1. Einleitung: Wer ist Sahra Wagenknecht?
Sahra Wagenknecht hat viele Gesichter. Sie gilt als standfeste Kommunistin und Sozialistin, scharfe Kritikerin des Neoliberalismus und gefeierte Ikone der Linkspartei. Sie verteidigte die DDR nach ihrem Untergang, heute kämpft sie für die soziale Marktwirtschaft und einen »kreativen Sozialismus«. Idealistin und Realpolitikerin in einem, mischt sie die linke Szene immer wieder auf und avancierte dabei zu einer der populärsten Politikerinnen der Republik.
Auch wenn sie das politische Geschäft als Bürde wahrnimmt, geht sie voran, angetrieben von ihrem Willen, Ideen auch umzusetzen. Das Ergebnis: Aufstieg zur Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei, häufig eingeladene Politikerin zu Fernsehtalkshows, allseits anerkannte Ökonomin mit großer Fangemeinde – fast eine halbe Million Facebook-Fans –, rund ein Dutzend publizierte Bücher, darunter Bestseller, zahllose Vorträge und Reden. Sie wird zu der ostdeutschen Spitzenpolitikerin neben Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Seit einigen Jahren ist sie verheiratet mit dem ehemaligen Vordenker der deutschen Sozialdemokratie und Mitbegründer der Linkspartei Oskar Lafontaine.
Der Erfolgsmarsch durch die Nachwende-BRD war der Ostdeutschen Wagenknecht keineswegs in die Wiege gelegt. Im Gegenteil. Das ZDF nannte die »junge Frau« 1994 einen »lebende(n) Anachronismus«. Die britische Times mutmaßte, dass die »Reformkommunisten der PDS« wohl bald »Jagd« auf die »introvertierte Studentin« machen werden, die weiter DDR und Sowjetunion verteidige. Der damalige PDS-Vorsitzende Lothar Bisky spöttelte zur selben Zeit: »Wenn die so weitermacht, wird sie sich eines Tages in die wiedererstandene Rosa Luxemburg verwandelt haben. Sie beginnt in letzter Zeit sogar schon leicht zu hinken.«
Das Ende der DDR war für Sahra Wagenknecht die schlimmste Zeit ihres Lebens. Die welthistorische Tragödie schlägt in ihr Denken ein wie ein Komet. Seit dem Untergang des »ersten Sozialismus« wühlt eine einzige große Frage in ihrem Kopf: Wie konnte das bessere System gegen das schlechtere verlieren und von der Geschichte zur Seite geschoben werden?
Daraus entsteht ein spannender Kampf um politische Ordnung – in Wagenknechts Kopf wie in ihrer politischen Arbeit. Sie beginnt wie kaum eine andere in Deutschland den Todeskampf des Kapitalismus in seinem vermeintlich letzten Stadium zu analysieren. Und entwirft einen Ausweg. Ein Konzept für eine radikal neue Wirtschaftsordnung, die Wiedergeburt eines »zweiten Sozialismus« aus dem wiedervereinigten Deutschland. Eine Art soziale Marktwirtschaft Update 2.0.
Ihr politischer Optimismus scheint trotz Voranschreitens des – wie sie es nennt – vorherrschenden »Neofeudalismus« ungebrochen. Sie will verändern, den neuen Sozialismus noch selbst erleben. Und ruft als Fraktionsvorsitzende der Linken eine außerparlamentarische Oppositionsbewegung ins Leben mit dem Namen Aufstehen. BurnOut und partieller Rückzug folgen.
Sahra Wagenknechts Denken bildet dabei immer eine intellektuelle Brücke zwischen DDR und BRD, Ost und West. Sie ist Politikerin und politische Ökonomin zugleich, vereint Sachkompetenz mit radikaler Kritik. So hält sie seit drei Jahrzehnten das Bewusstsein wach, dass der Kapitalismus am Ende ist und über eine andere, bessere Welt nachgedacht werden sollte. Sie mahnt: Wir brauchen den Systemwechsel.
Trotz aller Wandlungen, von der DDR-Sozialistin zur Verfechterin von Markt, Wettbewerb und Leistung, hat sich Sahra Wagenknechts inneres Koordinatensystem in den letzten dreißig Jahren nicht geändert. Sie bleibt auf Kurs. Und der ist keineswegs auf Umsturz ausgerichtet, sondern auf ein eher konservatives Programm. Von Goethe und Hegel inspiriert, kämpft sie um ökonomische Ordnung und Sicherheit, Wohlstand und eine bessere Führung der Gesellschaft. Und um Reichtum mit weniger Gier, dem sich andere Werte unterzuordnen haben. Illiberale Schwingungen waren in ihrem Denken seit eh und je präsent. Im Zuge der »Flüchtlingskrise« kommen sie verstärkt an die Oberfläche.
Was verkörpert Sahra Wagenknecht? Das Buch schaut kritisch hinter die verschiedenen Gesichter des linken »Aushängeschilds«. Es liefert ein intellektuelles und politisches Profil einer streitbaren Spitzenpolitikerin und politischen Ökonomin, das wenig mit dem zu tun hat, was in der Öffentlichkeit gezeichnet wird. Es ist ein in sich gebrochenes Porträt einer reformistischen Rebellin, die um eine wohlhabende und von »klugen Köpfen« koordinierte Gesellschaft kämpft.
Zugleich werden die Quellen und Denktraditionen sichtbar, aus denen sich ihr Denken, ihre politische Ökonomie, aber auch ihr Menschen- und Gesellschaftsbild speisen. Vor dem Hintergrund von hundertfünfzig Jahren Arbeiterkampf und Sozialdemokratie, Antikapitalismus und Sozialismus erscheint Wagenknecht – wie große Teile der Linken – abgekoppelt von den ursprünglich libertären Traditionen, die den Kampf gegen den Kapitalismus bis ins 20. Jahrhundert prägten.
Dieses Buch handelt auch von Wagenknechts Wandel der letzten Jahre. Zunehmend betont sie das Nationale und die schädlichen Wirkungen der Migration, fordert mehr staatliche Sicherheit, während kulturelle Homogenität ihrer Meinung nach unerlässlich ist für jede Demokratie. Was steckt tatsächlich hinter diesen Positionierungen: ein Sinneswandel, ein Seitenwechsel gar?
Folgen wir also den Spuren einer Denkerin, die vor dreißig Jahren durch den Fall der Mauer politisch »obdachlos« wurde. Seitdem kämpft sie einen politischen Ringkampf um intellektuelle Balance. Die Frage ist: Welche Werte leiten sie dabei?
Denn wie sie selbst sagt:
»Jeder Mensch hat ein weltanschauliches Grundraster, mit dem er sich in der Welt orientiert. Die Frage ist, in welchem Maße dieses Raster den wirklichen Zusammenhängen entspricht.«