Wort meldet. Zwei Bücher hat Peer Steinbrück verfasst, viele Wochen lang standen sie ganz oben auf den Bestsellerlisten. Die Menschen interessiert, was er zu sagen hat.

Peer Steinbrück ist weder zurückhaltend noch diplomatisch. Er redet gerne, direkt und unverstellt. Er tritt vor der Bausparkasse Schwäbisch Hall auf, bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Peine oder der SPD in Mettmann. Neuerdings hält er Vorlesungen an der Universität Leipzig. Regelmäßig reist er ins Ausland. Steinbrück spricht im Deutschen Bundestag und lässt sich in Talkshows befragen. In seinem Büro türmen sich Einladungen und Interviewanfragen.

Peer Steinbrück versteckt sich nicht. Und doch ist das Leben dieses 65-jährigen Mannes keineswegs erzählt. Es ist ein Leben mit einem steilen Aufstieg und einigen Rückschlägen. Aus einem Beamten im Bundesbauministerium wurde der Ministerpräsident des größten Bundeslandes. Dann scheiterte Steinbrück in Nordrhein-Westfalen. Ein halbes Jahr später stieg er zum Bundesfinanzminister auf, wurde verlässlicher Partner der Kanzlerin und landete im Jahre 2009 erneut in der Opposition. Doch selbst als einfacher Abgeordneter brachte und bringt Steinbrück es zu höchsten Popularitätswerten.

Derjenige solle Kanzlerkandidat werden, der die größten Chancen besitzt, die Bundestagswahl zu gewinnen, befindet der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel am 1. Mai 2010. Dieser Tag ist ein wichtiges Datum im Leben von Peer Steinbrück. Lange schloss Steinbrück aus, als Spitzenkandidat der SPD in eine Bundestagswahl zu ziehen. »Wollen Sie mich umbringen?«, parierte er einst entsprechende Fragen. »Das stand nie zur Debatte. Ich bin es nicht, und ich habe auch nicht die Qualitäten dafür«, befindet er vor der letzten Bundestagswahl im Sommer 2009. Es dauert auch nach Gabriels Statement eine Weile, bis sich Steinbrück mit dem Gedanken anfreundet. »Ich bin aus dem Spiel« und »Mit einer Kanzlerkandidatur kokettiert man nicht«, sagt er im Herbst 2010. Doch weder Parteifreunde noch Journalisten nehmen ihm diese Bescheidenheit ab. Brüsk aber weist er Nachfragen zurück. »Ich bitte das Missverständnis nicht weiter zu kolportieren, ich sei bereit irgendwelche Ämter, Funktionen oder Kandidaturen zu übernehmen«, sagt Peer Steinbrück noch im Oktober 2010. Wenig später klingt das ganz anders. »Der Zeitpunkt wird kommen, wo ich mich in Absprache jedenfalls mit zwei oder drei Führungspersönlichkeiten der SPD darüber zusammensetze«, verkündet er im Mai 2011. In seinem gemeinsamen Gesprächsband mit Helmut Schmidt spricht sich dieser Altbundeskanzler für eine Spitzenkandidatur Steinbrücks aus.

Wer ist dieser Mann, dem mancher zutraut, Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden?

Familie

Peer Steinbrück kommt als erster von zwei Söhnen der Eheleute Ernst und Ilse Steinbrück zur Welt. Er wird am 10. Januar 1947 in Hamburg geboren.

Zu seinen Vorfahren zählen Seefahrer, aber auch ein paar Leute von Rang und Besitz. Peer Steinbrücks Urgroßvater Hugo Delbrück und dessen Bruder Adelbert bauten das Seebad Heringsdorf auf Usedom, wo deutsche Unternehmer und Politiker im 19. Jahrhundert oft Urlaub machten. Sein Urgroßonkel Adelbert Delbrück gründete 1870 in Berlin die Deutsche Bank. Doch Ernst und Ilse Steinbrück, seine Eltern, zählen nicht zum Hamburger Großbürgertum. Sie wohnen neben anderen Familien in einem Mietshaus aus der Jahrhundertwende am Schrötteringksweg, Stadtteil Uhlenhorst, einen halben Kilometer von der Außenalster entfernt. Weiße Stadthäuser mit majestätischen Eingängen säumen diese kurze Straße, ebenso rote Backsteinhäuser aus den 1920er-Jahren und Zweckbauten aus der Nachkriegszeit. In Barmbek sei er aufgewachsen, wird Steinbrück später einmal in einem Interview sagen, »in einem Stadtteil, wo man sich auf der Straße durchsetzen musste«. Proletarisch klingt das, proletarischer, als es das durchaus feine Uhlenhorst heute vermuten lässt.

Seine Eltern erziehen ihr Kind eher liberal als autoritär, auch wenn der Vater dem kleinen Peer manchmal den Hintern versohlt. Die Steinbrücks haben ›Die Welt‹ abonniert, sie gelten als liberal. Der Vater ist 1914 in Pommern geboren und in Hamburg Architekt geworden. Er entwirft das Gebäude der Gothaer Versicherung an der Alster, hält sich letztlich aber für einen nicht außergewöhnlich guten Architekten und verdient sein Geld deshalb später mit Schadensgutachten für Gebäude. Ernst Steinbrück schätzt Konrad Adenauer, den ersten Bundeskanzler und CDU-Vorsitzenden. Bis 1965 wählt er, so vermutet sein Sohn heute, die Christdemokraten. 1969 stimmt er dann, wohl vor allem auf Drängen seiner Frau, für Willy Brandt. Ernst Steinbrück stirbt im Jahre 1998.

Peer Steinbrücks Mutter, 1919 als Ilse Schaper geboren, entstammt einer Hamburger Kaufmannsfamilie mit dänischen Wurzeln. Mitte der 1930er-Jahre verbrachte sie eine längere Zeit bei Verwandten in Dänemark und Schweden, wo sie sich dem »Bund Deutscher Mädel« entziehen konnte. Ilse Schaper hörte Jazz, ging tanzen und erlebte ein ungezwungenes Zusammenleben von Frau und Mann. Sie ließ sich zur Hutmacherin und Schneiderin ausbilden und empfand es als völlig normal, dass eine Frau einen Beruf ergriff. Anfang 1939 kam sie nach Hamburg zurück – in ein anderes, ihr fremdes Land. Niemand durfte hier sagen, was er denkt, und Jazz zu hören war politisch gefährlich. Unter dem Datum ihrer Rückkehr von Kopenhagen nach Hamburg vermerkte sie in ihrem kleinen Kalender: »Jetzt kehre ich in diese Diktatur zurück.« Als Peer Steinbrück mehr als 70 Jahre später die Hinterlassenschaften seiner Mutter sortiert, liest er diese Worte. Ilse Schaper hatte jüdische Freunde, denen es gelungen war, Deutschland früh zu verlassen. Zu ihrer dänischen Verwandtschaft zählte ein Arzt, den die Nazis nachts per Telefon aus dem Haus riefen. Sie un- terstellten ihm, dem Widerstand anzugehören. Am nächsten Morgen wurde der Arzt erschossen aufgefunden.

»Meine Mutter«, sagt Peer Steinbrück, »hat in ihrem Freundeskreis sehr früh die Judenverfolgung mitbekommen und nach dem Krieg darunter gelitten, dass Hamburger Bürger, die wie sie die Transporte am Hamburger Hauptbahnhof gesehen hatten, noch in den 1960er-Jahren so taten, als ob das alles nicht stattgefunden habe. Diese Verleugnung wollte sie nicht akzeptieren. Diese Haltung hat die Erziehung von mir und meinem Bruder geprägt.«

Ernst Steinbrück und Ilse Schaper lernten sich während des Krieges kennen, 1942 in einem Café in Bansin auf Usedom. Über seine Kindheit und Jugend sagt Peer Steinbrück, dass »die Familienstrukturen intakt« gewesen seien. Anders als etwa Gerhard Schröder, Sigmar Gabriel oder Klaus Wowereit wächst er in behüteten Verhältnissen auf. Beide Elternteile leben, ihre Ehe hält. Dass seine Mutter immer wieder auf den Nationalsozialismus zu sprechen kommt, ist in den 1950er-Jahren nicht selbstverständlich, und schon dem zehnjährigen Peer Steinbrück fällt auf, dass in anderen Familien dazu geschwiegen wird. Seine Großmutter und Mutter erzählen viel von früher. Wenn Besuch da ist, kommt es manchmal zu heftigen und lautstarken Diskussionen. Der Sohn hat die Mutter als eine Frau in Erinnerung, die sich engagiert dagegen wehrt, die Naziherrschaft zu verharmlosen und zu verdrängen. Wie sein Vater zum NS-Regime gestanden hat, sagt er nicht. Ilse Steinbrück schätzt Brandt und wählt Jahre früher als ihr Mann die SPD. Sie ist eine selbstbewusste, resolute Frau, der historische Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit wichtiger zu sein scheinen als die im Bürgertum weit verbreitete Ansicht, die Vergangenheit nun erst einmal ruhen zu lassen und nach vorne zu schauen. Einer Erwerbsarbeit geht sie, so ist es für Ehefrauen und Mütter im Westen Deutschlands durchaus üblich, nicht nach. Später betreut sie ehrenamtlich Alte und Kranke. Ilse Steinbrück stirbt im September 2011.

Der Hamburger Jung, der da inmitten der Trümmerlandschaften der Nachkriegszeit heranwächst, hat den Kopf mit Dingen voll, die Kinder seines Alters beschäftigen. Er träumt davon, eines Tages Pirat oder Lokführer zu werden. Er ist, wann immer es geht, draußen unterwegs, spielt in zerbombten Gebäuden und in den Hinterhöfen der Nachbarschaft. Zerrissene Hosen und kaputte Knie gehören zu Peer Steinbrücks Kindheit. Mit seinen Freunden bildet er eine Bande, die sich mit anderen Kindern immer wieder prügelt. Während des Bandenspiels ist Steinbrück kein Anführer, er steht eher in der zweiten Reihe.

An Ehrgeiz aber mangelt es ihm nicht. »Peer wollte immer gewinnen«, sagt sein jüngerer Bruder Birger, der im Mai 1951 geboren wird. Daheim pflegen die beiden Brüder und ihre Mutter Humor und Ironie. Dem Vater indes fehlt dieser ausgeprägte Sinn, er erträgt jene Veranlagung seiner Familie aber mit einer »großen Toleranz und Souveränität«, wie sein Sohn Peer Jahrzehnte später schildert. Vielleicht ist Ernst Steinbrück zu sehr Pommer, als dass er das ausgiebige Spiel mit Worten genießen könnte. Gelegentlich fühlt er sich durch die ironische Ader von Frau und Kindern ausgegrenzt. Birger Steinbrück wiederum beherrscht verbale Boshaftigkeiten, und der ältere Bruder fällt diesem »großartigen Spott«, wie er sagt, bis heute zum Opfer. Einen »Meister des Wortbildes« nennt Peer Steinbrück seinen Bruder.

Peer Steinbrück besucht ab 1953 die Volksschule Humboldtstraße, die nur wenige hundert Meter vom Elternhaus entfernt ist. Für den Weg zur Schule muss er manchmal Umwege machen, denn in bestimmten Straßen lauern Kinder- und Jugendbanden. Dort drohen Prügel. Steinbrück und seine Kumpel halten es in ihrem Hoheitsgebiet ebenso. Er kauft gern im Krämerladen bei »Tante Reimers« ein, Bonbons und Gewürzgurken etwa. Zuweilen lässt er anschreiben und sammelt so erste Erfahrungen mit dem Kreditwesen. Sechs Jahre alt ist Peer Steinbrück, als ihm seine aus Dänemark stammende Großmutter das Schachspiel beibringt. Die geliebte Oma aber schenkt ihm in den Partien nichts. »Sie war der Auffassung, dass es echt sein muss, wenn ich mal gegen sie gewinne. Deshalb hat sie nie absichtlich einen Fehler gemacht«, erzählt Peer Steinbrück im Rückblick. Im Alter von 13 Jahren setzt er seine Großmutter erstmals schachmatt. Dieser Triumph ist hart erarbeitet und stärkt das Selbstbewusstsein des jungen Mannes. Ein in Hamburg lebender Onkel, der Bruder der Mutter, zählt ebenso zu Peer Steinbrücks Schachpartnern, später auch sein Bruder Birger, zu dem er bis heute ein enges Verhältnis hat. Die beiden sehen sich oft. Sie segeln gemeinsam, manchmal mit weiteren Freunden. Birger Steinbrück ist ein Regatta- und Hochseesegler, sein Bruder bezeichnet sich als Amateur.

Peer Steinbrück mag schon in jungen Jahren Bücher, Comics und Zeitungen, eine Zuneigung, die bis heute anhält. Er liest, was er kriegen kann, den Abenteuer-Comic ›Cisco‹ ebenso wie ›Mecki‹ und ›Nick Knatterton‹. Die Eltern haben, das ist in den 1950er-Jahren ungewöhnlich, nichts gegen derlei Lektüre einzuwenden. Cartoons von ›Prinz Eisenherz‹ finden sich in einer Zeitschrift, die Steinbrücks Großmutter abonniert hat – er reißt ihr die Hefte regelrecht aus der Hand. »Bei Cisco und Prinz Eisenherz waren die Guten und die Schlechten noch klar zu erkennen«, erinnert sich Steinbrück. »Das hat sich in meinem späteren Leben geändert.« Während der Olympischen Spiele 1956 in Melbourne wird er zum Zeitungsleser. Seine bis heute währende Liebe zum Kino erblüht noch früher. Er ist fünf Jahre alt, als Freunde ihn an einem Sonntag um 13 Uhr in die Jugendvorstellung der Ufa Schauburg mitnehmen. Der Junge ist extrem aufgeregt. »Doch bevor der Film losging, kam meine Großmutter wie eine Furie ins Kino gerast und hat mich rausgeholt. Sie wusste nichts von meinem Ausflug.« Mit sechs Jahren sieht Steinbrück seinen ersten Kinofilm, ›Pinocchio‹. Er habe »Rotz und Wasser geheult«, sagt er heute.

Tränen fließen auch, als Peer Steinbrück bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1958 das Halbfinale am Radio verfolgt. Deutschland spielt gegen Schweden, geht mit einem Treffer von Hans Schäfer in Führung – und verliert schließlich 1 : 3. Im Jahr zuvor schon hat er ein Fußballspiel am Fernsehen gesehen, der Hamburger SV gegen Borussia Dortmund, das Finale der Deutschen Meisterschaft. Der HSV geht unter, der Endstand lautet 1 : 4. Im Alter von zehn bis etwa 15 Jahren spielt Peer Steinbrück selbst Fußball, meistens auf der Straße. Später spielt er Basketball und Tennis. Rhetorisch ist Steinbrück seinen Generations-Genossen schon in jungen Jahren überlegen. Er liest und liest und liest, flieht in die Welt der Bücher. Mit Sprache weiß er schon früh umzugehen, weshalb ihm seine Mutter rät: »Junge, du musst später etwas machen, wobei du quatschen kannst.«

05.07.2012, 07:02

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