Prolog
An einem trüben Tag im November 2013 kehrt die Stasi in mein Leben zurück. Ich bin auf dem Weg nach Greifswald. Während ich im Auto sitze, merke ich, wie sehr ich mich auf den Abend freue. Die Stadt und die nahe gelegene Ostsee sind für mich Heimat, und Besuche dort bedeuten immer eine Reise zu langjährigen Freunden. Schon als Jugendliche bin ich, so oft es ging, ans Wasser gefahren. Von der Mole aus habe ich dann im Greifswalder Hafen auf den Bodden geschaut. Es war ein Gefühl absoluter Freiheit, das ich sonst so oft vermisst habe.
Ein Freund von mir feiert seinen runden Geburtstag. Wir kennen uns aus meinen Jahren in der PDS. Als ich in der Gaststätte ankomme, in der gefeiert wird, bin ich eine der Ersten. Die Frau des Geburtstagskindes begrüßt mich und geht mit mir die Tische mit der Sitzordnung ab. Sie hat mich an einen Tisch mit gemeinsamen Freunden gesetzt. Es trifft mich wie ein Schlag, als ich die Kärtchen auf dem Nachbartisch entdecke: »Jörg S.« steht auf einem, auf dem daneben der Name seiner Frau. Einen Moment lang kann ich nicht atmen. Sofort habe ich ein Bild im Kopf: Jörg, der immer eine schwarze Umhängetasche mit sich trug. Der Mann, dem ich als Jugendliche von meinen Sorgen erzählte. Der Mann, der laut meiner Akte einer meiner »Führungsoffiziere« war.
Das letzte Mal hatte ich ihn im Bundestag getroffen, als ich als Abgeordnete eine Jugendgruppe aus Greifswald emping. Er war als einer der Betreuer dabei, worüber ich vorher nicht informiert gewesen war. Ich wusste, dass mein Gastgeber ihn schon länger kennt, weil beide in der Linkspartei aktiv waren. Aber mir war nicht klar, dass der Kontakt so eng ist. Ich habe an jenem Abend nicht mit Jörg S. gerechnet. Von den anderen Gästen weiß niemand, welche »Beziehung« ich zu S. hatte, auch der Gastgeber nicht. Ich beschließe, mir die Feier nicht vermiesen zu lassen. Die nächsten Stunden bin ich in Gespräche mit alten Freunden und Bekannten verwickelt. Ich sitze mit dem Rücken zum Raum, sehe nicht, wer kommt. Aber Jörg geht mir nicht aus dem Kopf.
Irgendwann drehe ich mich um und blicke ihm direkt ins Gesicht. Er nickt mir zu. Es ist schon spät am Abend, als mich eine Freundin an ihren Tisch holt, an dem auch er mit seiner Frau sitzt. Ich kann nicht ablehnen, ohne aufzufallen. Aber die Nähe zu ihm ist mir unangenehm. Er selbst scheint das nicht zu bemerken. Schnell entsteht eine politische Diskussion in der Runde. Die Freundin will von mir wissen, ob ich es richtig finde, dass die SPD jetzt nach der Bundestagswahl eine Große Koalition mit der Union erwägt.
Fast noch schlimmer als die Nähe zu S. finde ich, dass seine Frau, die neben ihm sitzt, durch mich hindurchschaut. Ich weiß, dass sie mir übel nimmt, dass ich 2003 aus der PDS ausgetreten und später in die SPD eingetreten bin. Sie hält das für »Verrat«. Aber eigentlich denken beide so. Es ist eine surreale Situation. Da sitze ich also in einem Restaurant und diskutiere mit einem ehemaligen Führungsoffizier über die politische Zukunft anstatt über die Vergangenheit. Währenddessen schweigt mich seine Frau betont wegen meiner politischen Gegenwart an. Ich werde das Gefühl nicht los, dass beide meine Mitgliedschaft in der SPD schlimmer finden als das, was er früher mit Jugendlichen gemacht hat.
Am liebsten würde ich beide anbrüllen: Habt ihr, die ihr selbst Eltern seid, zu Hause jemals darüber gesprochen, dass Jörg einst Kinder für eine Diktatur instrumentalisiert hat? Dass er manche von ihnen dazu gebracht hat, Freunde, Verwandte und Mitschüler zu verraten? Jörg merkt nichts von meinem inneren Kampf. Er strahlt auf mich eine große Gelassenheit aus, die mich deprimiert. Irgendwann halte ich die Situation nicht mehr aus und gehe vor die Tür. Er kommt mir nach. Ich ertrage seine Ruhe nicht. »Wie geht’s dir?«, fragt er in kumpelhaftem Ton. Ganz so, als wäre es das Normalste der Welt, hier mit mir zu stehen und zu reden.
Mir gehe es prima, antworte ich abfällig. »Wenn man davon absieht, dass mal wieder die Stasi-Geschichte recherchiert wird.« Ich hatte kurz zuvor von einer Freundin erfahren, dass ein großes Magazin sich für meine Vergangenheit interessiert. »Wieso? Wir haben doch alles vernichtet«, erwidert S. seelenruhig. Ich werde immer wütender: »Darum geht es gar nicht. Es geht darum, dass ihr mich benutzt habt.« Er will etwas antworten, aber seine Frau ruft ihn. Sie will gehen. »Wir können ja mal telefonieren«, sagt er zu mir. »Ich habe ja noch deine Handynummer.« Dann verschwindet er in der Dunkelheit.
Ich bleibe zurück, vollkommen aufgewühlt. Der Abend ist für mich gelaufen. Ich fühle mich, als ob es Jörg gelungen wäre, die Vertrautheit von früher herzustellen. Die Stasi und ich auf der einen Seite – und der Rest der Welt auf der anderen. Aber ich bin nicht auf der Seite der Stasi, bin es nie gewesen. Es ist der Moment, in dem mir klar wird, dass die Stasi ewig Macht über mich haben wird, wenn ich weiter schweige. Der Moment, in dem ich mich entschließe, dieses Buch zu schreiben. Ich musste dafür weit in die Vergangenheit zurück, Verdrängtes hervorholen und Erinnerungen zusammensetzen. Das war nicht leicht, denn gerade Erinnerungen sind subjektiv.
Dieses Buch basiert auf meinen Erinnerungen und meiner Interpretation der Ereignisse in meinem Leben. Ich ahnte nicht, dass mich diese Entscheidung bald an meine Grenzen bringen würde. Und darüber hinaus.