5 | Wer hat Donald Trump gewählt – und warum hat es (k)einer vorab geahnt?
»Für mich ist es einfach nur ein Wunder«, freut sich Amapola Hansberger. »An seinen Sieg hat niemand geglaubt«, fügt die Gründerin der Organisation »Legal Immigrants for America« hinzu. Marisol Santiago, ein weiterer Gast in einem kubanischen Restaurant im floridianischen Orlando, stimmt zu. »Ich bin so stolz, dass ich Donald Trump wählen konnte.« Gleichwohl räumt sie ein, der gerade zum President-elect gewählte Republikaner sei nicht perfekt: »Ich liebe ihn nicht.« Aber sein Programm, das habe gestimmt. Einige Tische weiter sitzt Mandy Diaz, der aus Kuba kam, und erzählt, drei Tage zuvor habe die »schweigende Mehrheit gewonnen«. Es ist der 11. November 2016, überall im Land gibt es Demonstrationen gegen das gänzlich unerwartete Ergebnis der Wahl, mitunter verbunden mit Gewalttätigkeiten. Bei dieser Gruppe von Latinos ist die Stimmung hingegen prächtig. Hillary Clinton lag bei Amerikanern mit lateinamerikanischen Wurzeln US-weit zwar eindeutig vorne. Doch den Bundesstaat Florida gewann Trump, und er bekam dort immerhin jede dritte hispanische Stimme, 35 Prozent. In den gesamten USA waren es 29 Prozent – zwei Prozentpunkte mehr, als der moderate Kandidat Mitt Romney vier Jahre zuvor geholt hatte, und zwei Prozentpunkte weniger, als John McCain 2008 erzielte. Juan Torres, ebenfalls Gast in dem Restaurant, befürwortet sogar ausdrücklich Trumps Pläne zum Bau einer Mauer und zur Abschiebung krimineller Ausländer. Der staunenden CNN-Reporterin Randi Kaye erklärt er das so: »Die Quintessenz ist, dass sie das Gesetz gebrochen haben. Als ich in dieses Land kam, kam ich durch die Vordertür.« Und um seine Sicht ganz klar zu machen, wiederholt Juan das Bild: »Wenn Sie zu jemandem in sein Haus gehen, dann gehen Sie durch die Vordertür.«
Weiße Pessimisten
Den Schlüssel zu Trumps Erfolg bildeten gleichwohl die weißen Wähler. Das ist bei republikanischen Kandidaten die Regel. Aber Trump zog erstmals seit 1984, der Wiederwahl Ronald Reagans, große Teile der weißen Arbeiterklasse von den Demokraten hinüber zu den Republikanern. Sie bilden die Basis seiner Präsidentschaft. Ein Milliardär wurde zum Arbeiterführer, das ist eine der erstaunlichsten Erklärungen für seinen Sieg, und ein großer Teil dieser Wähler entschied sich für Trump aus Sorge um ihre Zukunft.
»Keine Gruppe von Amerikanern ist pessimistischer als weiße Arbeiter«, resümiert der Autor J. D. Vance in seinem 2016 erschienenen Buch »Hillbilly Elegy«, in dem er seine Herkunft aus einer perspektivlosen und durchaus hinterwäldlerischen Gesellschaft in den Appalachen und seine Abnabelung davon beschreibt. Vance fährt unter Berufung auf eine Studie des Meinungsforschungsinstituts Pew fort: »Deutlich über die Hälfte der Schwarzen, Latinos und Weißen mit College-Abschluss erwarten, dass ihre Kinder ökonomisch besser dastehen werden als sie. Unter weißen Arbeitern teilen diese Erwartung nur 44 Prozent. Noch überraschender ist, dass 42 Prozent der weißen Arbeiter – mit Abstand die höchste Zahl in der Umfrage – angeben, ihre Lebensumstände seien wirtschaftlich weniger erfolgreich als die ihrer Eltern.« spricht ganz und gar nicht gegen Trump, dass er vor allem unter dieser Klientel einen starken Rückhalt fand. Es spricht gegen die Politiker in den Dekaden zuvor, dass sie dieses Milieu in seiner Hoffnungslosigkeit beließen. Die Sozialprogramme auszuweiten, wie es die Demokraten oft versuchten, ist nicht das probate Gegenmittel. Vance beschreibt die zunehmende Zahl von welfare queens in den Appalachen, weiße, oft alleinerziehende Frauen aus schottisch-irischen Familien, die von der staatlichen Wohlfahrt leben und keine Anstrengung unternehmen, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Junge Männer verlieren einen festen Job nach wenigen Wochen, weil sie nicht bereit sind, morgens rechtzeitig bei der Arbeit zu erscheinen. In derartigen Fällen müsste der Staat eher fordernd, nicht fördernd auftreten – oder, wie es Vance formuliert, »Gott hilft denen, die sich selbst helfen«.
Unter weißen Arbeitern mittleren Alters in den USA ist in den vergangenen Jahren die Lebenserwartung gesunken, während sie unter Schwarzen, Latinos und allen anderen Gruppen steigt. Wesentlich dafür sind die Zunahme bei Medikamentenmissbrauch, Alkoholismus, Drogenkonsum und Selbstmord. Vor allem Heroin ist zur Geißel geworden in den weißen proletarischen Milieus der USA. Im südwestlichen Pennsylvania kostet ein Päckchen Heroin acht Dollar und eine Schachtel Zigaretten 6,85 Dollar. Die Polizei veröffentlichte mehrfach Fotos von jungen weißen Eltern, die wegen einer Überdosis vorn auf den Sitzen ihres geparkten Autos das Bewusstsein verloren haben, während auf der Rückbank Kleinkinder heulen. Die direkte Verbindung zu Trump: Das Heroin kommt über die Grenze aus Mexiko, und für viele seiner Wähler ist die Hoffnung, die Drogen zu stoppen, noch wichtiger als die Sorge vor illegalen Zuwanderern.
Eine alarmierende Studie der Woodrow Wilson School for Public and International Affairs vom September 2015 ergab, dass die Sterblichkeitsraten der 45- bis 54-Jährigen in Industrieländern, darunter die USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Schweden, Australien und Kanada, seit 1978 um jährlich rund zwei Prozent sinken. Nur in den USA riss dieser Trend 1998 ab, seitdem nimmt hier die Sterblichkeit unter den nicht-hispanischen Weißen um jährlich ein halbes Prozent zu. Es mag im Rückblick verständlich sein, dass Trump mit seiner Vorliebe für klare Sprache, mit seiner Verachtung für Political Correctness, mit seiner Kampfansage an das »Establishment« und seinem Hang zu gelegentlichen Obszönitäten bei dieser in der Regel schlecht ausgebildeten Wählerschaft punktete. Erstaunlicher ist, dass er schon in den Primaries seine republikanischen Konkurrenten beim Kampf um die religiösen Wähler ausstach. Der Playboy mit den abfälligen Sprüchen über Mexikaner und Frauen, der einen behinderten Journalisten nachahmte und Muslime unter Generalverdacht stellte, holte den tief christlichen bible belt, die Staaten im Süden des Landes, in denen evangelikale Christen einen starken Einfluss auf die öffentliche Meinung haben. Das ist erstaunlich, weil dezidierte Vertreter des evangelikalen Parteiflügels gegen den zweimal geschiedenen Trump konkurrierten, darunter der texanische Senator Ted Cruz und Ben Carson, inzwischen Minister für Stadtentwicklung im Kabinett des Präsidenten.
Warum Trump bei den Hispanics gut abschnitt
Bei allen ethnischen Minderheiten hat Trump gegen Clinton 2016 erwartungsgemäß verloren – aber zumeist weniger stark als Romney vier Jahre zuvor. Dass Trump bei den Hispanics ein vergleichsweise starkes Ergebnis (29 Prozent) einfuhr, hat erstaunt nach einem Wahlkampf, in dem er nicht nur sämtlichen illegalen, zumeist hispanischen Einwanderern die Deportation androhte (was andere Republikaner vor ihm getan hatten), sondern sie schon in seiner Bewerbungsrede am 16. Juni 2015 beschuldigte, mehrheitlich kriminell zu sein. Seine Vorurteile richteten sich auch gegen Amerikaner hispanischer Abstammung. Er unterstellte einem im US-Bundesstaat Indiana geborenen Bundesrichter mit mexikanischen Wurzeln, Gonzalo P. Curiel, Vorein-genommenheit in einem Prozess, den Absolventen der sogenannten »Trump University« gegen ihn angestrengt hatten. »Ich baue die Mauer. Das ist ein inhärenter Interessenkonflikt«, sagte Trump im Juni 2016 mit Blick auf Curiel. Der »gesunde Menschenverstand« lege nahe, dass der Richter, der »sehr stolz auf seine Herkunft« sei, »mich nicht fair behandelt«. In Wahlkampfreden bezeichnete er Curiel als »Donald- Trump-Hasser«. Dieser Vorwurf wurde vom Richter gleich dreifach widerlegt. Erstens verschob er den Prozess auf die Zeit nach der Wahl, damit die zu erwartende Presse den Kandidaten Trump nicht benachteilige. Zweitens kamen Nat und Nick Hentoff von der libertären Denkfabrik Cato in einer Untersuchung im Juni 2016 zu dem Ergebnis, dass Curiel »viel öfter zu Trumps Gunsten als gegen ihn entschieden« habe. Drittens er- wirkte er letztlich einen Vergleich, nach dem der Beklagte den Klägern 25 Millionen Dollar zu zahlen hat – Trump stimmte wenige Tage nach seiner Wahl zu. Als eine Klägerin protestierte und auf einen Prozess bestand, lehnte Curiel dies ab. Dass Trump trotz derartiger Agitationen gegen Hispanics bei dieser Bevölkerungsgruppe vergleichsweise gut abschnitt, ist vor allem seinem Wahlkampfversprechen zu verdanken, nach Mexiko oder China abgewanderte Produktionsstätten wieder in die USA zu holen und neue Jobs zu schaffen.
Auch bei den Afroamerikanern kam Trump mit acht Prozent auf ein besseres Ergebnis als Romney 2012 (sechs Prozent). Zu den schwarzen Trump-Wählern gehört Leonard »Leo« Smith, seit 2013 im Vorstand der Republikaner im Bundesstaat Georgia für Minderheitenfragen zuständig. Smith sagte dem Autor, Trump sei ja »vielleicht ein amerikanischer Nationalist«, weil er »gegen Illegale« sei. Aber er vermittle zugleich die Botschaft, »dass die Afroamerikaner mehr Rechte haben als illegale Einwanderer«.
Bei den Frauen schnitt Trump (42 Prozent) kaum schwächer ab als Romney vier Jahre zuvor (44 Prozent). Die vulgären Inhalte eines im Oktober 2016 veröffentlichten und bereits ewähnten Audiomitschnitts von einem Gespräch Trumps mit dem TV-Moderator Billy Bush im Jahr 2005 am Rande der Dreharbeiten zur NBC-Sendung »Access Hollywood« haben weibliche Wähler demnach nicht sonderlich abgeschreckt. Das bestätigt die Regel, dass Wählergruppen in der Regel nicht einem einzigen Muster folgen. Die Frage, welcher Kandidat eher Wachstum und Jobs in den USA kreieren oder für Sicherheit auf den Straßen sorgen würde, war für einen Großteil der weiblichen Wähler ein wichtigeres Kriterium als die pennälerhaften Angebereien eines Mannes, von dem auch zuvor niemand angenommen hatte, er sei ein elaboriert argumentierender Frauenversteher. Die Quintessenz dieser Beobachtungen: Einwanderer in den USA, ob mit hispanischen, asiatischen oder sonstigen Wurzeln, fühlen sich in der Regel als Amerikaner. Sie pflegen im privaten Bereich ihre Traditionen, schauen aber nicht zurück in das Land ihrer Vorfahren, sondern identifizieren sich in ihrer Mehrheit mit der neuen Heimat. Zudem gibt es nicht jene Ein-Programmpunkt-Wähler, von denen Beobachter zu oft ausgehen: Schwule wählten Trump, weil er den »islamistischen Terror« zu stoppen versprach; Schwarze, weil Terror« zu stoppen versprach; Schwarze, weil er die Grenze schließen will; Hispanics, weil er Steuererleichterungen versprach; und Frauen, weil sie auf mehr Jobs hoffen. Nach Altersgruppen aufgeschlüsselt, fand der Wahlsieger die meisten Anhänger bei den Über-45-Jährigen, wo er mit 53 zu 44 Prozent vor Clinton landete. Die Demokratin gewann hingegen bei den jungen Wählern im Alter zwischen 18 und 29 Jahren mit einem noch deutlicheren Vorsprung von 55 zu 37 Prozent. Allerdings besiegte Obama in dieser Gruppe seinen Herausforderer Romney 2012 mit 60 zu 36 Prozent und John McCain 2008 gar mit 66 zu 32 Prozent. Ein weiteres Problem für Clinton: Die Wahlbeteiligung der jungen Amerikaner lag mit knapp 50 Prozent unter der allgemeinen Wahlbeteiligung von ebenfalls niedrigen 55 Prozent.
Wesentlich für Trumps Sieg wurden die sogenannten scheuen Wähler, die mehrere Präsidentschaftswahlen in Folge boykottiert und dem System den Rücken zugekehrt hatten. Sie kamen zurück in die Wahllokale, weil da plötzlich ein Kandidat antrat, der versprach, diesem System den Garaus zu machen. Zu diesen shy voters gehört die Gruppe der Reagan Democrats in den stahlproduzierenden Bundesstaaten Pennsylvania, Ohio, Michigan und Wisconsin. Diese traditionell Demokraten wählenden Arbeiter wechselten 1980 und 1984 zu den Republikanern, um für Ronald Reagan zu stimmen. Manche von ihnen votierten auch für George H. W. Bush und George W. Bush.
In den 1990er Jahren unterstützten sie Bill Clinton und 2008 und 2012 Obama – oder sie blieben gefrustet daheim. Aber 2016 kehrten die Reagan Democrats zurück in die Wahllokale und sicherten den Sieg des republikanischen Kandidaten, der um ihre Stimme kämpfte, als Clinton schon ihren vermeintlichen Sieg feierte. Trump schnitt in jenen Staaten am besten ab, die reale Güter produzieren, von Nahrung über Energie bis zu Fabrikerzeugnissen. Dazu gehören neben den genannten Stahlstaaten insbesondere Iowa und Indiana und vor allem Pennsylvania, Michigan, Wisconsin und Ohio. Der Filmemacher Michael Moore hatte im Juli 2016 gewarnt, »dieser erbärmliche, ignorante und gefährliche Teilzeitclown und Vollzeitsoziopath« werde die Wahl gewinnen, wenn er sich auf die »wütende, arbeitende Mittelschicht« in den zuletzt genannten vier Staaten im rust belt, der größten und von der Finanzkrise 2008 besonders hart getroffenen Industrieregion der USA, konzentriere. 2012 habe Romney das Weiße Haus um 64 electoral votes verpasst, und exakt diese 64 Stimmen kämen in Michigan, Wisconsin, Pennsylvania und Ohio zusammen. Darum benötige Trump nicht einmal Siege in Florida (wo er später dennoch gewann), Colorado oder Virginia (wo jeweils Clinton das Rennen machen sollte). Die Demokraten nahmen diese Warnung nicht ernst: Clinton betrachtete die Region als sicheres Terrain und verzichtete in Wisconsin gänzlich auf den Wahlkampf. Der von Moore vorausgesagte rust belt Brexit brachte Trump ins Oval Office.
Laut dem Demoskopen Nate Silver, einem Statistikguru ursprünglich für Baseball und inzwischen für Wahlen, waren in den letzten Wochen 20 Prozent und am Wahltag noch 13 Prozent der Amerikaner unentschieden zwischen Trump und Clinton sowie dem libertären Kandidaten Gary Johnson und der Grünen Jill Stein. Am Wahltag 2012 waren hingegen nur vier Prozent der Wähler unschlüssig, ob sie für Obama oder Romney stimmen sollten. Warum entschieden sich die Unentschlossenen im November 2016 auf der Zielgeraden mehrheitlich für Trump? Zum Teil, weil er der Nicht-Politiker war. Zum Teil, weil man einem erfolgreichen Geschäftsmann gute Ideen fürs Weiße Haus zutraute. Zum Teil, weil anderthalb Wochen vor der Wahl der damalige FBI-Chef James Comey den Kongress wissen ließ, dass die Ermittlungen gegen Clinton wegen der Nutzung ihres privaten E-Mail-Accounts wie- der aufgenommen würden. Zum Teil sicher auch, weil die von russischen Hackern veröffentlichten E-Mails der Demokraten und von Internettrollen in Umlauf gebrachten Fake News das Image der Kandidatin noch weiter erschütterten. Markantestes Beispiel dafür wurde »Pizzagate«: Verschwörungstheoretiker behaupteten, in E-Mails von Clinton-Manager John Podesta stehe der Begriff cheese pizza (Käsepizza) wegen der gleichen Anfangsbuchstaben für child pornography (Kinderpornografie) und weise auf einen von Clinton und anderen Demokraten betriebenen Ring für Pädophile hin. Über die Likes einiger angeblich Beteiligter auf einem Instagram-Account wurde schließlich eine bestimmte Pizzeria in Washington D. C. als Kern des angeblichen Kindersexringes ausgemacht. Vier Wochen nach der Wahl stürmte ein 28-jähriger Mann aus Virginia in das Restaurant, schoss mit einem Schnellfeuegewehr um sich und forderte die Freilassung der vermeintlich in Hinterzimmern festgehaltenen Kinder. Glücklicherweise wurde niemand verletzt.
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