Kapitel 1
1993
Stephen Armstrong hatte sich immer für einen anständigen Kerl gehalten. Die Einsicht, von einem Geheimnis zu wissen, das ihn sein Leben kosten könnte, überraschte ihn daher ziemlich. Er grübelte gerade darüber nach, als Archie Sinclair die Stimme hob, um das Radio zu übertönen.
»Während einer Ermittlung auf einem Friedhof in West Belfast heute am späten Vormittag wurde ein als Grab getarntes Waffenlager entdeckt. Die Polizei erklärte, bei den gefundenen Waffen handele es sich unter anderem um eine abgesägte Schrotflinte, zwei Handfeuerwaffen und ein automatisches Gewehr.«
»Das war einfach grandios, als der Typ sich in Metall verwandelt hat und all das. Ich sag dir, in Zukunft wird es vor allem Comic- Verfilmungen geben.« Stephen blickte durch das Schaufenster von East-End-Video auf den vorbeiströmenden Feierabendverkehr und hinüber zum Ormeau Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es war ein schöner Nachmittag im Februar und noch immer nicht dunkel, dabei war es schon beinahe halb fünf. Schmale Lichtstreifen fielen durch die kahlen Bäume und warfen ein blassgoldenes Streifenmuster auf die Spazierwege. »Der war eindeutig besser als dieser andere Film, den du mir empfohlen hast. Ich interessiere mich eigentlich nicht für Science- Fiction, aber wenn Arnie mitspielt, kann’s eigentlich nicht schlecht sein, oder?«
»Die Polizei ermittelt im Fall einer Schießerei in einer Taxi-Firma an der unteren Newtownards Road in East Belfast, die sich heute Nachmittag ereignet hat.«
Wenn er die Augen zusammenkniff, konnte Stephen hinter den Baumwipfeln das Ashby-Hochhaus der Queen’s University an der Stranmillis Road erkennen. Er fragte sich, ob Donal vielleicht dort herumhing und in der Studenten-Cafeteria einen Espresso trank. Donal hatte gestern Abend erwähnt, er würde Maschinenbau oder etwas in der Art studieren, und Stephen hatte so eine Ahnung, dass der Fachbereich sich im Ashby-Gebäude befinden könnte. Auch wenn er noch nie in seinem Leben eine Universität betreten hatte.
»In der vergangenen Nacht wurden im Market Quarter Schüsse auf einen katholischen Mann abgegeben. Er wurde am Kopf getroffen und starb wenig später im Krankenhaus. Die Kriminalpolizei vermutet, dass die Ulster Volunteer Force für den Anschlag verantwortlich ist …«
»Wee Minty behauptet, der Typ, der den Bösen spielt, soll angeblich schwul sein, aber ich meine, dass ist totaler Schwachsinn. Der ist doch viel zu brutal für einen Homo.« Oje, wenn du wüsstest, dachte Stephen. Tag für Tag saß er hier auf diesem hohen Hocker hinter dem Tresen des Videoverleihs und wurde von allen als harter Bursche angesehen. Er war groß und ziemlich kräftig, hatte im Laufe der Jahre einige handfeste Auseinandersetzungen durchgefochten und hübsche Narben davongetragen.
Stephen war mit Männern zur Schule gegangen, die Verbindungen zu den Loyalisten hatten. Mit Männern also, die solche Anschläge guthießen, von denen gerade im Radio berichtet wurde. Männer, die nicht die leiseste Ahnung davon hatten, dass Stephen hundertprozentig schwul war und sehr zufrieden damit. Wenn sie davon Wind bekämen, würde sein Laden garantiert nicht länger von den Schutzgeldzahlungen ausgenommen werden, die andere hier in der Straße leisten mussten. Außerdem würde man ihn in seiner Stammkneipe bestimmt nicht mehr fragen, ob er sich nicht einer der paramilitärischen Einheiten anschließen wollte. Er hatte derartige Angebote immer ausgeschlagen, ohne groß darüber nachzudenken, aber die Reaktion seines jeweiligen Gegenübers war jedes Mal schwer vorhersehbar gewesen und hatte immer irgendwo zwischen freundschaftlich und aggressiv gelegen. Schließlich mied er seine Stammkneipe und besuchte lieber eins der anderen Lokale an der unteren Ravenhill Road oder My Lady’s Road, bloß um sich diesen Blödsinn vom Leib zu halten. Aber in jeder Bar saß einer von denen herum und suchte nach jungen Kerlen, die bereit waren, für Gott und Ulster in den Krieg zu ziehen.
»… der Mann hatte eine protestantische Freundin in der Lisburn Road. Die Polizei vermutet, dass dies der Grund für seine Ermordung sein könnte.«
Diese Männer ahnten ja nicht, dass Stephen heute Morgen im Bett eines sechsundzwanzigjährigen Studenten aufgewacht war. Ein sehr attraktiver, sehr männlicher, sehr katholischer Student aus Warrenpoint, der Donal hieß und zurzeit in Belfast auf die Uni ging. Für Stephen war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. »Der arme Kerl, bloß weil er katholisch war. Und seine Freundin tut mir auch leid«, sagte Archie.
Archie hatte keinen blassen Schimmer von Stephens Sexleben. Aber Archie hatte von vielen Dingen nicht den geringsten Schimmer. Er war mit sechzehn von der Schule abgegangen ohne irgendeinen Abschluss in der Tasche. Und jetzt, mit einunddreißig, war er gerade mal eine Woche älter als Stephen und arbeitslos. Jedenfalls im formalen Sinn. Archie war so etwas wie der stille Teilhaber dieses Videoverleihs und holte alle vierzehn Tage pünktlich und gewissenhaft seine Arbeitslosenunterstützung ab. Falls irgendein übereifriger Staatsbeamter ihn hier hinterm Tresen neben Stephen herumlungern sah, würde er behaupten, er sei bloß gekommen, um seinem Kumpel Gesellschaft zu leisten. Stephen und Archie waren tatsächlich Freunde. Archies Vater war Seemann bei der Handelsmarine gewesen und hatte die Familie verlassen, als sein Sohn noch klein war. Von ihm hatte Archie seinen schmächtigen Wuchs geerbt. Er war eine einfache Seele und immer zu klein für sein Alter gewesen, weshalb er in der Schule ständig herumgeschubst wurde. Einige der Schlägereien, in die Stephen während seiner Teenagerzeit geraten war, hatten dazu gedient, Archie zu verteidigen. Einer seiner frühesten Gegner war inzwischen ein wichtiger lokaler Vertreter der UDA. »Ja, es hört einfach nie auf«, sagte Stephen. Archie kratzte sich an seiner gebrochenen Nase, dem prägnantesten Aspekt seines sonst eher tumben Gesichts. »Ich hab neulich abends den Film gesehen, in dem dein Typ auftritt.« »Mein Typ?« »Von dem du geredet hast, der mit der Schauspielerei aufgehört hat und Boxer wurde. Der hat in diesem heißen Film gespielt, zusammen mit dieser Tussi, dieser Basinger. Du hast mir mal ’nen anderen Film von ihm geliehen, irgendwas mit ›A Prayer‹ oder so.« »Ach den Typen meinst du.« »Totaler Scheißfilm. Handelt von einem IRA-Mann, verstehst du? Da spielt er die Hauptrolle, ist aber total schlecht drauf, weil er bei einem Bombenanschlag aus Versehen eine Menge Kinder umgebracht hat. Und dann wird er den ganzen Film lang als beschissenes Opfer gezeigt. Und wir sollen auch noch Mitleid mit ihm haben.« »Ts-ts«, machte Stephen. »Aber die Yankees sehen das vielleicht wirklich so.« Jetzt trat eine Kundin an den Tresen, Diane Hunter. In der Hand hielt sie eine Kassette mit einer Beziehungskomödie. Archie redete weiter: »Und er hat den Akzent nicht hingekriegt. Er klang total behindert, als wäre er leicht betrunken oder so. Schätze, die Amerikaner denken sowieso, dass wir alle ständig besoffen sind.« Diane schaltete sich ein: »Meinst du den Film über die IRA, wo dieser Typ mitspielt? Dieser Boxer?« Stephen und Archie antworteten wie aus einem Mund: »Ja, genau.« »Mein Cousin ist Bulle, wisst ihr. Und wenn ein Schauspieler oder so herkommt, um zu recherchieren, dann muss die Polizei ihn mit einem Land Rover durch Belfast eskortieren. Mein Cousin ist am Donegal Pass stationiert und soll also diesen Typen herumführen, und sie fahren die Sandy Row hoch. Dort sind überall Union Jacks und Parolen von der UVF an den Mauern zu sehen. Und der Typ fragt: ›Wieso sind da überall diese britischen Malereien an den Wänden?‹ Und mein Cousin erklärt ihm ganz höflich: ›Das hier ist eine protestantische Gegend, die Leute hier wollen im Vereinigten Königreich bleiben.‹ Darauf der Typ: ›Ich wusste gar nicht, dass es Protestanten in Irland gibt!‹ So ein Vollidiot.« »Schade, dass dein Cousin ihm nicht den korrekten Akzent beigebracht hat«, sagte Archie. Diane wandte sich wieder den Regalen zu, wo zwei ungefähr acht Jahre alte Mädchen sich gerade die grellbunten Cover in der Zeichentrickabteilung anschauten. Archie folgte ihrem Blick. Sein Bein fing an zu zucken und schlug rhythmisch gegen den Hocker. Er fummelte an seiner Zigarettenschachtel herum und sein Gesichtsausdruck wechselte mehrfach zwischen Panik, Verwunderung und Verwirrung. Die Mädchen kicherten und zogen hastig Videokassetten heraus und stellten sie wieder ins Regal. »Jane, reiß dich zusammen und beeil dich«, sagte Diane. »Wir müssen nach Hause zum Tee. Und du auch, Becky Breslin, du sollst spätestens um sechs zu Hause sein, hat deine Mutter gesagt.« Sie musste nicht besonders laut sprechen. Der Laden bestand aus mehreren Räumen, die ursprünglich zum Wohnen gedacht waren. Das Haus war eins der vielen identisch aussehenden Reihenhäuser aus Backstein, die die Ravenhill Road säumten, in Reih und Glied wie Soldaten. Das obere Geschoss war verschlossen und leer. Jane und Becky ließen enttäuscht die Köpfe hängen und schlurften zum Tresen. Jane besaß die gleichen widerspenstigen pfirsichfarbenen Locken wie ihre Mutter, aber den rosigen Kirschmund und die großen blauen Augen hatte sie von ihrem Vater geerbt. Archies Bein zuckte immer heftiger. Sein kleiner Mund spannte sich an. »Wie alt ist Jane denn jetzt?«, fragte Stephen mit einem Seitenblick auf Archie, der sich schlagartig in den Text auf der Kassette eines Actionfilms vertiefte. Diane legte ihrer Tochter einen Arm um die Schulter und drückte sie stolz an sich. »Sie ist fast acht. Nächsten Monat hat sie Geburtstag. Stimmt’s, Liebling?« Jane nickte. Archie hustete. Archie und Diane waren kurze Zeit mal zusammen gewesen. Es hatte nicht lange gehalten, aber sie waren im Guten auseinandergegangen. Das musste jetzt ungefähr acht Jahre her sein. Diane zog Jane allein auf, wie viele Mütter in dieser Gegend. Allerdings war sie älter als die meisten anderen. Sie hatte nie jemandem erzählt, wer Janes Vater war. Stephen und Archie hatten ein bisschen herumgerechnet und hätten darauf gewettet, dass es Archie sein musste. Stephen wandte sich an das Mädchen: »Die Schöne und das Biest ist ein guter Film. Hab ich recht, Archie?« Archie sah aus, als hätte er Bauchschmerzen und spähte verängstigt über den Tresen wie ein kleiner Junge. »Ja, klar, das ist ein guter Film, Jane.« Er warf Diane einen bedeutungsvollen Blick zu und wandte sich wieder an das Mädchen. »Wenn du ihn ausleihst, darfst du ihn zwei Tage behalten. Vielleicht kann ich ja vorbeikommen und ihn mit dir zusammen anschauen, natürlich nur wenn du Lust hast.« Diane reagierte auf diesen Vorschlag mit peinlich genau abgemessener Gleichgültigkeit. »Das würde mir auch ganz gut passen. Dann könnte ich mal einen Abend mit Sharon ausgehen. Was hältst du davon, Jane?« Das Mädchen schaute sich die Videohülle noch mal an und sagte: »Ja, das wäre nett.« Ganz leise, aber sie lächelte dabei. Mark Wilson lächelte ebenfalls. Er befand sich in der Abteilung für Kriegsfilme und Western und warf seinem Freund Danny Gourling einen Blick zu. Sie standen vor einem Regal mit Filmklassikern über den Zweiten Weltkrieg, die Hände in den Taschen, rein zufällig, wenn man so will. Auf den Regalbrettern ganz oben über den Kriegsfilmen standen Filme mit weitaus exotischeren Titeln. Sie hielten die Köpfe so, dass sie in einer Höhe mit John Wayne und James Coburn waren, und starrten ein Cover an, auf dem sich eine Blondine mit monströser Oberweite und ausgestrecktem Hintern auf einer Harley-Davidson räkelte und sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, als hätte sie großen Durst. Marks Eltern waren für ein paar Tage nach Schottland gereist, um Verwandte zu besuchen. Da er schon sechzehn war, hatte niemand etwas dagegen, wenn er allein zu Hause blieb. Nur dass er nicht lange allein bleiben würde. Sieben seiner Kumpels aus der Schule, darunter auch Danny, würden ihm Gesellschaft leisten. Mark hatte deshalb seinen älteren Cousin bestochen, für ihn in den Alkoholladen zu gehen, um Bier und ein paar Schachteln Zigaretten zu besorgen. Nun fehlte nur noch der passende Unterhaltungsfilm für einen gelungenen Abend. Mark und Danny waren nicht allein. Ein großer Mann, wahrscheinlich Mitte zwanzig, mit dunklen Bartstoppeln, stand nicht weit entfernt von ihnen. Im Gegensatz zu ihnen schaute er sich das nackte Fleisch unverhohlen an und blickte gelegentlich auf seine Uhr. Er trug eine blaue Baseballmütze, dazu eine Lederjacke und kaute schmatzend auf einem Kaugummi herum. Er merkte, dass die Jungs ihn anstarrten und erwiderte ihren Blick, ohne den Kopf auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Dann zwinkerte er ihnen zu und fuhr fort, die Pornos durchzusehen. Mark und Danny tauschten Blicke aus und kicherten. Sie kannten den Mann nicht, aber es war durchaus üblich, dass Leute, die im oberen Teil der Straße wohnten, hinter dem Ormeau Park und den anliegenden Golfplätzen, sich hier bei East-End-Video unters gemeine Volk mischten. Es gab nun mal keinen zweiten Videoverleih in der Straße und die an der Castlereagh oder Newtownards Road waren nicht so leicht zu erreichen wie dieser. Stephen wurde auf das Kichern der Jungs aufmerksam und beobachtete sie von seinem Platz hinterm Tresen neben dem Laden- eingang. Als die beiden es merkten, bemühten sie sich, ihr Grinsen zu unterdrücken. Sie mochten Stephen. Er wurde in der Nachbarschaft geschätzt und behandelte sie wie Erwachsene. Wie Männer. Er war nie herablassend, sondern gab ihnen das Gefühl, auf gleicher Ebene zu stehen, wenn sie über Neuerscheinungen oder Fußball oder diesen Schauspieler oder jenes Mädchen sprachen. Aber sie hatten noch nie zuvor versucht, einen von diesen Filmen auszuleihen. Um nicht den Eindruck zu erwecken, als wollten sie in seinem Laden irgendwelchen Unfug anstellen, mussten sie Stephen auf ihre Seite ziehen. Der Mann neben ihnen drehte sich ebenfalls zu Stephen um. Er lächelte freundlich. Offen und ehrlich. Stephen erwiderte sein Lächeln. Die Ladentür ging auf, das elektronische Klingeln ertönte, und das Lächeln des Mannes erstarb. Den Jungs kam es so vor, als würde sein Gesichtsausdruck sich schlagartig verhärten oder wie bei einem Standbild einfrieren. Anstatt sich wieder den Videos zuzuwenden, steckte er eine Hand in seine Jackentasche. Zwei Mädchen in Schuluniform betraten den Laden, und die Jungs mussten sich geschlagen geben. Ihre Jagd nach Pornos war damit beendet. Die Mädchen, Sharon Montgomery und Kim Clarke, gingen auf ihre Schule und waren eine Klasse unter ihnen. Beide waren, wie Mark zugeben musste, ziemlich hübsch. Vor allem Kim, die älter und erwachsener wirkte als ihre Klassenkameradinnen. Die Anspannung des Mannes in der Lederjacke schien sich etwas zu lösen, aber die Jungs spürten deutlich seine Nervosität. Noch immer hatte er die eine Hand in seiner Jackentasche verborgen. Kim tätschelte kurz Janes und Beckys Kopf. Ihr langes schwarzes Haar umrahmte ihr markantes Gesicht, als hätte sie einen Schal umgelegt. Sharon tauschte einen kurzen Gruß mit Diane aus. Dann gingen die Mädchen auf die Jungs zu. Die Ladenklingel ertönte erneut. Sharon begrüßte die Jungs: »He, hallo, ihr beiden.« Ein zweiter Mann in Bomberjacke und schwarzen Jeans betrat den Laden. Er trug eine Sporttasche und warf dem Mann in der Lederjacke einen vielsagenden Blick zu, den dieser erwiderte. Sie nickten einander zu – ein verabredetes Zeichen. Der Mann in der Lederjacke drehte sich daraufhin wieder zum Regal. In der Drehung straffte sich seine Jacke derart, dass seine Hand ein Stück zu weit aus der Tasche rutschte. Mark erkannte etwas Schwarzes, Metallisches darin. Das Ding schien schwer zu sein. Der Junge dachte bei sich, dass er solche Szenen bisher nur aus Filmen kannte, nicht aber aus dem wahren Leben. Auch Stephen hatte den schwarzen Pistolengriff in der Hand des Mannes bemerkt, der sich deutlich von dessen weißen Knöcheln abgezeichnet hatte. Hastig drehte sich der Lederjacken-Typ wieder um und fixierte Stephen. Er begriff sofort, dass dieser das Ding in seiner Hand gesehen hatte. »Fuck!«, entfuhr es ihm. Er zog die Waffe ganz aus der Tasche und legte den Finger um den Abzug. Stephen rutschte von seinem Hocker. Diane nahm Jane die Videokassette aus der Hand. Das hübsche kleine Mädchen schenkte Archie ein scheues Lächeln. Becky betrachtete etwas an ihren Fingern und nagte an einer Strähne ihres gelockten Haars. Über Sharons Gesicht zuckte ein Ausdruck des Entsetzens, als sie sah, wie der Mann seine Pistole auf Stephen richtete. Kim warf Danny einen bedeutungsvollen warmen Blick aus ihren haselnussfarbenen Augen zu. Danny war, genau wie sie, völlig abwesend und erwiderte ihren Blick mit einem linkischen Grinsen. Der Mann mit der Tasche starrte den Mann mit der Pistole an und fluchte ebenfalls: »Scheiße!« Der Mann mit der Pistole rief: »Ganz ruhig bleiben! Keiner bewegt sich!« Der Mann mit der Tasche sagte: »Die Operation ist gestorben. Wir müssen abbrechen.« Es gab einen Blitz, als die Sporttasche in der Hand des Mannes plötzlich explodierte und er praktisch in der Mitte entzweigerissen wurde. Die Explosion jagte durch den ganzen Laden, durch Stephen, Archie, Jane, Kate und Becky, bevor sie den Mann mit der Waffe, Mark und Danny erfasste. Die grellweiße Hitzewelle verschluckte auch Sharon und Kim und brachte die Decke zum Einsturz. In wenigen Sekunden waren sie alle tot.
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Elf Todesopfer bei Bombenexplosion an der Ravenhill Road
Versuchter Bombenanschlag der IRA auf die UDA reißt Unschuldige in den Tod
Von Jim Bryson
Am gestrigen Nachmittag explodierte im East-End-Videoverleih an der Ravenhill Road eine Brandbombe und tötete neun Zivilisten und zwei Angehörige der Provisorischen IRA. Vier der Opfer waren Schüler der Sekundarstufe, zwei waren acht Jahre alt. Nach Informationen aus zuverlässigen Quellen gingen die IRA-Terroristen fälschlicherweise davon aus, dass in den Räumen über dem Videoverleih ein Treffen der loyalistischen paramilitärischen Organisation Ulster Defence Association stattfinden sollte. Die Räume im ersten Stock des Gebäudes waren unbewohnt. Beamte der Royal Ulster Constabulary vermuten, dass die Brandbombe vorzeitig zur Explosion gebracht wurde. Unter den Getöteten sind auch Stephen Armstrong, der Besitzer des Ladens und sein Freund Archie Sinclair. Keiner der beiden war Mitglied einer terroristischen Vereinigung. Kim Clarke und Sharon Montgomery (beide 15), Mark Wilson und Danny Gourling (16 und 17, Diane Hunter und ihre Tochter Jane Hunter (8) sowie ihre Freundin Becky (8) wurden getötet, als die Bombe explodierte. Die Identität der Attentäter konnte noch nicht festgestellt werden, allerdings hat die Irisch-Republikanische Armee die Verantwortung für den Anschlag übernommen. Der Bombenanschlag hat die Bewohner dieses Teils der Ravenhill Road zutiefst verstört. Alle politischen Parteien haben den Anschlag verurteilt, mit Ausnahme von Sinn Fein, die eine Kommentierung des Ereignisses zu diesem Zeitpunkt abgelehnt hat. Die Kriminalbeamten der RUC-Reviere Willowfield und Castlereagh fordern mögliche Tatzeugen auf, sich zu melden und, falls erforderlich, ihre Aussagen anonymisiert über die Confidential Telephone Line zu übermitteln. Der Chief Constable ruft zu Ruhe und Besonnenheit auf und warnt die loyalistischen Gruppen vor Vergeltungsmaßnahmen.