Zur Einführung
Der 11. September 2001 dürfte das erste Datum im dritten Jahrtausend gewesen sein, das Eingang in das kollektive Gedächtnis der Zeitgenossen gefunden hat. Gut ausgebildete und an den westlichen Lebensstil angepasste dschihadistische Attentäter haben Passagierflugzeuge in Bomben verwandelt und die hoch aufragenden Zwillingstürme des World Trade Center zum Einsturz gebracht. Damit haben sie eine „Ikone im Bildhaushalt der amerikanischen Nation“ niedergerissen – und dies vor den Augen einer Weltöffentlichkeit, welche die Katastrophe mit blankem Entsetzen auf den Bildschirmen in Echtzeit mitverfolgen konnte. Dieser „symbolträchtige Einsturz der kapitalistischen Zitadellen im südlichen Manhattan“ hat den Blick auf die Welt verändert.
Die Absicht der Attentäter, in der westlichen Welt ein Gefühl der Unsicherheit und Angst zu verbreiten, ist aufgegangen. Die Sicherheitsmaßnahmen sind umgehend verstärkt worden, ja die Überwachungstechnologien, die seitdem im war on terror (George W. Bush) eingesetzt werden, drohen die Freiheit, die doch geschützt werden soll, mehr und mehr zu untergraben. Dabei wäre es illusionär zu meinen, man könne durch Aufstockung von Sicherheitsmaßnahmen die offenen Gesellschaften des Westens rundherum schützen. Die offene Gesellschaft ist verwundbar. Die Anschläge in Madrid, London, Paris und Kopenhagen – um nur diese zu nennen – haben das erneut gezeigt. Das Gesicht des Islam aber droht durch die nicht abreißende Serie von Anschlägen nachhaltig entstellt zu werden.
Die Frage steht im Raum, ob dem Islam von seinem Ursprung her ein Gewaltpotential innewohnt – oder ob der Koran und andere normative Quellen des Islam gewaltkritische Ressourcen bereithalten, welche dem militanten Dschihadismus die theologische Grundlage entziehen. Verstörend ist, dass die Attentäter nicht nur ihr eigenes Leben opfern, sondern mit Kalkül auch das Leben unschuldiger Zivilisten auslöschen. Sie sind Richter und Henker zugleich. Wie kommen sie dazu? Was ist ihre Motivation? Sind sie vom Nihilismus der späten Moderne infiziert, wenn sie ihr Leben wegwerfen, als wäre es Nichts – und dabei zugleich das Leben unzähliger Nichtkombattanten vernichten – darunter Frauen, Kinder, Greise? Machen sie das abgründige Sinnvakuum, das sich hinter den glänzenden Fassaden der westlichen Gesellschaften mehr und mehr ausbreitet, auf erschreckende Weise sichtbar? Sind ihre Attentate spektakuläre Inszenierungen eines nach außen gewandten Nihilismus, der moralische und religiöse Grenzziehungen bewusst hinter sich lässt?
Ein solcher Erklärungsansatz mag einiges für sich haben, allerdings blendet er das religiöse Selbstverständnis der Dschihadisten aus. Für ihren Mut zu sterben finden die Täter nicht nur theologische Rechtfertigung durch geistliche Autoritäten und Unterstützung durch das dschihadistische Milieu, sie erwarten über die Zustimmung im Diesseits hinaus auch ewigen Lohn im Jenseits. Sie sprengen sich ins Paradies – oder meinen das zumindest. Der für das Martyrium so zentrale Gedanke der eschatologischen Gratifikation spielt in der dschihadistischen Ideologie eine wichtige Rolle. In der „Geistlichen Anleitung“, die man in der Reisetasche von Muhammad Atta gefunden hat und die das religiöse Selbstverständnis der Attentäter des 11. Septembers offenlegt, wimmelt es von rituellen Bestimmungen, Gebeten, Koranzitaten und anderen Weisungen aus der Tradition des Islam. Das regelmäßige Memorieren dieser Weisungen sollte offensichtlich Zweifel an der Mission ausräumen und die Todesangst der Kandidaten überwinden helfen. Kaum zufällig wird in der Anleitung die Hoffnung, nach dem Terrorakt unmittelbar ins Paradies einzugehen, gleich mehrfach erwähnt. Jürgen Habermas hat daher in seiner Friedenspreisrede von 2001 zu Recht bemerkt: „Die zum Selbstmord entschlossenen Mörder [...] waren, wie wir aus Attas Testament und Osama bin Ladens Mund inzwischen wissen, durch religiöse Überzeugungen motiviert.“
Dennoch ist das Phänomen des Selbstmordattentäters nicht theologisch engzuführen. Neben theologischen gibt es politische, soziale, ökonomische und psychologische Faktoren. Die Spätfolgen einer imperialen Kolonialpolitik des Westens, die Kollateralschäden fragwürdiger militärischer Interventionen, die Unterstützung korrupter Regime und die Menschrechtsverletzungen in Lagern wie Guantánamo und Gefängnissen wie Abu Ghraib haben die Wut gegen den Westen anschwellen lassen. Die Dominanz der wissenschaftlich-technischen Zivilisation sowie die militärische Überlegenheit des Westens tun ein Übriges. Der angestaute Zorn gegenüber dem westlichen „Imperialismus“ und seinen entwürdigenden Unrechtspraktiken spielt im Affekthaushalt nicht weniger Muslime eine Rolle. Hassprediger und Ideologen können daran anknüpfen, wenn sie neue Akteure für den Dschihad zu rekrutieren versuchen.
Damit sind nun allerdings auch sozialpsychologische Faktoren berührt. Für „radikale Verlierer“, die am Rande der Gesellschaft stehen und keine Aussichten haben, ist es offensichtlich attraktiv, sich innerhalb kürzester Zeit durch spektakuläre Aktionen im „Kampf gegen die Ungläubigen“ ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit zu katapultieren. Aber auch akademisch gebildete und gut angepasste Aspiranten aus der Mittelklasse, die entsprechende Ressentiments angestaut haben, lassen sich anwerben und in Trainingslagern zum suicide bomber ausbilden. Psychologen haben hier auf das Deutungsmuster der narzisstischen Störung zurückgegriffen und den Attentätern einen „explosiven Narzissmus“ bescheinigt, welcher den drohenden Zusammenbruch des eigenen Selbstgefühls durch eine grandiose Vernichtungsgeste kompensiert. Andere haben die Vermutung geäußert, dass die Attentäter im Kampf gegen die anderen etwas bekämpfen, was sie selbst zutiefst fasziniert und umtreibt.
„Wenn die heutigen sogenannten Fundamentalisten wirklich glauben, ihren Weg zur Wahrheit gefunden zu haben, warum sollten sie sich dann durch Nichtgläubige bedroht fühlen, warum sollten sie sie beneiden? [...] Im Unterschied zu wahren Fundamentalisten sind die terroristischen Pseudofundamentalisten vom sündigen Leben der Ungläubigen zutiefst umgetrieben, fasziniert, bezaubert. Man spürt, wie sie ihre eigene Versuchung bekämpfen, wenn sie den sündigen anderen bekämpfen.“
Allerdings begehen selbst die Dschihadisten, die nur eine oberflächliche religiöse Sozialisation durchlaufen haben, ihre Anschläge mehr oder weniger ausdrücklich im Namen Allahs und kämpfen gegen „die Ungläubigen“. Die Anhänger der Terrormiliz IS etwa verteidigen das neu etablierte Kalifat gegen die „Mächte des Bösen“, werden aber wegen ihrer unvorstellbaren Brutalität und Zerstörungswut von den Opfern selbst als „Armee des Teufels“ wahrgenommen. Sterben für Gott und Töten für Gott gehen bei den Attentätern eine perfide Synthese ein. In der islamischen Tradition ist der Kämpfer, der im Dschihad für die Sache Allahs fällt, ein Zeuge, ein shah ̄ıd. Immer wieder wurde um die Frage gerungen, wann und unter welchen Umständen der Fall eines militärischen Dschihad gegeben ist und wann nicht. Dabei war und ist es weithin Konsens, dass Nichtkombattanten wie Kinder, Frauen und Greise geschützt werden müssen und nicht das Ziel militärischer Handlungen sein dürfen. Ebenso war die Selbsttötung der Kämpfer tabuisiert.
Im militanten Dschihadismus der Gegenwart wird dieser doppelte Konsens aufgekündigt. Weiche Ziele der Gesellschaft werden bewusst ins Visier genommen, der Tod möglichst vieler unschuldiger Zivilisten, die vorher zu „Ungläubigen“ deklariert werden, wird ausdrücklich einkalkuliert. Statt von Selbstmordattentaten sprechen muslimische Befürworter lieber von „Märtyreroperationen“, da ihnen bewusst ist, dass die Selbsttötung vom Koran und der Prophetentradition strikt verboten ist. Terrorakte werden allerdings nicht nur von vereinzelten radikalislamischen Gelehrten als Mittel der Selbstverteidigung gerechtfertigt. In einer offiziellen Resolution des Rates für Islamisches Recht, der der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) angehört, heißt es: „Dschihad und Märtyreroperationen, die verübt werden, um den islamischen Glauben, die Würde, die Freiheit und Souveränität von Staaten zu vertiefen, sind nicht als Terrorismus zu betrachten, sondern eine grundlegende Form der notwendigen Verteidigung legitimer Rechte. Die unterdrückten Völker, die einer Besatzung ausgesetzt sind, haben das Recht, mit allen möglichen Mitteln ihre Freiheit zu erstreben.“
Auch wenn damit keine Generallizenz für „Märtyreroperationen“ ausgesprochen wird, so zeigt die Resolution doch, wie weit die Akzeptanz für militante Formen des Dschihadismus reicht. Jedenfalls nimmt es kaum Wunder, dass in der dschihadistischen Szene die Selbstmordattentäter als Helden und Märtyrer verehrt werden. Das wirft die Frage auf, ob, und wenn ja, mit welcher Begründung die Attentäter als Märtyrer bezeichnet werden können, und ob die Bereitschaft zum Martyrium – das Sterben für Gott – in Extremsituationen mit einer Praxis der Gewalt – dem Töten für Gott – zusammengehen darf.
Der vorliegende Band geht diesen Fragen nach und versucht die Konstellation von Religion, Martyrium und Gewalt näher zu beleuchten. Den Auftakt bildet eine Kontroverse zur Gewaltträchtigkeit des Islam. Martin Rhonheimer vertritt in seinem Beitrag Töten im Namen Allahs die These, dass die normativen Quellen des Islam letztlich keine gewaltkritischen Ressourcen bereithalten, um der Terrormiliz Islamischer Staat und anderen dschihadistischen Gruppen theologisch begründet Einhalt zu gebieten. Rhonheimer sieht in den Gewaltpraktiken des IS das in der Geschichte wiederkehrende Muster kriegerischer islamischer Expansion am Werk. Muhammad sei das Vorbild, der Koran biete die Legitimationsgrundlage, in der theologischen Tradition des Islam gebe es letztlich keine normativen Quellen, um „dieses Muster gewalttätiger Expansion aus prinzipiellen Gründen als unislamisch zu verurteilen“.
Dieser prononcierten These widerspricht die islamische Theologin Katajun Amirpur. Sie verweist auf die Gefahr, dass der Fundamentalismus der Krieger einen Fundamentalismus der Kritiker hervorrufen kann, und erinnert daran, dass der Terror des IS auch von islamischer Seite kritisiert worden ist. Sie geht vor allem auf das Schreiben der 120 Gelehrten ein, die dem selbsternannten Kalifen des Islamischen Staates, Dr. Ibrahim Awwad Al-Badri, alias Abu Bakr Al-Baghdadi, entschieden widersprochen haben. Der Terror im Namen Gottes ist in der Tat ebenso wenig mit dem Islam gleichzusetzen, wie begründete Kritik an problematischen Seiten des Islam (die ja auch durch Muslime vorgetragen wird) durch den Vor- wurf der Islamophobie stillgestellt werden kann. Durch die anhaltenden Nachrichten von Gräueltaten durch dschihadistische Gruppen wie Al-Qaida, Boko Haram, den Islamischen Staat besteht die Gefahr eines circulus vitiosus: die religiös legitimierten Terrorakte, die im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit stehen, erzeugen ein Klima von Angst und Unsicherheit, das Islamfeindlichkeit befördert; anschwellende Islamfeindlichkeit wiederum führt zu Praktiken der Ausgrenzung, die bis hin zu heimtückischen Anschlägen auf islamische Einrichtungen reicht; diese Ausgrenzung schließlich provoziert Sorgen, Ängste und wohl auch Aggressionen bei Muslimen usw. Um aus dieser teuflischen Spirale herauszukommen, ist der Schulterschluss mit jener Mehrheit von friedliebenden Muslimen zu suchen, die militante Operationen im Namen Allahs kategorisch ablehnt.
In einem zweiten Teil wird das komplexe Phänomen des Selbstmordattentäters näher in den Blick genommen. Dieser ist bereit, sein Leben zu opfern und dabei andere unschuldige Menschen mit in den Tod zu reißen. Der Nahostexperte Joseph Croitoru beleuchtet in seinem Essay Der Märtyrer als Waffe die historischen Wurzeln des Selbstmordattentats. Er hält zunächst fest, dass die Ursprünge dieses Phänomens außerhalb des Islam liegen. Die Furchtlosigkeit japanischer Kamikazeflieger im Zweiten Weltkrieg ist in den 1970er Jahren von linken palästinensischen Widerstandsorganisationen übernommen worden, bevor das Selbstmordattentat dann durch Akteure des militanten Dschihadismus fortgeschrieben und zur systematischen Waffe ausgebaut wurde. Dazu gehörte neben der Selbstsprengung auch die Videoaufnahme zum Abschied – eine Form der medialen Inszenierung, die sich mit Aufkommen des Internets und der neuen sozialen Medien weiter perfektioniert hat. Aus gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive nimmt der Göttinger Soziologe Wolfgang Sofsky das Phänomen des religiösen Terrorismus in den Blick. Er macht darauf aufmerksam, dass im Selbstmordattentäter die Typen des Helden, des Märtyrers und des Terroristen zu einer neuen Konfiguration zusammentreten.
Unter Rückgriff auf bislang kaum bekannte, vor allem arabische Quellen in einschlägigen Internetforen untersucht der Wiener Islamwissenschaftler Rüdiger Lohlker die Gewalttheologie des Islamischen Staates und zeigt, wie der IS den gewaltsamen Kampf gegen die Ungläubigen rechtfertigt, welche religiösen Legitimationsmuster für die Gründung des Kalifats geltend gemacht werden und wie gerade auch im Internet ein eigener „Totenkult“ für die Täter inszeniert wird.
Jan-Heiner Tück widerspricht der Tendenz, Selbstmordattentäter mit dem Ehrentitel von Märtyrern zu versehen. Nicht die perfiden Täter, die das Blut unschuldiger Menschen vergießen, sondern die Opfer, die nicht selten gerade wegen ihrer religiösen Überzeugungen ermordet werden, verdienen die Bezeichnung Märtyrer. Überdies erinnert er daran, dass der christliche Märtyrerbegriff von seinem Ursprung her an die Semantik der Gewaltlosigkeit gebunden ist. Angesichts der schleichenden Ausbreitung dschihadistischen Gedankenguts wirbt er dafür, die Argumente gegen die unselige Verquickung von Martyrium und Gewalt aus islamischer Perspektive zu stärken.
In einem dritten Teil geht es um die systematische Frage, ob das Sterben für Gott zwangsläufig mit dem Töten für Gott in Verbindung steht. Diese Frage bricht bei den Makkabäern mit der Entstehung des jüdischen Märtyrerbegriffs erstmals auf. Damals formierte sich der Widerstand der Frommen gegen die repressive Religionspolitik des Seleukidenherrschers Antiochus IV. Epiphanes (175 –164 v. Chr.), die bis zum Guerillakrieg gegen die Besatzungsmacht reichte.
Der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann diagnostiziert hier ein „Makkabäer-Syndrom“, in dem die fünf Elemente des Zelotismus, der Martyriumsbereitschaft, der Unsterblichkeitshoffnung, des Religionskrieges und der fundamentalistischen Schriftauslegung erstmals eine unheilvolle Verbindung eingehen. Er sieht im Makkabäer-Syndrom, in dem Martyrium und Mord zusammengehen, eine Vorform des gewaltbereiten Islamismus. Assmann räumt allerdings ein, dass in der Gedächtnisgeschichte weder des Judentums noch des Christentums diese unheilvolle Verbindung von Martyrium und Mord eine Rolle gespielt habe.
Der Wiener Alttestamentler Ludger Schwienhorst-Schönberger setzt bei dieser Beobachtung an und unterzieht Assmanns These, dass Sterben für Gott und Töten für Gott zusammengehören, einer konstruktiven Kritik. Dabei verweist er darauf, dass in den beiden Makkabäer-Büchern zwei unterschiedliche Traditionsstränge vorliegen. 1 Makk kenne kein Martyrium, auch sei eine eschatologische Unsterblichkeitshoffnung in diesem Buch nicht zu finden. Anders stelle sich der Sachverhalt in 2 Makk dar, wo der Gedanke des Martyriums nicht mit Gewalt, sondern mit dem Erleiden von Gewalt verbunden werde. Diese Differenz werde in der Rede von einem Makkabäer-Syndrom nicht hinreichend beachtet.
Ein letzter Teil geht dem Märtyrermotiv in der christlichen Tradition nach. Zunächst nimmt der Regensburger Patrologe Andreas Merkt die formative Phase des Christentums in den Blick. Sind die Märtyrer-Narrative der Alten Kirche nur eine Erfindung, ein Mythos, ein Konstrukt von Christen, um ihre Identität gegenüber anderen zu stabilisieren? Angesichts der Verfolgungswellen in der vorkonstantinischen Zeit der Kirche – besonders unter den Kaisern Decius, Valerian und Diokletian – erscheint eine solche These als Verharmlosung. Gleichwohl haben Hagiographie und liturgische Ausgestaltung der Märtyrerverehrung das kulturelle Gedächtnis der Kirche so bestimmt, dass der Eindruck entstehen konnte, die ersten drei Jahrhunderte seien durchgängig eine Zeit der Kirchenverfolgung gewesen.
Im Anschluss an Merkt nimmt der Wiener Kirchenhistoriker Rupert Klieber in einer weit ausholenden historiographischen Skizze die Zeit von Diokletian bis Stalin in den Blick und stellt nicht nur die Ambivalenzen, sondern auch die semantischen Verschiebungen des Märtyrerbegriffs in der Geschichte heraus. In korrektivischer Absicht erinnert er daran, dass es auch aggressive Märtyrer gegeben hat, dass gefallene Soldaten zu Märtyrern erklärt wurden, ja dass in den Konfessionskriegen Christen Christen umgebracht und so Märtyrer produziert haben.
Ein spezieller Fall für eine Theologie des Martyriums ist die Situation in Lateinamerika. Martin Maier SJ, der selbst in San Salvador gelebt und gearbeitet hat, schildert die Situation der Glaubenszeugen an der Seite der Armen, die wegen ihres Einsatzes für Gerechtigkeit zu Opfern der Schergen der Militärregime geworden sind. Durch die Seligsprechung von Erzbischof Óscar Romero zu einem Märtyrer der Kirche hat Papst Franziskus die Semantik des Märtyrerbegriffs ins Politische verschoben.
Schließlich weist Christoph Benke auf die Mönche von Tibhirine hin. Sie haben in Algerien an der Seite der einfachen muslimischen Bevölkerung ausgeharrt, obwohl ihnen die wachsende Gefahr vor Augen stand. Das Angebot, das Kloster angesichts eines drohenden dschihadistischen Attentats zu verlassen und nach Frankreich zurückzukehren, haben sie nach einem Prozess des geistlichen Ringens bewusst ausgeschlagen und diesen Akt der Solidarität mit der armen lokalen Bevölkerung mit ihrem Leben bezahlt. Das eindrückliche Testament des Priors der Gemeinschaft hat den gewaltsamen Tod in einer prophetischen Vorahnung kommen sehen. Er ringt sich durch zu der Bereitschaft, im gewaltlosen Leiden Christus gleich zu werden und seinen Mördern zu verzeihen, warnt aber entschieden davor, das dschihadistische Attentat zum Anlass für eine General-Abrechnung mit dem Islam zu nehmen.
Wien, 2015
Jan-Heiner Tück