Vorwort
Das Pulverfass im Nahen Osten
Diese Bilder gingen um die Welt: Tausende Menschen, Männer, Frauen, Kinder, bewegen sich in kilometerlangen Schlangen entlang von Autobahnen, über Feldwege in hitzeflimmernder Ebene, lagern zu Hunderten auf überfüllten Bahnsteigen, drängen in ohnehin schon überfüllte Züge . . . Es sind Bilder, die uns im September 2015 in einer Intensität wie nie zuvor erreichen. Es sind Szenen, die sich unmittelbar an der Grenze zu Österreich abspielen. An manchen Tagen überqueren bis zu 20000 Menschen die Grenze, pro Woche sind es zuweilen zwischen 100 000 und 150 000. Keine Polizei, kein Zaun kann sie aufhalten auf ihrem Weg in die EU, vor allem nach Deutschland. Es sind Flüchtlinge aus von Bürgerkriegen erschütterten Ländern der islamischen Welt wie auch Schwarzafrikas. Aber der Großteil von ihnen kommt im Herbst 2015 aus Syrien.
Wieder rückt Syrien machtvoll in die Schlagzeilen der Weltpresse – und diesmal auf sehr bedrängende Weise: Syrien ist nicht mehr nur distanziert aus der Ferne zu betrachten, Syrien kommt im wahrsten Sinn des Wortes zu uns, mit vielen Tausenden, gar Hunderttausenden Menschen innerhalb weniger Wochen. Ganz neu stellt sich so die Frage: Was für ein Staat ist Syrien?
Diese Bilder gingen ebenfalls um die Welt: Die traditionsreiche Handelsmetropole Aleppo im Norden Syriens ist eine durch Bomben und Straßenkämpfe zerstörte Stadt. Gerade der weit ausgedehnte Basar, einer der schönsten des islamischen Orients, ein »Weltkulturerbe«, besteht nur noch aus geschwärzten Ruinen. Und eine Reihe anderer syrischer Städte bietet genauso einen Anblick, der an die Trümmerlandschaften Deutschlands unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert; kilometerweit nur noch durch die Luftwaffe des Assad-Regimes zerbombte Häuser.
Und schließlich gingen auch diese Bilder um die Welt: Rauchsäulen über der antiken Tempelstadt Palmyra, einem viel besuchten Touristenziel und »Weltkulturerbe« wie die historisch gewachsene Altstadt von Aleppo. Radikale »Gotteskrieger« des sogenannten »Islamischen Staates« sprengten vorislamische Heiligtümer als verabscheuungswürdige Zeugnisse eines »heidnischen Götzendienstes«.
Wie hat es in Syrien zu einem derartigen Bürgerkrieg kommen können, der nicht nur den Nationalstaat selbst, sondern sogar Nachbarländer in den Strudel dieses Konflikts reißt?
Ich hatte Syrien Mitte der 1990er-Jahre zwei Mal bereist. Fasziniert von der kulturellen Vielfalt dieses Landes und der Aufgeschlossenheit seiner Bewohner, aber irritiert durch die damals schon prekäre politische Krisensituation, verfasste ich 1998 ein Buch mit dem Titel Syrien. Religion und Politik im Nahen Osten. Dem einleitenden Kapitel gab ich die Überschrift "Erste Eindrücke: Syrien ein Pulverfass?" Diese Überschrift mutet aus heutiger Sicht prophetisch an. Allerdings glaubte ich damals, dass die untergründigen Spannungen im Verlauf der folgenden Jahre gemeistert würden – in dieser Meinung einig mit vielen anderen westlichen Beobachtern. Ich versah daher die Überschrift mit einem Fragezeichen.
Die Unruhen des sogenannten "Arabischen Frühlings" seit dem Januar 2011 veränderten abrupt und nachhaltig die Situation. Das Fragezeichen in meiner Überschrift hat sich erübrigt, das Pulverfass ist explodiert – und dies ausgerechnet in einem Staat, der lange Zeit als wesentlich stabiler galt als etwa der Libanon, der Irak, das Westjordanland.
Syrien verdient jedoch, abgesehen von der aktuellen katastrophalen Situation, ohnehin weltweite Aufmerksamkeit. Denn Syrien ist nicht nur eine Schlüsselmacht im Nahen Osten, wo tief gehende Veränderungen stets Folgen für die ganze Region zeitigen. Syrien ist wesentlich mehr. Zwar ist der Nationalstaat mit seinen heutigen politischen Grenzen erst im 20. Jahrhundert entstanden, aber Syrien als Kulturraum ist über 3000 Jahre alt: eine Drehscheibe östlicher und westlicher Kulturen mit überragenden Zeugnissen aus antiker, frühchristlicher und islamischer Zeit. Einst war der syrische Raum eine geistige Hochburg des frühen Christentums, dann ein Kernland des Islam, für beide Weltreligionen ein Zentrum entscheidender geistiger Weichenstellungen. Syrien war der hauptsächliche Schauplatz auch der Kreuzzüge, deren verhängnisvolle Nachwirkungen in den Emotionen von Muslimen wie Christen bis heute zu spüren sind und immer wieder erneut politisch instrumentalisiert werden. Syrien war zudem einer der maßgebenden Brennpunkte, in denen sich die Religionsspaltung in Sunniten und Schiiten entwickelte. Und Syrien ist bis heute eine Region mit einer besonders großen religiösen Vielfalt – zum einen mit der Herausforderung, Toleranz zu leben (was über viele Jahrhunderte gelungen ist), zum anderen mit der Gefahr eskalierender Konflikte (was gerade die Gegenwart signalisiert).
Syrien ist darüber hinaus der Ursprungsort des arabischen Nationalismus und damit eines der ersten islamischen Länder, in denen der Konflikt zwischen säkularen Nationalisten und muslimischen Fundamentalisten eine explosive Dynamik entfaltete. Diese Auseinandersetzung kulminierte schließlich unter der Herrschaft des Assad-Regimes mit den inzwischen unabsehbaren Folgen; unter Hafis al-Assad, der von 1970 bis 2000 regierte, und seither seinem Sohn Baschar al-Assad.
Im vorliegenden Buch ziehe ich eine Verbindungslinie von weit zurückliegenden Umbrüchen bis hin zu den tief gehenden Verwerfungen in unserer Gegenwart, um zu zeigen, dass die Krise von heute Wurzeln in früheren Jahrzehnten, ja früheren Jahrhunderten hat. Und mehr noch: dass der Kulturraum Syrien schon in der Vergangenheit schwerwiegende Umbrüche meistern musste – Umbrüche, die einerseits Zerstörung zur Folge hatten und andererseits Aufbrüche zu neuen, zukunftsweisenden Lebensformen bedeuteten.