1
Ich war zwölf Jahre alt, als die Welt, in der ich bisher zu Hause war, verschwand. Gerade noch hatte ich auf der Liege im Behandlungszimmer gesessen, mit baumelnden Beinen und angemessenem Desinteresse an den Worten, die meine Mutter mit der Ärztin wechselte, ich hatte an meine Freundinnen gedacht, die in diesem Moment auf dem Schwebebalken balancierten, und mich geärgert. Geräteturnen mochte ich besonders gern, und dann verpasste ich auch noch eine Doppelstunde. Außerdem schien draußen die Sonne.
Im schattigen Zimmer hatte die Ärztin mit der Untersuchung begonnen, sie hatte geklopft und gehört und getastet und mir schließlich mit einem kleinen Gerät ins Ohr geleuchtet. Der Trichter hatte die Härchen in meinem Gehörgang gekitzelt und sich falsch angefühlt, so falsch; wie ein paar Jahre zuvor der Finger einer anderen Ärztin, den sie mir in den Po gesteckt hatte, um herauszufinden, warum ich Bauchschmerzen hatte. Danach hatte ich mich übergeben.
Jetzt schwoll ein Rauschen in meinen Ohren an, wie die schnell heranrollenden Wellen an der Atlantikküste, die ich aus dem Urlaub kannte, sie schwappten eiskalt über meine Extremitäten, während gleichzeitig eine Sonne in meinem Magen durch den Rumpf nach oben strahlte und meinen Nacken verbrannte. Schwarze Punkte lösten sich aus der Gestalt der Ärztin und begannen, vor meinen Augen zu tanzen, sie hakten sich bei anderen Punkten unter und bildeten eine Reihe von Funkenmariechen, die unablässig auf und ab hüpften, bis ich die Augen schloss und mich ergab. Wem ergab ich mich? Ich wusste es nicht. Ich war weg und doch da, wilde Träume zackten durch mein Bewusstsein, alles war laut und schnell und spitz und dauerte Milliarden von Jahren.
Hallo?
Hallo, kannst du mich hören?
Als ich wieder aufwachte, pfiff das Meer seine Wellen zurück, die Ebbe machte Platz für eine matte Stille, die sich zu dem Schweiß auf meinen Körper legte. Die Funkenmariechen stoben seitwärts. Im Meer spiegelte sich verschwommen ein Gesicht, das ich nicht kannte.
Wo bin ich?
Hier, du bist hier. Du warst ohnmächtig.
Jemand hob meine Beine an und schob etwas darunter. Jemand brachte Wasser, ich trank. Jemand legte seine kühle Hand auf meine Stirn. Da war meine Mutter, da die Ärztin, da das Fenster. Draußen schien die Sonne.
Alles war wieder wie vorher. Nichts war wieder wie vorher.
2
Fünfzehn Minuten später kippte ich ein zweites Mal um.
Die Ärztin hatte uns zuvor erklärt, dass so etwas schon mal vorkomme, gerade bei jungen Mädchen im Wachstum, außerdem sitze im Ohr der Gleichgewichtssinn und der sei eben empfindlich. Kein Grund zur Sorge. Dann hatte sie uns nach nebenan geschickt, weil sie für den Allergietest, aufgrund dessen wir eigentlich da waren, eine Blutprobe brauchte. Im Nebenzimmer wies mich eine ruppige Sprechstundenhilfe an, mein Oberteil hochzuziehen, ich blickte auf das Durcheinander an medizinischen Geräten und Arzneifäschchen in Umzugskisten, das genauso aussah, wie ich mich fühlte, und während ich mich noch fragte, warum die Ruppige keine Spritze in der Hand hatte und meinen Arm desinfizierte, sondern eine Stelle an meinem oberen Rücken, rammte sie mir einen metallischen Spatel in den Nacken.
Meine Mutter fing mich geistesgegenwärtig auf und verhinderte Schlimmeres. Später erzählte sie mir, sie sei genauso überrascht gewesen wie ich, da die Ärztin nicht erwähnt hatte, dass sie für den Allergietest Blut brauchte, das mit Lymphfüssigkeit versetzt ist.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einem Papierbezug, der an meinem entblößten Rücken kratzte. Am Fußende der Liege stand eine Gestalt, deren schemenhafte Umrisse mir vage bekannt vorkamen, doch erst als sie anfing zu sprechen, erkannte ich, um wen es sich handelte.
»Du machst Sachen«, sagte die Angst und hob eine Augenbraue. »Muss ich mir Sorgen machen?« Ich wischte eine Träne weg, die sich aus meinem Augenwinkel gelöst hatte und Anstalten machte, über meine Wange zu rollen. Die Angst setzte sich rittlings auf die Liege und schaute sich um.
»Was ist das hier überhaupt für ein Zimmer? Ich dachte, Sperrmüll ist erst nächste Woche.«
Ich unterdrückte ein Kichern. Die Angst sagte immer solche Erwachsenensachen, die mir nicht im Traum eingefallen wären. Wobei, eingefallen schon, aber ich hätte mich niemals getraut, sie auszusprechen, vor allem, da die Sprechstundenhilfe noch im Raum war. Der Angst war das egal. Ihr ging es nur darum, mich zu beschützen, und dass sie hier war, bedeutete: Die Lage war ernst.
»Hör mir jetzt mal gut zu«, sagte die Angst. »Diese Ärztin ist nichts für dich.« Sie beugte sich zu mir und sprach eindringlicher. »Am besten gehst du überhaupt nie wieder zum Arzt.«
»Warum denn?«
»Weil das wieder passieren wird. Spürst du die Kreppaufage unter dir? Jedes Mal, wenn du in Zukunft eine rascheln hörst, wird dir aufs Neue schwummrig werden. Jedes Mal, wenn du ein Otoskop auch nur von Weitem siehst, wird dein Herz anfangen zu klopfen. Und dann: bumm!«
»Was ist ein Otoskop?«
Die Angst formte mit Daumen und Zeigefinger eine Pistole.
»Das Ding, mit dem dir die Ärztin ins Ohr geleuchtet hat.«
Dann strich sie mir übers Bein und lächelte.
»Versprich mir einfach, dass du dich von Ärzten fernhältst.«
Ich versprach es.
Als ich später in der Schule meine Entschuldigung vorzeigte, schaute die Sportlehrerin vorwurfsvoll auf ihre Armbanduhr.
»Warum hat das denn so lange gedauert?«
Weil ich etwas zum ersten Mal erlebt habe, wollte ich sagen, etwas Schreckliches. Weil meine Welt eine andere geworden ist. Der Einfachheit halber, und da die Stunde gleich zu Ende war, beschränkte ich mich jedoch auf den ebenso wahren Satz: »Ich bin umgekippt.«
Die Lehrerin musterte mich gründlich. Dann blies sie in ihre Trillerpfeife, winkte die anderen Mädchen Richtung Umkleide und sagte fast beiläufig, schon im Umdrehen begriffen: »Also in meiner Familie ist noch nie jemand in Ohnmacht gefallen.«
Obwohl ich das Wort Stigmatisierung damals noch nicht kannte, bekam ich zum ersten Mal eine Ahnung, wie sie sich anfühlt.
3
An guten Tagen wache ich auf und bin eine Schildkröte. Dann spaziere ich bepanzert bis an die Zähne durch die Straßen und verrichte gemächlich mein Tagewerk, Tunnelblick an und los, im Bauch ein Gefühl wie Hühnerfrikassee: warm, weich und muskatig. An diesen Tagen kann mir niemand was. Zu dick die Haut, zu hart die Hornschilde. Der Panzer ist die Verkörperung der Warentrenner an der Supermarktkasse, ein natürlicher Abstandhalter zwischen mir und dem Rest der Welt. Meins, deins. Und nein, ich bezahle nicht für die Probleme der Person, die hinter mir in der Schlange steht. Manchmal glaube ich, dass die Mehrheit der Menschen keinen anderen Zustand kennt. Die dicken, alten Männer im Fernsehen, die selbstsicher auftretenden Politiker, die immer lachende Verkäuferin im Gemüseladen: lauter zufriedene Schildkröten.
An schlechten Tagen wache ich auf und bin ein Sieb. Geräusche, Gerüche, Farben, Stimmungen und Menschen plätschern durch mich hindurch wie Nudelwasser, ihre Stärke bleibt an mir kleben und hinterlässt einen Film, der auch unter der Dusche nicht abgeht. An diesen Tagen ist alles zu laut, zu nah, zu präsent. Diesen Zustand als dünnhäutig zu bezeichnen wäre untertrieben, denn da ist keine Haut; sie hat sich über Nacht abgeschält, und die Organe liegen blank und pochen vor sich hin. Als Sieb ist immer Tag der offenen Tür. Herzlich willkommen, treten Sie ein und treten Sie zu, die Fassade bröckelt schon. Dazu kommt das Gefühl, die Welt um mich herum sei unwirklich, oder ich bin es, jedenfalls passen wir nicht zusammen, und ich taumele durch den Tag, immer auf der Suche nach etwas, woran ich mich festhalten kann. Depersonalisation heißt das im Fachjargon, aber das hilft einem dann auch nicht weiter.
Manchmal gibt es ein paar Schildkrötentage am Stück, manchmal dehnen sie sich aus zu Schildkrötenwochen, manchmal zu Schildkrötenmonaten. Aber irgendwann wird der Panzer wieder porös. Meistens, wenn ich nicht damit rechne.
4
Ich hatte auch nicht damit gerechnet, später ständig in Konferenzen rumzusitzen. Als ich mir eine Zukunft als Autorin oder Journalistin ausmale, finde ich besonders die Idee attraktiv, in Ruhe an Sätzen zu feilen, die andere Leute später in Ruhe lesen. Das Papier als Überbringer meiner Gedanken, als zwischengeschaltetes Element. Klar will ich auch rausgehen, Menschen treffen, aber die Texte danach an meinem Schreibtisch verfassen, in meiner Komfortzone, mit Musik auf den Ohren und den Füßen im Trockenen.
Stattdessen sind meine Füße meistens nasskalt, als ich beginne, in der Onlineredaktion der taz zu arbeiten.
Ich bin regelmäßig Chefin vom Dienst, das bedeutet: Seite planen, Überblick behalten, Nachrichten einordnen. Und in die Morgenkonferenz gehen, um dort den anderen Chefs vom Dienst die Themen des Tages vorzutragen. Die meisten sind deutlich älter als ich – mit 24 Jahren bin ich die Jüngste im ganzen Haus –, teilweise schon seit Gründung der taz dabei und wahnsinnig selbstsicher. Es gibt eine ausgeprägte Diskussionskultur und eine Lust am Streiten, die mir fremd ist. Manchmal kommt es mir vor, als würde nur etwas gesagt, um etwas zu sagen, eine Art tierisches Aufplustern: Hallo, ich bin auch da!
Ich hingegen will eigentlich gar nicht hier sein. Anstatt mich zu beteiligen, sitze ich in der zweiten Reihe und beobachte meine Kolleginnen und Kollegen: im Nacken verschränkte Arme, wippende Schuhspitzen, Kritzeleien in der Zeitung, spöttische Blicke, Münder, die gähnen, Münder, die reden, Münder, die von Barthaaren umsäumt sind; ich schließe die Augen und versuche, an der Stimme zu erkennen, wer gerade spricht, Trefferquote: zehn von zehn. Meine Aufmerksamkeit ist ein ungezogenes Hündchen, das überall sein Bein hebt, nur nicht da, wo es soll. Kaum zurückgepfiffen, büxt es wieder aus. Vielleicht eine Art Überforderung, wie früher in der Schule. Keine Ahnung von Geometrie, aber das Nasolabialfaltentrapez des Mathelehrers mit geschlossenen Augen karikieren können. Am Ende läuft es jedenfalls immer darauf hinaus, dass die anderen über Inhalte diskutieren, während ich ihre Mimik und Gestik studiere. Ich sehe zwar, wie sich ihre Münder bewegen, aber ich höre nicht, was sie sagen.
Natürlich gehe ich davon aus, dass alle so genau hinschauen wie ich. Man schließt ja dumpfdoof immer von sich auf andere, als Sozialphobiker erst recht. Und das bedeutet: Meine Performance muss stimmen. Jeder Versprecher, jedes Zittern der Hände, jedes noch so füchtige Erröten wird sonst von den Kollegen notiert und fießt in die Bewertung meiner Person ein. Setzen, sechs.
Dass ich in der Konferenz immer als Letzte an der Reihe bin, verschlimmert die Situation zusätzlich. Nervosität ist eine Pfanze, die schnell und stetig wächst, und eine Stunde ist lang. Genug Zeit, um sie zu wässern und zu düngen, sodass sie neue Blätter ausbildet und ihre Knospen aufknallen, eine nach der anderen: Poff, poff, poff.
Wenn ich dann endlich meine lächerlichen drei Sätze aufsage, hört kaum mehr einer zu. Schließlich müssen Seiten gebaut werden! Und ich denke jedes Mal: War doch gar nicht so schlimm. Aber das denkt sich leicht, wenn es vorbei ist.
Ab und zu versuche ich Freunden zu erklären, was mit mir los ist. »Du hast eben Lampenfieber«, sagen sie. »Das hat jeder. Kein Grund zur Sorge.«
Nein, widerspreche ich, das ist es nicht. Oder – nicht nur.
»Was denn noch?«, fragen die Freunde.
Und ich sage: »Ich habe Angst, in Ohnmacht zu fallen.«
Ich sage das in einer Art Schutzhaltung, mit eingezogenem Kopf, nur darauf wartend, dass eine große Verständnislosigkeit über mir zusammenbricht. Was sie auch jedes Mal tut.
»Aber warum sollte das passieren?«, fragen die Freunde.
Andersherum gefragt: Warum nicht?
5
Als die Französischlehrerin uns auftrug, ein Referat über ein Buch unserer Wahl zu halten, wusste ich sofort, dass ich mich für »Der Schaum der Tage« von Boris Vian entscheiden würde. Schon der fünfte Satz war eine Offenbarung: »Colin legte den Kamm hin, griff zur Nagelschere und schnitt die Ränder seiner schlaffen Augenlider schräg, um seinem Blick Geheimnis zu verleihen.« Genau mein Humor.
Mit realistischen Beschreibungen von medizinischen Vorgängen hatte ich seit dem Zwischenfall bei der Ärztin zwar große Probleme, da genau das eingetroffen war, was die Angst prophezeit hatte – sie katapultierten mich direkt wieder zurück in den Behandlungsraum und lösten Schwindel und Herzrasen aus, egal, ob jemand davon erzählte, ich einen Film sah oder in einem Buch darüber las –, aber der Surrealismus war meine Rettung. Eine Parallelwelt, in der kein Tumor in der Lunge wuchert, sondern eine Seerose, in der eine Maus eine Katze um Sterbehilfe bittet und von jeder Seite eine Sonne in die Wohnung scheint. Zu abstrakt, als dass ich mich ernsthaft in die Situation hineinversetzen könnte.
Das Referat sollte eine halbe Stunde dauern und war entscheidend für die Note im Zeugnis, also bereitete ich mich gründlich vor. Ich besorgte mir das Stück »Chloe« von Duke Ellington, das Vian zu seiner weiblichen Hauptfigur inspiriert hatte und das ich zu Beginn spielen wollte, recherchierte über den Zusammenhang zwischen Jazz und Literatur und sprühte nur so vor Kreativität. Keinesfalls wollte ich einen dieser langweiligen Vorträge halten, in denen einfach uninspiriert die Handlung des Buches wiedergegeben wird. Das hatte Boris Vian nicht verdient, und, wie ich fand, meine Mitschülerinnen und Mitschüler auch nicht.
An einem Mittwoch war es schließlich so weit. Während ich vor dem Lehrerpult stand und aus den Lautsprechern die verfremdete Posaune des Intros von »Chloe« ertönte, whaaaaaa-whaa-wha-wha-whaa, ließ ich meinen Blick durch das Klassenzimmer schweifen. Was ich sah, war allerdings nicht das, was ich erwartet hatte. Desinteressierte Blicke, auf Reclamhefte kritzelnde Hände, kichernde und tuschelnde Lippen. Die Lehrerin saß mit verschränkten Armen auf der Heizung, als würde sie auf etwas warten.
Vielleicht war das der Zeitpunkt, an dem ich versagte. Anstatt mein Programm einfach durchzuziehen, mit der Selbstsicherheit eines Kabarettisten, der genau weiß, dass er die Zuhörer irgendwann knackt, ließ ich mich verunsichern. Ich blendete die Musik früher aus als geplant und begann mit meinem Vortrag. Im Zimmer wurde es ruhig.
Als ich gerade die ersten zehn Minuten hinter mich gebracht hatte, öffnete sich schwungvoll die Tür und knallte gegen die Wand. Die Angst schlenderte herein, den Rucksack nachlässig über eine Schulter geworfen. Sie winkte mir zu und setzte sich in die letzte Reihe. Ich zwinkerte ein paarmal kräftig. Bisher hatte sich die Angst noch nie für die Schule interessiert. Vielleicht war das dieser Surrealismus.
Ich schaute auf die Karteikarten, die in meinen Händen zitterten, und versuchte, den verlorenen Faden wieder aufzunehmen. Die Schrift verschwamm vor meinen Augen, ich hörte, wie jemand etwas sagte, konnte aber nicht verstehen, was. Meine Achselhöhlen kribbelten. Um Halt zu gewinnen, setzte ich mich auf das Lehrerpult und fuhr mit meinem Vortrag fort.
Nach einigen Minuten schnipste jemand mit den Fingern. Ich unterbrach meinen Satz und sah, wie die Angst aufstand.
»Ich habe eine Frage«, sagte sie.
»Jetzt nicht«, sagte ich. »Fragen erst am Ende des Referats.«
»Es ist aber wichtig!«, rief die Angst.
Die Lehrerin rutschte auf der Heizung herum. »Ist alles okay bei dir?«, fragte sie.
Ich nickte und zischte in Richtung der Angst: »Dann schieß los.«
»Ich wollte wissen«, sagte die Angst, »ob es dir nicht peinlich ist, so aufgeregt zu sein.«
Ich konnte es nicht fassen. Anstatt mich zu unterstützen, fing die Angst plötzlich an, mich zu sabotieren. So kannte ich sie gar nicht.
»Sag mal, was stimmt nicht mit dir? Ich habe eben Lampenfieber. Das ist ganz normal.«
»Tja«, sagte die Angst, »das denke ich nicht. Überleg doch mal. Der Schwindel, die kalten Hände, das Herzklopfen ...«
Ich horchte in mich hinein.
»... wie damals bei der Ärztin, stimmt’s?«
Die Angst fixierte mich.
»Auf was willst du hinaus?«, fragte ich. Kalter Schweiß bildete sich über meiner Oberlippe. »Einmal ist zweimal. Du könntest jederzeit wieder umkippen.«
Die Angst beugte sich nach vorn und stützte ihre Hände auf den Tisch.
»Und was sollen dann deine Klassenkameraden denken?«
Der Schwindel wurde stärker. Was, wenn die Angst recht hatte? Auf meinen Körper war kein Verlass, das hatte der Arztbesuch deutlich gezeigt. Vielleicht war das, was ich hier gerade fühlte, wirklich kein Lampenfieber, sondern eine feindliche Übernahme. Ein Angriff auf mein Bewusstsein.
Eine drohende Ohnmacht.
Das Referat beendete ich wie im Traum, ohne zu wissen, was ich gerade erzählte. Es sollte nicht das letzte Mal sein.
6
Während das Lampenfieber echt ist und mich in der Gegenwart festhält – schließlich habe ich wirklich feuchte Hände, Herzklopfen und einen trockenen Mund –, ist die Ohnmacht eine dystopische Zukunftsvision, sozusagen der Worst Case, der dann doch nie eintrifft. Gefühlt befinde ich mich jedoch ständig kurz vor dem Knock-out.
Ich bin bereits ein Jahr lang Redakteurin, und meine Nervosität in der Morgenkonferenz hat nicht etwa abgenommen, sondern sich noch gesteigert. Sie hat mich sogar labiler gemacht als anfangs, was all die gut gemeinten Ratschläge der Freunde – »Das vergeht, je öfter du in der Situation bist« – als Lügen enttarnt. Es hilft offenbar nicht, eine Situation immer und immer wieder zu erleben, um sich an sie zu gewöhnen.
Und dann kommt der Tag, an dem ich kapituliere. Vielleicht habe ich in der Nacht zu wenig geschlafen, vielleicht ist die Luft stickiger als sonst, vielleicht kommen auch mehrere Dinge zusammen, ich weiß es nicht. Was ich genau weiß: Ich halte es kaum aus auf meinem Stuhl. Während die anderen dafür kämpfen, dass ihr Thema auf die prominente Seite drei kommt, sitze ich auf meinen nassen Händen, um mich am Weglaufen zu hindern. Mein Schädel wummert, als würde jemand einen Massagestab dagegenhalten, mein Blut kocht, meine Achseln kribbeln. Alles ist in Aufruhr.
Angstschweiß stinkt übrigens immer, trotz Deo. Er riecht viel beißender als der Schweiß an einem heißen Tag oder beim Sport, vielleicht, um den Angreifer auch olfaktorisch in die Flucht zu schlagen. Was einigermaßen sinnlos ist, wenn sich der Angreifer in meinem Kopf befindet.
Als mein Sitznachbar das Wort ergreift, als sei dieser Ausdruck nur für ihn erfunden worden – er nimmt sich beinahe physisch den ihm ganz selbstverständlich zustehenden Raum –, sind alle Blicke auf ihn gerichtet. Fast alle. Ich sitze ja direkt daneben, im augenwinkligen Sichtfeld, und ich spüre sie auch. Wenn ich jetzt also umkippte, wenn die Ohnmacht jetzt von mir Besitz ergriffe, hätte ich die volle Aufmerksamkeit der Anwesenden. Was die Ohnmachtsgefühle noch verstärkt.
Wenn, wenn, wenn.
Ich stelle mir vor, vom Stuhl zu rutschen und – Falsch: Mein Gehirn stellt sich vor. Ich bin daran nicht wirklich beteiligt, an den Kapriolen meiner Synapsen, an den Purzelbäumen meiner Gedankenstränge; was auch immer da in meinem Kopf passiert, passiert ohne mein Zutun. Das ist ja das Schlimme. Keine Kontrolle, nirgends.
Mein Gehirn stellt sich also vor, dass ich vom Stuhl rutsche, auf den Boden knalle und weg bin, aber das ist noch nicht alles, denn die Steigerung ist das Zurückkommen, und das gestaltet sich nicht etwa sanft gleitend, sondern eher als ruckartiges Hineinkatapultieren in die Wirklichkeit. Sämtliche Kolleginnen und Kollegen stünden mit besorgten Gesichtern in einem Halbkreis über mir, und das in einer Situation, in der man vollkommen ausgeliefert ist, hilfoser als ein Baby, da man nicht einmal weiß, wer man ist und wo.
Danach Getuschel im Treppenhaus: »Was war denn mit der los?« Das will ich um jeden Preis vermeiden. Also bloß weg hier, raus, schnell. Ich täusche einen Hustenanfall vor und laufe aus dem Raum, auf dem Weg mehrfach nachdrücklich hustend, um später nicht der Fahnenfucht bezichtigt zu werden. Als würde das jemanden interessieren. Am Waschbecken im Toilettenraum lasse ich mir eiskaltes Wasser über die Unterarme laufen und schaue in den Spiegel: Da ist die Angst, aber da bin auch ich, seltsam konturlos und verschwommen, und eine lmreife Überblendung macht es unmöglich, uns auseinanderzuhalten.
Zum ersten Mal habe ich meinen Einsatz verpasst. Zum ersten Mal bin ich aus der Situation gefüchtet, die mir Angst macht. Ich brauche Hilfe. Oder ich muss kündigen.