Warum dieses Buch?
Über die Notwendigkeit von Toleranz
70 Jahre ist es her, dass sich Deutschlands Westen nach der Gewalt und den Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes mit dem Grundgesetz eine freiheitliche und demokratische Grundlage gab. 30 Jahre ist es her, seit Deutschlands Osten nach dem Gewinn der Freiheit wiedervereinigt wurde. Niemals werde ich vergessen, mit welch überwältigender Erleichterung und Freude ich diese Zeit erlebte und mit welchen großen Erwartungen ich in die Zukunft blickte. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass es jemals notwendig sein würde, über Toleranz in unserem Land zu schreiben. Denn mit dem Gewinn von Freiheit und Demokratie musste sie sich quasi naturwüchsig dazugesellen und erweitern – davon war ich überzeugt.
So blieb die Vorstellung von Toleranz lange wie ein altes Familienschmuckstück in meinem Besitz – geschätzt, aber wenig beachtet. Nun aber, in neuer Zeit, wollte sie genauer angeschaut und bewertet werden. Denn etwas hat sich tiefgreifend verändert im Land. Das Klima zwischen den Menschen ist rauer geworden. Ich erlebe die gegenaufklärerische Leugnung von Fakten und Evidenz und die Geringschätzung Experten gegenüber, als ließe sich Wahrheit durch subjektives Empfinden oder willkürliche Festlegungen neu erfinden. Auf den Straßen und mehr noch im Netz ist eine zum Teil bösartige Intoleranz zu besichtigen und eine Verweigerung von Affektkontrolle, die sich eine Generation zuvor höchstens versteckt gezeigt hatte und in eher begrenzten Gruppen üblich war. Fast kein Tag, an dem durch die sozialen Netzwerke nicht eine Flut von Beleidigungen, Häme, ja Hetze spült. Zivilisatorische Schranken, die uns gelehrt hatten, Unwillen nicht in Beschimpfung und Wut nicht in Aggression kippen zu lassen, erweisen sich zunehmend als unwirksam. Die Hemmschwellen sind gesunken.
Nun sehe ich, was ich nach dem Erschrecken über die Anschlagsserie Anfang der 1990er Jahre in Hoyerswerda, Solingen, Hünxe, Mölln und zahlreichen anderen Städten in diesem Ausmaß nicht mehr erwartet hatte: eine alte und neue Fremdenfeindlichkeit, alten und neuen Rassismus, Antisemitismus, zudem eine wachsende Bereitschaft in Milieus von Einheimischen wie Eingewanderten, sich autoritären Führerpersönlichkeiten zuzuwenden und gewählte Volksvertreter mit Verachtung, Hass und Häme zu überschütten. Im politischen Leben hat sich die Frontbildung zugespitzt wie vielleicht zum letzten Mal im Westdeutschland Ende der 1960er Jahre. Der politische Gegner wird schnell zum Feind erklärt, der mit meist moralischen Werturteilen angegriffen, ausgegrenzt und möglichst mundtot gemacht werden soll. Kompromisse erscheinen häufig nicht mehr wünschenswert, werden vielmehr als Ausdruck politischer Schwäche verachtet und durch die Politik des »alles oder nichts« ersetzt. »Volk gegen Elite«, heißt es stattdessen.
Die Dialogkultur hat erheblich gelitten, ein Miteinander-Reden ist manchmal nicht mehr möglich. Statt das Gespräch oder auch den handfesten Disput mit Andersdenkenden zu suchen, ziehen sich nicht wenige Bürger in gleichgesinnte Lebenswelten zurück. Freundschaften enden aufgrund unterschiedlicher Lagerzugehörigkeit, Milieus sortieren sich neu, die etablierte Parteienlandschaft löst sich auf – weniger in Deutschland, deutlicher in anderen westlichen Ländern. Die Radikalisierung hat zugenommen. In ihrem manichäischen, auf Spaltung und Polarisierung angelegten Weltbild unterscheiden sich Rechtsradikale nicht von Linksradikalen und nicht von Islamisten. Häufig greifen sie zum Mittel der Gewalt und missachten die Rechtsordnung. Letztlich sind die Fundamentalisten unterschiedlichster Couleur aus demselben Holz geschnitzt.
Als weiteres Problem sehe ich falsche Toleranz, die neben aller bewundernswerten Empathie etwa gegenüber Menschen aus Einwandererfamilien nicht frei ist von Naivität und allzu großer Nachsichtigkeit. Das, was divers ist, gilt einigen allein schon wegen seiner Andersartigkeit als schützenswert. Beispielsweise ist die Politik einiger Multikulturalisten von dem Diktum bestimmt, andere Kulturen, Sitten, Religionen seien pauschal als erweiternd, belebend, eben »bereichernd« anzusehen. Wer nach konkreten Inhalten anderer Sitten und Religionen fragt und sich unter Umständen dagegen abgrenzt, gilt schnell als Rassist. Diversität gilt etlichen pauschal als das neue Leitbild.
Die Toleranz ist nach den globalen Gewalterfahrungen bis Mitte des 20. Jahrhunderts unbestritten als eine grundlegende Voraussetzung einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft akzeptiert. »Praktizierte Toleranz bedeutet [...] für jeden einzelnen Freiheit der Wahl seiner Überzeugungen, aber gleichzeitig auch Anerkennung der gleichen Wahlfreiheit für die anderen.« So heißt es in der Erklärung über die Prinzipien der Toleranz, die 1995 von den UNESCO-Mitgliedsstaaten zum 50. Jahrestag ihres Bestehens verabschiedet wurde. Da die Menschen unterschiedlich sind, da demokratische Gesellschaften auf Pluralität beruhen, kann nur Toleranz das friedliche Zusammenleben sichern. Das ist so einsichtig, so erfahrungsgestützt, dass alle bewusst lebenden Menschen es leicht nachvollziehen können.
Doch obwohl Toleranz in jedem Bildungsplan westlicher Gesellschaften verankert ist und an Feier- und Gedenktagen für sie geworben wird, zeigt sich, dass sie keine selbstverständliche Haltung war und erst recht nicht ist. Mehr noch: Es ist nicht einmal klar, was Toleranz genau meint. Philosophen, Theologen, Juristen, Soziologen und Journalisten haben zwar immer wieder über Toleranz nachgedacht, eine präzise, für alle verbindliche Definition hat sich daraus aber nicht entwickelt. Bis heute kennzeichnet den Begriff eine gewisse Unschärfe. Für die einen ist Toleranz eine Tugend, unter der sie die weitherzige Akzeptanz von anderen Positionen verstehen. Andere halten Toleranz für eine Untugend, weil sie darin eine nur herablassende Duldung sehen. Wenn es beispielsweise im »Historischen Wörterbuch der Philosophie« heißt, Toleranz sei »die Duldung von Personen, Handlungen oder Meinungen, die aus moralischen oder anderen Gründen abgelehnt werden«, werden sich sicher Menschen finden, die mit Goethe darauf antworten: »Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.«
Ich spürte jedenfalls: Wenn ich Toleranz bedroht sehe und die neue Intoleranz bekämpfen will, muss ich vertieft Bescheid wissen. Deswegen wollte ich genauer wissen, wie Toleranz entstanden ist und warum sie immer wieder vernachlässigt oder missachtet wurde. Und wenn mich mein angeborener Optimismus dazu zu verleiten suchte, allein die Fortschritte von Toleranz in der Geschichte zu sehen, musste ich mir nur die Vergangenheit des 20. Jahrhunderts in Deutschland und Europa aufrufen, zwei totalitäre Systeme, für die Intoleranz gegenüber Andersdenkenden und Minderheiten geradezu ein grundlegendes Kennzeichen war. Und ich sah: Mögen Nationalsozialismus und Kommunismus in Europa auch Vergangenheit sein, als Versuchung sind andere Formen autoritärer Herrschaft wie auch neue Intoleranz für manche Zeitgenossen wieder attraktiv.
So versuchte ich dem nachzuspüren: Was macht Toleranz aus, und was macht sie notwendig? Und warum ist Intoleranz attraktiv? Der Text, der aus diesen Fragen und Sorgen entstanden ist, dient der Selbstvergewisserung: Er versucht, sich die Geschichte des Begriffs zu erschließen, und verbindet dies mit den aktuellen Auseinandersetzungen. Dabei ist mir bewusst (geworden), dass ich bei mancher Kontroverse noch keine endgültige Urteilssicherheit habe. Nur eines ist mir klar geworden: Wir brauchen in unseren Breiten eine deutlichere und bewusstere Debatte über Toleranz, diese schwer errungene, oft verweigerte, von verschiedenen Seiten diskreditierte Haltung freier Menschen.
So schreibe ich auf, was ich heute weiß. Es kann nur ein Gesprächsbeitrag sein. Mag er gültig sein, so ist er jedenfalls nicht endgültig.
Frühere eigene Erfahrungen mit Toleranz und Intoleranz
Darüber nachzudenken, was Toleranz meint, war für mich in meinen jungen Jahren nicht nötig gewesen. Sie kam wie von selbst in mich hinein, denn sie gehörte zur gebotenen Lebensform eines Christenmenschen. Wer dem Nächsten mit Respekt, Aufmerksamkeit und Empathie begegnen wollte, musste tolerant sein. Das verstand sich fast von selbst, war also eigentlich ganz einfach – einfach im Sinne von selbstverständlich.
Genauso einfach im Sinne von selbstverständlich war es, gerade nicht tolerieren zu wollen, was in der DDR als politische und kulturelle Doktrin über uns gekommen war. Bereits als Kind wusste ich, dass das, was um mich herum geschah, Unrecht und Willkür waren. Die Menschen waren nicht gleich, sondern wurden ungleich behandelt je nach politischer Haltung. Oppositionelle wurden diskriminiert, etliche kamen ins Gefängnis oder wurden bis in die 1950er Jahre nach Moskau und Sibirien verschleppt, von wo viele nie zurückkehrten. Wer eine andere Auffassung vertrat als die herrschende Partei, durfte nicht studieren, ja nicht einmal Abitur machen. An den Universitäten und Hochschulen verpflichtete man alle Studierenden zum gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudium des Marxismus-Leninismus, Karrieren waren weitgehend von einer SED-Mitgliedschaft abhängig. Bücher und alle Medien unterlagen der Zensur – Lügen und Halbwahrheiten fanden sich allüberall. Ich schweige vom grundsätzlichen Legitimationsdefizit der Parteiherrschaft, der Nichtgewährung freier und gleicher Wahlen und ihrer Folge: der Ohnmacht der Vielen.
Über Toleranz haben wir im Elternhaus und später unter Freunden nie diskutiert. Privat war sie selbstverständlich, im politischen Leben hatte sie angesichts unserer Lebensrealität keine Bedeutung, keinen Platz, kein Betätigungsfeld. Wir wollten uns weder um eine tolerante Haltung gegenüber dem diktatorischen Regime bemühen, noch durften wir von ihm Toleranz uns gegenüber erwarten.
Im Rückblick würde ich sagen: Ich bin angesichts dieser Verhältnisse nicht mit einem Gebot zur Toleranz im politischen Raum aufgewachsen, sondern mit einem Verbot. Ein permanenter Widergeist des »Nein« und »Nimmermehr« und ein beständiges »Aber« bestimmten mein Denken und Fühlen. Auf die Indoktrinierung und Intoleranz des herrschenden Systems antwortete ich mit dem Trotz und dem unbedingten Willen dessen, der sich behaupten und »ihnen« gegenüber immer recht haben und recht bekommen will. Ich wollte keine Toleranz gegenüber der Intoleranz entwickeln, wollte nicht billigen, was der Gesellschaft als Meinung, Lebensstil, Kultur, selbst als wissenschaftliche Lehrmeinung aufgezwungen wurde. Denn nicht Pluralität prägte den Alltag in der DDR, sondern die dichotome Frontstellung »Wir« gegen »Die«. »Wir«, die wir uns verweigerten oder aufbegehrten, gegen »Die«, die Konformität und Unterordnung erzwingen wollten. So verbarrikadierte ich mich in meinem Dagegen und trainierte Selbstbehauptung.
Eine ideologisch offene Haltung gegenüber jenen, die als Sachwalter eines intoleranten Systems auftraten, wäre den allermeisten Aktiven in Kirchengemeinden, Basis- und unabhängigen Künstlergruppen wie Verrat erschienen. Das unterschied sie von jenen in der DDR, die glaubten, sich mit der Macht gut stellen zu müssen, um vielleicht eine Reform von oben einzuleiten. Für die Kirche, in der ich viele Jahre als Pastor arbeitete, war jedenfalls klar: Absprachen, wie ich sie beispielsweise in den 1980er Jahren zur Vorbereitung der evangelischen Kirchentage in Rostock zu führen hatte, waren ausschließlich mit staatlichen Stellen zu treffen und nur zur Not mit der Partei, aber auf keinen Fall mit der Staatssicherheit. Die ungleichen Positionen lagen auf der Hand – der Staat war fast allmächtig, die Kirche fast ohnmächtig –, manchmal allerdings konnten wir doch gewisse Freiräume durchsetzen, ohne grundsätzlich die Unabhängigkeit unserer Positionen aufzugeben. Die Wirklichkeit gebot uns, die Macht der Diktatoren als gegeben zu akzeptieren. Diese zu ertragen, war ein Gebot der Notwendigkeit, nicht der Toleranz.
Was mich und viele andere damals zusätzlich schmerzte, war die Tatsache, dass Unangepasste nicht nur auf die Intoleranz von Partei und Regierung stießen, sondern auch auf die Intoleranz vieler Mitbürger. Da war der Nachbar, der argwöhnisch verfolgte und meldete, ob die Studentin im Parterre des Öfteren Westbesuch bekam. Da war der Arbeitskollege, der, ohne jemals dazu beauftragt worden zu sein, weitergab, dass der Lehrling eine Bibel auf dem Regal seines Wohnheimzimmers stehen hatte. Wie wir inzwischen aus dem Stasi-Archiv wissen, haben sich telefonisch auch immer wieder Bürger gemeldet, die der Stasi »einfach nur mal sagen« wollten, dass die Bekannte YZ vom letzten Urlaub in Polen Materialien der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność mitgebracht hatte oder der Kollege Bücher aus dem Westen besaß. Derartige Denunziationen von Nachbarn und Kollegen gruben sich unter Umständen tiefer in die Seelen der Denunzierten ein als der allgegenwärtige Druck der Partei, weil sie ihnen im Alltag weniger Auswege ließen und ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Umwelt schufen.
Es wäre allerdings nur die halbe Wahrheit, wenn ich nicht auch davon berichten würde, dass die Ideologie des herrschenden Systems auch eine verführerische Seite besaß. Angeblich diente sie doch einem guten Zweck: dem Erreichen des endgültigen Ziels der Geschichte, dem eigentlichen, dem tiefer verstandenen Interesse der Menschheit. Ohne Denken und Handeln der Partei gab es angeblich keinen Fortschritt. Wenn die Vertreter der »Arbeiter-und-Bauern-Macht« die Interessen des Volkes also am besten vertraten, dann waren sie auch berechtigt, diese Interessen notfalls gegen den Willen von Betroffenen durchzusetzen. Sogar Staatsterror wie etwa am 17. Juni 1953 wurde dann ein legitimes Mittel, Menschen zu ihrem Glück zu zwingen. Und es mangelte nicht an willfährigen Dichtern und Intellektuellen, die sich daran beteiligten, »das Ungereimte zu reimen«, wie Wolf Biermann dichtete. Sie sangen das Lob der Intoleranz, einige verführt von einer Heilserwartung, andere aus Eigennutz.
Dann, spät, kam 1989. Das lange Unvorstellbare wurde Wirklichkeit. Die DDR hörte schneller auf zu existieren, als jemand von uns Unabhängigen und Oppositionellen das jemals zu träumen gewagt hätte. Wir, die Menschen der damaligen DDR, erkämpften erst die Freiheit und erlebten dann sogar die Wiedervereinigung. Ich schied als Pastor aus der Kirche aus und stieg in die Politik ein, denn ich wollte in der »neuen« Politik mitgestalten. Mein Lebensmittelpunkt verlagerte sich von Rostock nach Berlin. Und was die Toleranz betrifft, so war sie zwar in meiner Vorstellung immer eine unerlässliche Tugend eines demokratischen Staates gewesen. Doch als ich ihr tatsächlich begegnete, erschien sie mir manchmal eher als Belastung denn als Bereicherung. Nun war sie offiziell zwar selbstverständlich, aber gar nicht mehr einfach.
Der Neubürger in der Freiheit, der ich damals war, fremdelte zum Beispiel mit dem Fremden, den Ausländern und Migranten auf den Berliner Straßen. In Rostock waren die Vietnamesen, Polen, Mosambikaner oder Kubaner, die seit Mitte der 1960er Jahre als Arbeitskräfte ins Land gerufen worden waren, abgeschottet in Wohnheimen untergebracht. Ich war Ausländern nur gelegentlich im Rahmen der Kirche oder während meiner wenigen Auslandsbesuche begegnet. Als Fremde in der Fremde waren sie mir attraktiv und interessant erschienen, als Teil meines Alltags kratzte ihre unübersehbare Anwesenheit an meinen Gewohnheiten und Vertrautheiten.
Ich fremdelte auch mit der Rolle und dem Auftreten von Homosexuellen und Lesben im öffentlichen Leben. Nie hatte ich in der DDR gesehen, dass Homosexuelle sich auf der Straße ihre Zuneigung zeigten. Zwar hatte die DDR das Verbot der Homosexualität früher abgeschafft als Westdeutschland. Doch in der Gesellschaft blieb das Thema verpönt. Ich kannte mit meinen 50 Jahren nur wenige, die sich offen zu ihrer Homosexualität bekannt hätten. Lesben und Schwule fürchteten gar nicht mal so sehr die Intoleranz des Staates, sondern die Intoleranz ihrer nächsten Umgebung. Es war schon etwas Besonderes, dass evangelische Kirchenleitungen schwule Pastoren akzeptierten. In Ost-Berlin beispielsweise verdankten es Schwulengruppen der Toleranz evangelischer Gemeindemitglieder, dass sie überhaupt einen Raum bekamen, in dem sie sich treffen konnten.
Toleranz – das schien mir im wiedervereinigten Berlin aber auch eine dem juste milieu eigene Haltung der Indifferenz. Eine Unentschiedenheit gegenüber jeder Art von Eindeutigkeit und eine Scheu vor Verbindlichkeit – alles in allem eine entkernte Leichtigkeit. Vielen von uns aus dem Osten, die wir gerade gelernt hatten, entschieden aufzutreten, notfalls auch auf den Straßen und trotz des Risikos, auf die Gewalt des Staatsapparats zu stoßen, musste diese Toleranz unter dem Motto »anything goes« wie eine Spielart der Dekadenz erscheinen. Konfrontiert mit der Vielfalt in einer freien, offenen Gesellschaft sagte mir mein Kopf: Das ist Pluralität, und Pluralität braucht Toleranz. Mein Gefühl hinkte aber hinterher – im Vertrauten fühlte ich mich sicherer.
Ich habe in dieser Zeit der Eingewöhnung in den Westen allerdings auch erfahren, dass Fremdes nicht per Knopfdruck und nicht in beliebiger Menge integriert werden kann. Es braucht Zeit, um sich an Neues zu gewöhnen, sich teilweise vielleicht sogar mit ihm anzufreunden, es braucht auch Zeit, um zu lernen, Menschen und Dinge auszuhalten, die den eigenen Gewohnheiten und Denkweisen widersprechen. Ich lernte, dass es auch in einem demokratischen Staat Situationen geben kann, die mich überfordern und meine Toleranzgrenze überschreiten. Und ich erkannte, dass es, wenn man sich überfordert fühlt, besser ist, solche Situationen zu meiden, als sich vielleicht zu Reaktionen hinreißen zu lassen, die unbeabsichtigte Folgen haben.
Mehr als mir lieb war, wurde meine Fähigkeit zur Toleranz nämlich herausgefordert, nachdem ich als Abgeordneter von Bündnis ’90 im ersten frei gewählten Parlament der DDR mit der Funktion des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR betraut worden war. Die Erfahrungen aus der Nachkriegszeit im Westen Deutschlands hatten mich zu der Überzeugung geführt, dass das Verdrängen und Verschweigen von Verantwortung und Schuld während der Nazi-Diktatur ungerecht gegenüber den Opfern und schädlich für das moralische und das Rechtsempfinden der Gesellschaft waren. Mir vorzustellen, dass ähnlich wie in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik nun wieder Richter, Staatsanwälte oder auch Militärs aus der DDR-Diktatur unterschiedslos und ungeprüft von der neuen Demokratie übernommen würden, erschien mir nicht nur politisch unklug, es widersprach auch zutiefst meinem Gerechtigkeitsempfinden. Das wäre falsche Toleranz gewesen. Ähnlich dachten wohl alle, die für die Demokratie gekämpft hatten und jetzt als Abgeordnete verschiedener demokratischer Parteien in der Volkskammer saßen.
Ich war und bin bis heute der Meinung, dass es kein Laisser-faire geben darf gegenüber jenen, die Pluralität und Toleranz mit Füßen treten. Toleranz, die Nachsicht und Duldsamkeit preist gegenüber den Verächtern der Toleranz, hilft den Tätern und nicht den Opfern. Intoleranz gegenüber einer Intoleranz, die Menschen unterdrückt und verachtet, ist eine Haltung von Demokraten im Namen der Menschenwürde.
Dass jene, die das System der DDR getragen und gebilligt hatten, sich einer Aufarbeitung widersetzten und Geschichtsklitterung zu betreiben versuchten, verwundert nicht. Erstaunlicher war die Erfahrung, dass die Aufarbeitung kommunistischer Diktatur auch bei vielen linken und linksliberalen Intellektuellen aus dem Westen auf Skepsis oder Ablehnung stieß. Es gehe doch um Versöhnung, hieß es, nicht um Rache und Vergeltung. Ein »Schlussstrich« sei angesagt. Jemand kritisierte die Überprüfung möglicher Stasi-Kontakte sogar als Inquisition und forderte eine Amnestie. Wie passte das zusammen, fragte ich mich, dass sich die alte Bundesrepublik gerade aufgrund des Drucks von Linken und Linksliberalen zur kritischen Aufarbeitung der Nazi-Diktatur entschieden hatte, dasselbe Milieu nun aber gegenüber den Verstrickten der SED-Diktatur mit Wahrnehmungsverweigerung und einem milden Blick auf Diktatoren und ihre Zuträger reagierte? Hatte sich nicht längst die Einsicht durchgesetzt, dass der alten Bundesrepublik viele der Proteste nach 1968 erspart geblieben wären, wenn sie Unrecht zuvor nicht so lange unter den Teppich gekehrt hätte?
Bei genauerem Hinsehen ließ sich aufklären, was zunächst als paradox erschien. Ganz offensichtlich plädierten jene Menschen für den Schlussstrich, die sich in der jungen Bundesrepublik gegen eine Restauration von rechts wandten und in der Sowjetunion immer nur das Opfer sahen. Sie lehnten die Totalitarismustheorie ab, die auch linke Diktaturen delegitimierte. Sie wollten lieber schweigen als den repressiv-totalitären Charakter des realen Sozialismus benennen und sahen sowieso viel lieber nach Lateinamerika, nach Südafrika, aber nur ungern in den Osten. Was beispielsweise in Polen der antikommunistischen Solidarność gelang, stieß wegen deren Verbindungen zur katholischen Kirche auf Skepsis und Ablehnung. Die Angst davor, als Antikommunist zu gelten, hat den Einsatz für Menschen- und Bürgerrechte im real existierenden »linken« Totalitarismus untergraben. Damals habe ich gelernt, dass die Bereitschaft zu Toleranz immer auch abhängig ist von der politischen Haltung eines Individuums. Gegenüber Gleichgesinnten, Verbündeten im Geiste oder auch gegenüber Familienmitgliedern ist der Mensch offensichtlich eher zur Nachsicht bereit; gegenüber Gegnern hingegen entwickelt er frühzeitig eine Neigung zur Intoleranz.
Mein Verständnis von Toleranz beruht aber darauf, dass unterschiedliche und sogar entgegengesetzte politische Optionen oder Haltungen prinzipiell ein gleiches Existenzrecht haben. Es gibt nur einen einzigen Grund, Menschen von Toleranz auszuschließen, das ist, wenn sie sich nicht mehr im rechtlichen und ethischen Rahmen unserer Gesellschaft bewegen. Oder in den Worten des Rechtsphilosophen Norberto Bobbio: »Die Toleranz muss sich auf alle Menschen erstrecken, ausgenommen diejenigen, die das Prinzip der Toleranz leugnen. Kurz gesagt, alle, außer den Intoleranten, müssen toleriert werden.«
Mit diesem ideellen Gepäck im Kopf habe ich mich nun noch einmal aufgemacht, um dem nachzuspüren, was Toleranz heute angesichts neuer Lernfelder bedeutet.