Interview mit Wolf Biermann
„Heimat ist da, wo man gebraucht wird!“ - Sie haben nach Ihrer Ausbürgerung gleich öffentlich klargemacht, dass Sie als Kommunist gekommen sind und unbedingt wieder in die DDR zurückwol- len. Was hatten Sie damals für eine Vorstellung von dieser Bundesrepublik?
In Wahrheit nur eine abstrakte. Sie war für mich nicht das ‚Feindesland‘, wie es in der Ostpropaganda hieß. So dumm war ich nicht, denn ich hatte immer lebendigen Kontakt mit vielen Menschen aus dem Westen.
Trotzdem haben sie damals gesungen, Sie seien „vom Regen in die Jauche“ gekommen.
Das war ein Fehler im Überschwang. Ich hatte Angst, von den Westlern vereinnahmt zu werden. Die ärgerten mich, weil sie mir auf die Schulter klopften und „du“ zu mir sagten und beleidigt waren, dass ich nicht glücklich darüber war, nun endlich in der Freiheit zu sein. Ich musste aber nicht in die ‚Frei- heit‘, denn ich war frei im Osten! Wenn man bei sich selber ist in einer Diktatur, ist man frei, auch wenn man hinter Stacheldraht eingesperrt ist und an der Grenze abgeschossen wird. Also wollte ich diese plump vertrauliche Begrüßungskultur der West-Linken enttäuschen, indem ich sagte, ich bin gekommen vom ‚Regen in die Jauche‘. Die Jauche bezog sich vor allen Dingen auf die rechte üble Nachrede, die es in der damaligen Bundesrepublik, besonders in der Regenbogenpresse, gegen den Kommunisten Biermann gab. Doch dann merkte ich ganz schnell, dass ich falsch lag und habe mich öffentlich korrigiert: Ich habe das Wort ‚Regen‘ zurückgenommen. Das Wort Regen war eine Lüge, das war die Verharmlosung der Diktatur in der DDR.
Sie hatten gerade Ihr erstes Konzert in Köln gegeben, ein Riesenerfolg vor 8000 begeisterten Zu- schauern. Drei Tage später erfuhren Sie dann aus den Nachrichten, dass Sie ausgebürgert sind. Wie haben Sie sich da gefühlt?
Ich hatte Todesangst, weil ich dachte, ich sterbe als Dichter, ich habe keine Funktion mehr in der Welt. Ich wollte nicht davon leben, dass ich im Westen meine Ost-Wunden lecke, ich wollte kein ‚Berufsdissident‘ werden. Was sollte ich, so west-dumm wie ich war, in einem Land, mit dem ich kei- ne Erfahrung hatte. Wenn man in den Knast kommt, das haben mir manche Freunde erzählt, dann hält man erstmal die Schnauze und peilt die Lage. Ich war aber auf einmal so berühmt durch den Skandal der Ausbürgerung, dass ich mir einbildete, sofort etwas Bedeutendes liefern zu müssen, et- was ‚Brauchbares‘ in Brecht‘scher Diktion.
Hat das funktioniert?
Nein, ich konnte es nicht! Ich schrieb Gedichte, Lieder, wie ein Neuling, der nichts versteht. Das schreckliche Beweisstück für meine Behauptung kann man auf einer Doppel-LP mit dem etwas ange- berischen Titel „Eins in die Fresse mein Herzblatt“ anhören. Ich will es nicht hysterisch übertreiben, es sind auch zwei, drei gute Lieder darauf, die man heute noch brauchen könnte. Aber im Großen und Ganzen wollte ich mit dem ganzen Hochmut des Marxisten diese murxistischen Analphabeten im Westen darüber belehren, wo es lang geht. Ich redete wie ein Blinder von der Westfarbe. Meine poetischen Bilder taugten nichts!
War die Ausweisung auch ein Stück Heimatverlust?
Die Heimat ist immer da, wo man das Gefühl hat, gebraucht zu werden. Wo man von den richtigen Leuten geliebt und von den richtigen gehasst wird. Beides muss man sich verdienen. Heimat ist dort, wo man Urteilskraft hat, wo man sich in den Streit der Welt einmischen kann. Und meine richtigen originalen Freunde und Feinde waren eben in der DDR, deshalb fühlte ich mich wie ein verlorenes Kind in der Welt.
Kurz vor Ihrer Ausbürgerung hat sich der Pfarrer Oskar Brüsewitz aus Protest gegen das SED- Regime öffentlich verbrannt, ein Fanal. (Wurde darüber gesprochen?)Was bedeutete das politisch für die DDR?
Ich habe natürlich von der Selbstverbrennung erfahren, die Geschichte wurde über die Westmedien zurück in den Osten kolportiert. Wie man sich denken kann, stand im „Neuen Deutschland“ nur die Lüge, dass Oskar Brüsewitz nicht alle Tassen im Schrank hatte. Kurz nach diesem traurigen Tod fragte mich Bettina Wegner, ob ich nicht in einer Kirche auftreten wolle. Ein wunderbar naiver, im besten Sinne verrückter und sympathischer Jugendpfarrer Schubach, wollte ein Konzert mit mir organisie- ren, getarnt als „Jugendtreff “ im Rahmen der „Uckermärkischen Kirchentage“. Die Täuschung gelang und ich sang in der übervollen Kirche ungehindert meine Lieder, predigte gegen das Abhauen und für das Dableiben, ein Aufruf, die DDR zu verändern. Über diesen ersten Auftritt seit meinem Verbot 1965, habe ich danach einen Artikel im Spiegel veröffentlicht, getarnt als Brief an meine Mutter: ‚stell dir vor, ich habe in der Kirche gesungen, ich! das Kommunistenkind!‘. Die DDR-Bonzen waren ge- schockt und gewarnt, denn hier verband sich die weltliche Kritik mit der evangelischen. Ein gefährli- ches Zusammengehen, eine brisante Mischung.
Gab es einen Zusammenhang zu Ihrer nachfolgenden Ausbürgerung?
Es hat die Lösung des ‚Falles Biermann‘ aus Sicht der Herrschenden nochmal dramatisch dringlicher gemacht. Inzwischen weiß ich, schon nach der Ablösung Ulbrichts im Jahr 1971, hatte der neue Par- tei-Chef Honecker einen ‚Kassensturz‘ gemacht: Wie ist der Stand der Dinge im Fall Biermann? Ist das Problem jetzt endlich erledigt? Nein, im Gegenteil: Es wird sogar immer schlimmer! Biermann ist schon seit 1965 verboten und total-überwacht, aber seine Sachen verbreiten sich im Untergrund immer wirkungsvoller. Immer mehr junge Leute müssen einsperrt werden, die mit seinen Liedern erwischt werden. Ihn selber einsperren geht nicht, weil er leider schon zu berühmt geworden ist. Das wäre so, als würde man ihm noch eine Verstärkeranlage verpassen.
War da schon die Rede davon, Sie auszubürgern?
Anhand meiner Stasi-Akten ist erkennbar: Die Überlegung gab es schon seit Honeckers Machtantritt 1971, vorgeschlagen von der Staatssicherheit, die einen Plan dazu entwickelte. Das verrückte dabei ist: dieser Willkürakt musste mit den Gesetzen der DDR übereinstimmen. Allein die Herrschenden entschieden, wen sie wann und wie lange bestraften – aber sie wollten sich dabei möglichst auf die Gesetzgebung der DDR stützen. So suchte die Staatssicherheit einen günstigen Anlass mich ausreisen zu lassen, und mir dann wegen „Verletzung meiner Staatsbürgerlichen Pflichten“ also „staatsfeindli- cher Hetze“ die DDR - Staatsbürgerschaft aberkennen zu können. Die Genehmigung 1976, sechs Kon- zerte in 14 Tagen im Westen zu geben, verfolgte allein die Absicht, mich in die Falle zu locken und mich auszubürgern.
Mielke und Honecker hatten im Politbüro für ‚Aussperren‘ gestimmt, weil sie der Meinung waren, dass die DDR damit billiger wegkommt als mit Einsperren. Sie erwarteten, dass es im Westen ein Medien-Geschrei geben wird, aber das wollten sie lässig aussitzen. Womit aber niemand gerechnet hatte – sie nicht, und wir sowieso nicht -, war, dass es zum ersten Mal ein so breiter Protest in der DDR losbrach. Der Protest gegen meine Ausbürgerung war größer als gegen den Einmarsch in die ČSSR 1968! Im Grunde unvergleichbar: ob ein Sänger rausgeschmissen wird oder ob ein Land mit Panzern plattgemacht wird, wie im Prager Frühling. Daran kann man sehen, wie sich die Verhältnisse verändert hatten. Der Fall, dass ein kleiner Mann mit der Gitarre ausgebürgert wird, reichte, um sol- che Erschütterungen zu erzielen.
Was hat Sie – wie so viele Künstler damals - so an dieser DDR festhalten lassen? Wenn man Ihre Erinnerungen liest, hat man das Gefühl, dass Sie von Anfang an ein Abweichler waren.
Ja, natürlich, ich bin ja der Sohn meines Vaters. Aber gerade weil ich so abweichlerisch war, war ich ja viel treuer als die umerzogenen Nazi-Kinder meiner Generation. Dass ich in diesem Theaterstück in die Rolle des Drachentöters geraten bin, nennt man im Theater eine ideale Fehlbesetzung. Als ich begann kritisch zu schreiben, schon 1962, war ich ein kleiner asthmatischer, ängstlicher Mensch, ein bisschen frech, aber sehr genau wissend, was ihm blüht – da hatte ich gar keine Illusionen. Es gab unheimlich viele Leute, Freunde wie Volker Braun, Heiner Müller, Christa Wolf, Rainer und Sarah Kirsch, die waren klüger als ich, stärker als ich, konnten auch dichten, wurden auch geküsst von der Muse. Aber warum geriet gerade ich in diese Rolle? Es hat nach meiner Meinung, vielleicht irre ich mich, nur einen einzigen Grund: Weil ich durch Zufall der Geburt aus einer kommunistischen Juden- familie komme. Das machte mich zum Außenseiter in meiner Generation. In welche Familie man hereingeboren wird, ist natürlich Zufall, das war nicht Schuld meiner Kollegen. Und es war auch nicht mein Verdienst, aber es hatte Folgen, die weit über meine Person hinausgingen. Meine Familie hatte nichts wieder gut zu machen, ich musste mich nicht für meine Eltern schämen, deshalb konnte ich mir die Freiheit nehmen, radikaler Kritik zu üben.
Sie haben sich immer für den ‚richtigen‘ Kommunisten gehalten, während im Politbüro die ‚fal- schen‘ saßen? Was war denn in Ihrer damaligen Vorstellung „richtiger Kommunismus“?
Ja, ich hielt an meinem Kinderglauben fest. Das war die irre Situation: Ich kritisierte die Herrschenden als Kommunist, also als einer von ihnen. Dabei verstand ich Kommunismus so: Eine Gesellschaft, in der die Menschen nicht unterdrückt werden, in der es keine Ausbeutung gibt. Und weil es keine Aus- beutung gibt, muss auch nicht unterdrückt werden, denn unterdrücken muss man nur, um die Bedin- gungen der Ausbeutung zu stabilisieren. Und heucheln muss man nur, um diesen Mechanismus zu verdecken. Also war Kommunismus in meinem Kinderglauben eine demokratische, menschliche, freundliche, starke Gesellschaft in der Tradition des Humanismus und der Aufklärung.
Also eine klassische Demokratie...
...die aber besser sein sollte als eine kapitalistische Demokratie. Das war mein Kinderglaube, der dann durch das Studium des Marxismus noch tiefer untermauert wurde. Ich wurde sozusagen immer klü- ger auf der falschen Linie, meine Illusion wurde immer stabiler. Und die Ironie ist, dass diese Illusion niemand so wunderbar brutal unterstützt hat wie mein Freund Robert Havemann. Deshalb passten wir auch so gut zusammen. Wir sahen uns als die richtigen Kommunisten und die anderen eben als die falschen. Unsere Auflehnung nennt man in der Philosophie die immanente Kritik. Eine alte Me- thode, die Martin Luther angewandt hat im Kampf gegen den Papst. Den Papst erschlägt man nicht
mit einem Knüppel, sondern mit der Bibel. Und diese Schweinehunde im Politbüro erschlägt man mit Karl Marx und nicht mit bürgerlichen Phrasen. Das war unsere Einstellung.
Wollten Sie nie dazugehören?
Natürlich! - als ich als Sechzehnjähriger in die DDR kam, um den Sozialismus aufzubauen. Aber nach dem Bruch, dem Verbot meines Theaters 1963, nie mehr! Ich hatte immer die Kraft, nein zu sagen gegen die Mehrheit! Das habe ich schon in der Nazi-Zeit gelernt, darauf war ich trainiert. Durch mei- ne Leute, die mich gemacht haben. Meine Mutter war eine Arbeiterfrau, hoch intelligent, ungebildet, aber ihre menschliche Substanz hatte sie schon 1923 beim Hamburger Aufstand bewiesen. Diese rebellische Substanz ist das, was sie in mich reingepflanzt hat. Das Beispiel, das die Eltern leben, ist der stärkste erzieherische Einfluss, der einen Menschen prägt.
Es gibt diese berühmte Liedzeile von Ihnen “Ich möchte am liebsten weg sein und bleibe am liebs- ten hier.“
Wenn ein Dichter und Sänger, der solche Lieder schreibt wie ich dieses Lied 1976, 12 Jahre nicht öf- fentlich auftreten darf, seine Werke nicht veröffentlichen darf und totgeschwiegen werden soll - dann tut das weh. Also hat man die Schnauze voll und will da weg, raus aus dem Käfig. Aber noch lieber als weg gehen, möchte man da bleiben und die Gesellschaft verändern. Das ist der lebendige Widerspruch, den alle kritischen Geister in der DDR in sich hatten.
Hat es nach der Wende noch einmal einen Rückfall in die alte Utopie gegeben?
Von der kommunistischen Ideologie habe ich mich 1983 endgültig verabschiedet, erst im Westen gelang es mir, meinen Kinderglauben aufzugeben. Aber 1989 stand in meinem Herzen noch einmal eine Leiche auf. Allerdings nur sehr kurz. Es gab diesen Aufruf „Für unser Land“, den unter anderem einige meiner Schriftstellerkollegen verfasst hatten. Sie forderten darin die Eigenständigkeit der DDR als demokratisch-sozialistische Alternative zur Bundesrepublik. Als ich sah, wer da mitmachte, wusste ich sofort, euer Land ist nicht mein Land.
Sie spielen jetzt auf den damaligen SED-Generalsekretär Egon Krenz an, der zu den Unterzeichnern gehörte. Aber es waren ja vor allem kritische Geister darunter wie Christa Wolf.
Christa Wolf und ich waren befreundet, aber es war auch ein schwieriges Verhältnis. Mit ihr und vie- len anderen hatte ich einen Dauerkonflikt. Sie sagten „Wolf, du hast Recht, wir denken und fühlen wie du, aber du gehst zu weit!“ Und wenn ich dann sagte „Aber ein Dichter muss doch zu weit gehen, sonst richtet er doch gar nichts aus!“ Dann hieß es „Ja, aber du gehst zu weit zu weit“.
Haben Sie sich jemals vorgestellt, wie es in der DDR mit Ihnen weitergegangen wäre, wenn Sie nicht ausgebürgert worden wären?
Dazu reicht meine Phantasie nicht aus. Als ich ausgebürgert wurde, empfand ich das als das größte Unglück meines Lebens. Lou Eisler, die Frau von Hanns Eisler, hat mich ausgelacht: „Sei froh, du Idiot! Das ist ein großes Glück für dich“. Ich habe mich darüber geärgert, weil ich wusste, dass sie sich irrt. Erst viele Jahre später dämmerte mir, dass sie Recht hatte. Ich glaube, das Grundgesetz meines Le- bens bis heute, dass ich ein chronisches Glückskind bin, hat sich auch damals auf hochdialektische Weise durchgesetzt, egal ob es begriff oder nicht.