Einleitung
Deutschland im Jahr 2014. Die Wirtschaft brummt. Uns geht es gut, jedenfalls den meisten von uns. Jedenfalls geht es uns besser als unseren Nachbarn. Damit das so bleibt, haben wir eine Große Koalition gewählt. Politischer Streit ist abgemeldet. Wir haben nur noch eine 20-Prozent-Opposition. Es ist das Biedermeier 2.0 – Stillstand made in Germany. Doch wir können uns den Stillstand nicht leisten. Der Klimawandel schreitet fort. Wachstum ohne Rücksicht auf die Belastbarkeit der Erde schafft eine sich aufschaukelnde Krise. Die Böden werden übernutzt, Arten sterben weiter aus. Die heutige Art der Industrie, der Landwirtschaft, der Stromerzeugung zerstört die Lebensgrundlagen des Menschen. Wir müssen sie umbauen. Der Kapitalismus hat sich globalisiert. Er hat Wohlstand geschaffen und Menschen aus der Armut befreit. Doch er hat auch allmächtige Finanzmärkte geschaffen und wachsende Ungleichheit. Ungleichheit produziert globale ökonomische Krisen. Im Platzen der New Economy 2000, in der Finanzkrise von 2008 offenbarte sich der Zyklus von Boom und Crash. Ungleichheit befördert Spekulation, führt Familien, Banken und ganze Staaten in Überschuldung – ja, in den Bankrott. Der Kapitalismus bedroht seine eigenen Grundlagen. Wir müssen ihn umbauen.
Klimawandel und Ungleichheit sind die beiden großen historischen Herausforderungen unserer Zeit. Sie verlangen nichts weniger als eine große Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft. Dieses Buch plädiert dafür, sich diesen Herausforderungen zu stellen. Nur wenn wir die wachsende Ungleichheit angehen, nur wenn wir den Klimawandel bekämpfen, wird es uns auch künftig gut gehen. Nur dann kann es unseren Kindern und Enkeln gut gehen. Von ihnen haben wir diese Erde nur geborgt. Ich streite für demokratische Politik. Es gibt keine Ohnmacht der Politik, außer einer politischen Selbstentmachtung. Es gilt, globalisierten Märkten einen demokratischen Rahmen zu geben. Nur mit einem Rahmen funktionieren Märkte. Nur damit kann dem Marktversagen des Klimawandels begegnet werden. Nur damit kann der Schweinezyklus von Boom und Crash gebremst werden. Deutschland ist stark. Deutschland trägt eine große Verantwortung. Wenn Deutschland sich aktiv aufmacht, Finanzmärkte zu regulieren und Ungleichheit zu bekämpfen, wird Europa mitziehen. Wenn Deutschland wieder zum Antreiber des Klimaschutzes wird, dann wird Europa es auch. Der Stillstand made in Germany aber blockiert Europa. Und er blockiert die Welt ausgerechnet in dem Moment, in dem die USA und China sich in Sachen Klimaschutz endlich in Bewegung setzen.
Wir müssen den Stillstand made in Germany durchbrechen. Das Biedermeier 2.0 darf nicht zum Dauerzustand werden. Ein anderes Land ist möglich. Ein anderes Land ist nötig, wollen wir uns den globalen Herausforderungen stellen. Wir brauchen eine große soziale und ökologische Transformation. Und sie braucht politische Mehrheiten. Deshalb wirbt dieses Buch für eine Politik des Ökologischen Materialismus. Es reicht nicht, über die Probleme Bescheid zu wissen. Das Wissen über den Klimawandel ist notwendig, aber nicht hinreichend. Es reicht leider auch nicht, empört zu sein. Empörung über Ungerechtigkeit und Ungleichheit überwindet noch nicht die Furcht vor den Mächtigen. Aus gesellschaftlichen Mehrheiten für einen Wandel werden nur politische Mehrheiten, wenn die kurzfristigen Interessen der Menschen mit den langfristigen Zielen des Umbaus zusammenkommen. Nur wenn die Angst zu verlieren nicht zur Blockade wird, kommt Mut zum Wandel auf. Deshalb gehören Ökologie und Gerechtigkeit, der Kampf gegen den Klimawandel und gegen die Ungleichheit, untrennbar zusammen. Nur mit einer Politik des Ökologischen Materialismus lässt sich der Stillstand made in Germany überwinden. Nur mit Ökologie und Gerechtigkeit ist ein anderes Land möglich.
1. Ebenen der Blockade
Vom Wollen und Wählen
Widerstände gegen die Veränderung des Landes finden sich auf vielen Ebenen. Die Barrikade gegen eine ökologische Modernisierung und gegen mehr Gerechtigkeit verläuft dabei mitten durch uns selbst hindurch. Die Blockierer sind nicht immer die anderen. Wir sind es selbst. Viele Menschen in unserem Land wissen, dass es mit unserer Wirtschaft und Lebensweise nicht einfach so weitergehen kann. Sie meinen es ernst, wenn sie den Anrufern der Umfrage-Institute ihre Unterstützung für Klimaschutz, Mindestlohn, Energiewende oder gerechte Steuern mitteilen. Wenn sie mit großen Mehrheiten sagen, dass sie sich eine gerechtere Verteilung wünschen und eine umweltfreundlichere Wirtschaft, dann meinen sie das auch. Diese allgemeinen Antworten lassen sich leicht geben.
Wenn es aber an das konkrete Handeln geht, kommt Verunsicherung auf. Veränderung ist anstrengend. Es muss nämlich in jede Innovation – vor allem am Anfang – investiert werden. Der eine oder andere muss sich umstellen und unter Umständen seine Gewohnheiten komplett umkrempeln. Umbau meint Aufbau und Abbau, es gibt Gewinner und Verlierer. Eine traditionsreiche Branche kommt in Schwierigkeiten und muss einer neuen Platz machen. Die Vorteile des Neuen sind noch nicht greifbar, der Verlust des Alten aber schon spürbar. Kurz: Es wird unbequem. Der tatsächliche Veränderungsstress ist etwas anderes als eine wohlfeile Meinungsäußerung. Viele kennen das vom Sport. Man wollte sich schon immer mehr bewegen, aber dummerweise war der Arbeitstag wieder so lang, es ist schon dunkel, man muss noch einkaufen – und schon entfällt der Waldlauf oder der Besuch im Fitness-Studio. Der Sport wird vertagt, oft auf den St. Nimmerleinstag. Bei politischen Entscheidungen ist das nicht anders. Man schiebt die nötige Veränderung auf, hört auf die Warner, die Verzagten und die Bewahrer des Bestehenden. Für viele Menschen ist es ohne Weiteres vereinbar, morgens für den Wandel zu reden und mittags dem Bremser die Stimme zu geben. Klimaschutz muss sein, aber »die Wirtschaft« muss ebenfalls laufen. Mehr Gerechtigkeit? Ja, aber man darf die Reichen nicht aus dem Land treiben, schließlich geben sie uns Arbeit. Man kann das ambivalent nennen, kompliziert oder auch schizophren. Die Wahrheit ist: Wir haben eben unterschiedliche Wünsche und Bedürfnisse. Und diese widersprechen sich häufig. Wenn es ernst wird, haben die Menschen ein untrügliches Gespür für ihre unmittelbaren und kurzfristigen Interessen.
Wie kann das Vernünftige und langfristig Vorteilhafte das Prinzip der schnellen Wunscherfüllung aus dem Rennen werfen? Ein schlechtes Gewissen führt selten zu einer dauerhaften Verhaltensänderung. Eine entscheidendere Motivation ist noch immer die des eigenen Vorteils. Menschen ändern ihr Verhalten vor allem, wenn sie einen Vorteil darin erkennen und erfahren. Und so kann man in der Gesellschaft viele Menschen zu mehr Veränderungsbereitschaft ermuntern und ihnen Vorteile in Aussicht stellen. Oder man kann ihnen durch Warnungen und Drohungen Angst vor der Veränderung einjagen. Veränderung gilt als riskant. Gerade hier in Deutschland und gerade in einer Zeit, in der es dem Land wirtschaftlich noch gut geht. Die Selbstblockade entsteht in einem Spannungsfeld zwischen grundsätzlicher Veränderungsbereitschaft und tatsächlicher Umsetzung. Wir Deutschen sind nicht schizophren. Wir kennen unsere Prioritäten. In den letzten Jahren wurde eine Geschichte rauf- und runtererzählt. Sie überlagert fast alle anderen. Sie geht so: Die erfolgreiche Wirtschaftsnation Deutschland muss sich im Konkurrenzkampf mit den aufstrebenden Nationen der Welt behaupten: mit China, Indien, Brasilien, der Türkei, Russland und anderen. Diese Geschichte vom Wettbewerb der Nationen dominiert die Einstellung der Deutschen zur Globalisierung, zum Klimawandel und zum Rest Europas. Sie ist nicht vollkommen absurd, zeichnet aber ein stark vereinfachtes und letztlich falsches Bild von der Welt. Sie sortiert die Menschen vor allem in nationale Gruppen ein, nicht in die Gruppe der Arbeitnehmer, Investoren, Flüchtlinge oder Touristen. Sie appelliert in der zusammenwachsenden Welt an das alte Kollektiv der »Nation« gegenüber den »Fremden«. Und vor allem: Sie schürt Angst. Eine Angst, die doch verwundern muss.
Fast ist es so, als würde der FC Bayern nicht mehr in der Bundesliga spielen wollen, aus Angst, doch mal ein Spiel pro Saison zu verlieren. Deutschland ist aus den Wettbewerbskämpfen auf den Weltmärkten des letzten Jahrzehntes als klarer Sieger vom Platz gegangen. Klar, das gilt nicht für alle Deutschen. Viele hierzulande haben von den Erfolgen der deutschen Exportwirtschaft überhaupt nicht profitiert. Das international strahlende Beispiel der deutschen Volkswirtschaft bedeutet nach innen, dass Millionen in prekären oder schlecht bezahlten Jobs arbeiten, dass Millionen seit Jahrzehnten keine Einkommenszuwächse haben. Aber im Vergleich mit anderen Staaten, deren Unternehmen auf den Weltmärkten verloren haben oder chancenlos sind, geht es vielen in Deutschland derzeit sehr gut. Diese dem Anschein nach einheitliche Nation, diese trügerische, aber suggestive Gesamtidee der sogenannten »deutschen Wirtschaft« – sie steht gut da. Sie hat im Wettbewerb fürs Erste gewonnen. Und obwohl gar nicht alle etwas davon haben: Auf der intuitiven Ebene fühlen sich viele Deutsche zugehörig zu dieser erfolgreichen Wirtschaftsnation. Ihren Erfolg und Vorsprung möchte man nicht gefährden. Bevor wir »unsere« Industrie durch zu hohe Löhne und zu viel Klimaschutz im Wettbewerb schwächen, halten wir uns doch lieber an das, was »unsere« Wirtschaftsführer und die von ihnen unterstützten Politiker uns sagen.
Und so stimmen wir Deutschen gegen unsere eigenen Werte und gegen unsere eigenen langfristigen Interessen ab. Bevor wir selbst zurückstecken, und die anderen uns »über den Tisch ziehen«, treffen wir eine Prioritätsentscheidung. Wir leben als Wettbewerbsgewinner Germany auch ohne große Veränderungen ganz gut. Diese Story von der erfolgreichen Wirtschaftsnation im globalen Wettbewerb ist bei aller Geschmeidigkeit der Angela Merkel das Geheimnis ihres Erfolges. Der Appell an den verdrucksten deutschen Kollektiv-Egoismus ist – wie auch die Angst vor »den anderen« – archaisch. Er sollte in unserer Zeit keinen Platz mehr haben. Er verleitet dazu, zu vergessen, wovon wirtschaftlicher Erfolg heute abhängt, wie verflochten und international Wirtschaft heute funktioniert, wer alles an den Produkten mitarbeitet, die aus Deutschland stammen, wie viel wir anderen verdanken und wie stark unser Wirtschaftswunder vom Wohlergehen anderer Volkswirtschaften abhängt. Und er widerspricht in vielerlei Hinsicht dem, was wir Deutsche eigentlich denken und wollen, wie wir uns sehen und wie wir gesehen werden wollen. Viele von uns wollen weltoffen, international und empathisch sein. Wir sind gute Nachbarn, hilfsbereit und kooperativ. »Die Welt zu Gast bei Freunden«, so lautete das Motto der WM 2006, nicht »die Welt zu Gast beim Wirtschaftskönig«! Junge Deutsche studieren im Ausland und ausländische Studierende machen in Deutschland ihren Abschluss. Wir sind das reiselustigste Volk der Welt, 11 Millionen Touristen besuchen jedes Jahr Berlin. Ist nicht eher die Welt unsere Heimat? Auch in der harmlosen Form der Kartoffelsuppenköchin und Autokanzlerin Angela Merkel hat der Wirtschaftswunder-Stolz etwas Kurzsichtiges, Kleingeistiges und Rückwärtsgewandtes. Das offenbart sich regelmäßig, wenn AfD, CDU oder CSU das wahre Gesicht des Nationalkonservatismus zeigen und mit Ressentiments gegen Zuwanderer Punkte machen. In CSU-Kampagnen wie »Wer betrügt, der fliegt« offenbarte sich die Kehrseite des Eigenstolzes: Die Verachtung der anderen.
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