Einleitung
Geschichte aus der Tiefkühltruhe
Wenn man die Bedeutung von Russlands Rolle im Ersten Weltkrieg 1914–1917 für die folgenden Ereignisse der Weltgeschichte betrachtet – vom Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und den sich anschließenden Ereignissen im Nahen Osten bis hin zum Aufstieg des Kommunismus –, ist es eigenartig, wie wenig man heute noch darüber weiß, welche Überlegungen und Absichten die Politiker in St. Petersburg während des Konfliktes hegten. Es ist über fünfzig Jahre her, seit Fritz Fischer 1961 sein Werk Griff nach der Weltmacht veröffentlichte, und immer noch stehen die Historiker in seinem Schatten und führen dieselben grundlegenden Argumente an, was Deutschlands Verantwortung für den Ausbruch des Krieges betrifft – zumindest wenn man nach dem aktuellen kleinen Boom populärwissenschaftlicher Bücher urteilt, die sich im Ton Fischers mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigen.
Obwohl nur noch wenige Wissenschaftler weiterhin Fischers extremer Aussage zustimmen, dass der Erste Weltkrieg ein vorausgeplanter »Griff Deutschlands nach der Weltmacht« gewesen sei, stellen die geschichtlichen Abhandlungen über den Ausbruch noch immer unweigerlich die Entscheidungen in den Mittelpunkt, die in Berlin und, nachgeordnet, in Wien getroffen wurden. Sowohl für Wissenschaftler als auch für interessierte Laien bleibt der Krieg von 1914 an erster Stelle ein Krieg des Deutschen Reiches, in dem Russland zumeist eine passive Rolle spielt: Die Angst vor Russlands demografisch unaufhaltsam wachsenden »slawischen Horden«, die unmittelbar in viel kürzerer Zeit mobilisiert werden würden, sobald das russische Militärprogramm von 1913 in Kraft getreten war, ließ die Deutschen präventiv in Aktion treten. Was die russische Führung zu erreichen hoffte, als sie 1914 in den Krieg eintrat, darüber bringen die meisten historischen Werke kaum mehr als einige vage Anmerkungen über Serbien und slawische Ehre, Bündnisverpflichtungen gegenüber Frankreich und die Besorgnis Russlands, was sei- nen künftigen Status als Großmacht anging.
Die Lücke, die sich im öffentlichen Bewusstsein bezüglich Russlands Kriegszielen auftat, rührt zum großen Teil daher, dass die Oktoberrevolution und der Bürgerkrieg historische Forschungen über den Krieg im Allgemeinen eingefroren hatten. Nicht vor 2015 (so wurde gesagt) soll der erste Band von Russlands offizieller Geschichte über den Ersten Weltkrieg erscheinen, und selbst diese Zeitangabe halten die meisten Russen für wenig glaubhaft. Verschiedene sowjetische Wissenschaftler brachten spezielle Monografien über Kriegshandlungen heraus, aber das Thema trat zumeist hinter sozialen und ökonomischen Geschichtswerken zurück, die mit den ideologischen Vorgaben des Marxismus-Leninismus im Einklang standen.
Die Militärgeschichte kommt in Russland erst allmählich wieder in Mode: Hier muss eine ganze Menge aufgearbeitet werden. Die Literatur im Westen ist so dürftig, dass die Suche nach Büchern über Russland und den Ersten Weltkrieg in der Regel mit Büchern über den Zweiten Weltkrieg endet. Lediglich zwei allgemein gehaltene Schilderungen über die Ostfront wurden in den letzten dreißig Jahren veröffentlicht und so gut wie keine in der Zeit davor. Der geringe wissenschaftliche Ausstoß über die Kriegsanstrengungen des zaristischen Russlands ist keine Überraschung angesichts der Schwierigkeiten, die in Russland bis in die jüngste Zeit bestanden, wenn es darum ging, Zugang zu den Archiven zu bekommen; und auch die Tatsache, dass so wenige Monografien in russischer Sprache existieren, welche die Wissenschaftler auf ihrem Weg begleiten könnten, trug dazu bei.
Das Gleiche kann allerdings nicht wirklich über Russlands Diplomatie vor und während des Krieges gesagt werden. Seit Trotzkis Enthüllung von »Geheimverträgen« zwischen den Mitgliedern der Entente im Jahr 1917 und der Veröffentlichung von enormen Funden geheimer diplomatischer Korrespondenz Russlands von den Bolschewiken in den 1920er-Jahren waren der Welt die allgemeinen Kriegsziele Russlands bekannt, wenn nicht sogar auch die spezifischen. Die russischen Spezialisten kannten diese Dokumente seit Jahrzehnten. Sie wurden mit besonderem Enthusiasmus in Deutschland ausgewertet, wo Wissenschaftler aus unverständlichen Gründen häufig versuchten, die Versailler »Kriegsschuldfrage« zu problematisieren, die dazu verwendet wurde, eine gewaltige Summe an Reparationsleistungen aufzustellen (die letzte Teilzahlung wurde übrigens 2010 beglichen). Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 entdeckten westliche und ebenso auch russische Wissenschaftler in den zaristischen Archiven sogar neues relevantes Material, und zwar in solcher Fülle, dass heute mehr Informationen über die Kriegsziele Russlands im Jahr 1914 verfügbar sind als über jene der anderen beteiligten Mächte.
Dennoch mutet es seltsam an, dass die meisten allgemeinen Geschichtsabhandlungen, die in den letzten Jahrzehnten publiziert wurden, Russlands Kriegsziele fast vollständig außer Acht lassen, und zwar in einer Weise, wie es die Veröffentlichungen vor 1961 nicht tun. Im eigentlichen Sinn könnte man sagen, dass sich das Geschichtsverständnis vom Ersten Weltkrieg wieder zurückentwickelt hat, nachdem die von Fritz Fischer ausgelöste Debatte mehrere Generationen von Historikern dahingehend beeinflusst hatte, ihre Aufmerksamkeit voll und ganz auf die deutschen Kriegsziele zu richten.
In ähnlicher Weise hört man kaum ein Wort über die russische Seite, wenn es um das in Tausenden von Fachbüchern, Romanen und Filmen behandelte Sykes-Picot-Abkommen von 1916 und seinen Einfluss auf die islamische Welt geht. Dass Großbritannien und Frankreich gemeinsam den Plan schmiedeten, das Osmanische Reich zu zerschlagen, wird in den meisten Büchern über den modernen Nahen Osten als selbstverständlich hingenommen, besonders in jenen, die von Edward Saids berühmter Kritik der westlichen Einstellungen in seinem 1979 erschienenen Werk Orientalismus inspiriert sind. Obwohl sie an sich keine falschen Behauptungen enthält, ist die heute gängige Darstellung westlicher Perfidie bei der Zerstückelung des asiatischen Teils der Türkei nichtsdestotrotz irreführend, denn sie lässt den wichtigsten Akteur in diesem Drama aus. Die Geschichte vom Zusammenbruch des Osmanischen Reiches zu erzählen, ohne die Rolle Russlands, des Erzfeindes der Türkei, zu erwähnen, wie es manche Autoren tun, wäre etwa so, als ob man eine Geschichte vom Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 schriebe, ohne die US-amerikanische Außenpolitik und die Strategie im Kalten Krieg anzuführen.
Ebenso wie die Militärgeschichte der Ostfront durch den unverständlichen Fokus der Historiker auf das gewaltige Drama der Russischen Revolution vollkommen außer Acht gelassen wurde, begrub man Russlands eigene Kriegsziele in modernen populärwissenschaftlichen Werken unter der explosiven Nachkriegsgeschichte des Nahen Ostens, der unter der Bevormundung durch den britischen und französischen Imperialismus stand. Als eine Art historischer Kunstfehler ist allerdings der letztere Fall von Missachtung der schwerwiegendere. Es ist immerhin möglich (wenn auch nicht gerade ideal), die Russische Revolution weitgehend unter innenpolitischen Gesichtspunkten zu erklären und die militärischen Entwicklungen an der Ostfront zwischen 1914 und 1917 nur am Rande zu erwähnen. Nur wenige Historiker gehen noch so vor: Die grundsätzliche Thematik in der neueren Forschung betrifft den Zusammenhang zwischen »Russlands großem Krieg und der Revolution«, wie es eine bedeutende wissenschaftliche Initiative bezeichnet hatte, eine »andauernde Krise« zwischen 1914 und 1922. Im Gegensatz dazu kann man über die Geschichte der letzten hundert Jahre in den Ländern des ehemaligen Osmanischen Reiches – das sich vom europäischen Thrakien und den Küsten des Ägäischen und Schwarzen Meeres über Anatolien, »Türkisch-Armenien« und den Kaukasus bis nach Persien, Mesopotamien und Palästina erstreckte – wohl kaum berichten, ohne auf die russischen Ziele im Ersten Weltkrieg Bezug zu nehmen.
Und immer noch scheinen nur wenige zeitgenössische Historiker, die sich mit der Geschichte des Nahen Ostens beschäftigen, mit einigen, geschweige denn allen Richtlinien der Außenpolitik des zaristischen Russlands vertraut zu sein. Selbst die dem Ersten Weltkrieg zugrunde liegende Chronologie kann nicht richtig verstanden werden, wenn man sich nicht mit den Kriegszielen des russischen Zarenreiches auseinandersetzt. Angefangen beim Attentat von Sarajevo, das der Auslöser für die Julikrise 1914 war, über das Drama der Mobilmachung, das schließlich zum Ausbruch des Krieges führte, den unrealistischen Zeitvorgaben des deutschen Schlieffenplans und dem festgefahrenen Stellungskrieg in den Schützengräben der Westfront, die blutige Tragödie von Gallipoli, das Massaker an den Armeniern 1915, das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 und die darauf folgende Zerstückelung der asiatischen Türkei bis hin zur Oktoberrevolution von 1917 – all diese bekannten und immer noch entscheidenden Kriegsereignisse waren tief mit der russischen Außenpolitik verbunden. Schützengräben, Verdun, der Mohn auf Flanderns Feldern – das sind vermutlich die bleibenden Eindrücke und Bilder des Ersten Weltkrieges in der westlichen Vorstellung, aber es wäre heute schwierig zu behaupten, dass irgendetwas von bleibender strategischer Bedeutung bei den deutsch-französischen Kampfhandlungen in Flandern auf dem Spiel stand.
Dass es diesen Aktionen an nachvollziehbaren außenpolitischen Zielen mangelte, hilft bei der Erklärung, warum das blutige Schlachten dort so besonders sinnlos erschien und bei den Soldaten, die auf diesen Schlachtfeldern kämpften, so tiefe und einschneidende Wunden hinterließ. Oder kann irgendjemand etwa das Gleiche über die Schlacht von Gallipoli sagen, über »Türkisch-Armenien« und den Transkaukasus, Baku, Teheran, Bagdad, Damaskus, Palästina und Suez? Aus der Perspektive der gegenwärtigen Bewohner dieser Regionen erscheint der Erste Weltkrieg nicht als eine Art sinnloser Bürgerkrieg unter europäischen Nationen, die inzwischen seit Langem gelernt haben, miteinander in Frieden zu leben – man könnte dies die landläufige Darstellung der Europäischen Union nennen –, sondern eher als ein vorsätzlicher Plan, die letzte große islamische Macht auf dieser Erde, das Osmanische Reich, auseinanderzureißen und zu zerstören. Man muss nicht wilden Verschwörungstheorien Glauben schenken, um sich darüber klar zu werden, dass darin ein Körnchen Wahrheit liegt.
Was waren letzten Endes der Türkisch-Italienische Krieg und die beiden Balkankriege, die das Osmanische Reich zwischen 1911 und 1913 führte, anderes als eine Art Vorprogramm zum Weltkrieg von 1914, in den die Großmächte zusammen mit kleineren Nationen gestürzt wurden, die bereits dafür kämpften, das Osmanische Reich zu zersplittern? Würde man einen weiterreichenden Maßstab anlegen und den weltweiten Konflikt zwischen der italienischen Invasion des zum Osmanischen Reich gehörigen Libyens im Jahr 1911 und dem Vertrag von Lausanne im Jahr 1923 betrachten, der schließlich die Unabhängigkeit der Türkei garantierte (mit dem Verzicht türkischer Ansprüche auf viele ehemalige Gebiete des Osmanischen Reiches), dann könnte man sehr leicht den Ersten Weltkrieg als »Osmanischen Erbfolgekrieg« bezeichnen.
Dies ist die Geschichte, wie sie in den Berichten des zaristischen russischen Außenministeriums erzählt wird, eine Geschichte, die für alle offenlag, seit Trotzki erstmals 1917 in die Archive eingebrochen war. Sie war allen Gelehrten zugänglich, die Russisch lesen konnten (oder Deutsch, da viele der Bände mit Dokumenten aus dem Zarenreich, die man in der Sowjetunion angelegt hatte, in diese Sprache übersetzt worden waren). Gestützt auf dieses Material und auf noch unveröffentlichte Dokumente aus russischen und europäischen Archiven, die heutzutage öffentlich zugänglich sind, stelle ich in diesem Buch die Behauptung auf, dass die derzeitige allgemeine Auffassung über den Ersten Weltkrieg einer ernsthaften Überprüfung nicht standhalten wird. Der Krieg von 1914 ist viel eher als Russlands Krieg denn als Deutschlands Krieg zu betrachten.