VORWORT
„Die spinnen, die Amis!“, sagen viele in Europa, wenn ein Amokläufer in den USA wieder einmal unzählige Unschuldige erschießt, doch die Mehrheit dort eine Verschärfung der Waffengesetze weiter unbeeindruckt von sich weist.
„Die spinnen, die Amis!“, heißt es kopfschüttelnd in der Alten Welt, wenn ein amerikanischer Präsident den Mut hat, eine Krankenversicherung für alle Einwohner vorzuschlagen, aber rund die Hälfte der Bürger eine staatlich organisierte Solidarversicherung im Gesundheitswesen, wie sie in Kontinentaleuropa üblich ist, ablehnt.
„Die spinnen, die Amis!“, empört sich Europa, wenn sich die Hinrichtung eines zum Tode Verurteilten per Giftspritze quälend lange hinzieht, weil die modernen Henker keine geeignete Vene für die Kanüle finden oder der tödliche Cocktail die rasche Wirkung verweigert, und dennoch kein Aufschrei durch die USA geht: Schluss mit der Todesstrafe!
„Die spinnen, die Amis!“, rief die halbe Welt, als die von der Wall Street ausgehende Finanzkrise auch andere Länder im Herbst 2008 mit in den Abgrund sog – und erst recht, als der US-Kongress die Verschärfung der Bankenaufsicht, die alle auf dem Höhepunkt der Krise gefordert hatten, auch in Amerika, schon 2010 wieder aufweichte.
„Die spinnen, die Amis!“ Da hat jede und jeder seine bzw. ihre Lieblingsbeispiele, je nach persönlichen Vorlieben, vom Umgang mit Energie bis zur Behandlung von Terrorverdächtigen in Guantanamo, von der Größe der Autos und Kühlschränke bis zum Einsatz militärischer Gewalt, von der ergebenen Hinnahme der Ölpest im Golf von Mexiko und anderer menschengemachter Umweltkatastrophen bis zum Spott über die XXL-Formate der Kaffeebecher, Trippleburger und T- Shirts. Denn das ist ja das Interessante und Verblüffende an jedem Gespräch über Amerika: Jeder hat eine Meinung zu den USA, unabhängig davon, wie viel oder wenig sie oder er über das Land und seine Bewohner weiß. Bei Brasilien, China, Indien, Japan, Korea, Russland oder Südafrika würden viele Europäer vor einem raschen Urteil zurückscheuen. Vielleicht weiß man’s ja doch nicht so genau. Nicht so bei Amerika. Da fühlen sich nahezu alle zu einem klaren Urteil berufen – und dieses Urteil fällt, je nach Weltanschauung, geradezu begeistert oder ziemlich skeptisch bis ablehnend aus, in Deutschland zumeist Letzteres.
Dass die Amis spinnen, habe auch ich oft gedacht, bevor ich mit meiner Frau nach Washington zog, um eine neue Aufgabe als Korrespondent der Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel zu übernehmen. Mich trieb die Neugier, wie Amerika denn nun wirklich ist. In den sieben Jahren, die wir nun in den USA leben, habe ich einiges besser verstehen gelernt – aus eigenem Erleben, aus unzähligen Gesprächen mit Amerikanern und aus den Erfahrungen meiner Frau. Sie arbeitet in der medizinischen Forschung in den National Institutes of Health (NIH): unter Amerikanern mit einem amerikanischen Arbeitsvertrag und einer amerikanischen Krankenversicherung. Dabei haben wir Einblicke in den praktischen Alltag amerikanischer Familien sowie in die Köpfe und Herzen gewonnen, die anderen Ausländern ohne solche Zugänge verschlossen bleiben.
Wer hier lebt, kann gar nicht anders, als die Welt auch mit amerikanischen Augen zu betrachten. Die tägliche Arbeit, der Austausch mit Nachbarn und Freunden, die Reisen durch das riesige Land erzwingen das geradezu. Der Korrespondent soll ja nicht nur berichten. Er soll auch erklären, warum die Amerikaner vieles ganz anders sehen als die meisten Deutschen und die meisten Europäer.
Wer im Ausland lebt, lernt aus der Ferne auch das eigene Heimatland besser kennen. Er beginnt zu vergleichen: Warum regeln die Deutschen ihre Krankenversicherung und ihre Finanzaufsicht, ihre Energieversorgung und den Klimaschutz, ihre Waffengesetze und ihr Strafsystem anders? Was sind die Vor- und Nachteile der deutschen und was die Vor- und Nachteile der amerikanischen Variante? Gewisse Grenzen des Verständnisses für die USA bleiben dennoch. Auch heute noch halte ich manches, was Amerikanern selbstverständlich erscheint, für absurd. Oder für Ideologie. Doch das Ausmaß dieser blinden Flecken, die sich der pragmatischen Erklärung entziehen, ist kleiner geworden.
Und auf einmal spinnen nicht mehr nur die Amis. Mitunter erwische ich mich plötzlich bei dem Gedanken: „Die spinnen, die Deutschen!“ Den meisten Korrespondenten-Kolleginnen und -Kollegen geht es nicht anders. Mit der Zeit entdecken wir immer mehr gute Seiten am Alltag und den Lebenseinstellungen der Amerikaner. Und finden im Vergleich manche deutsche Haltungen und Sitten fragwürdig. Worauf gründet sich, zum Beispiel, der deutsche Glaube an die Allzuständigkeit des Staats? Warum geben Bürger ihr Mitgestaltungsrecht so gerne an anonyme Behörden ab? Theater und Museen gibt es auch in den USA zuhauf, und viele sind sogar besser als in Deutschland, obwohl sie nicht von staatlichen Subventionen leben, sondern von den freiwilligen Zuwendungen der Bürger und der Wirtschaft. Die Gastfreundschaft und die Hilfsbereitschaft gegenüber Fremden nötigen Respekt ab. Den Stolz auf ihr politisches System und die Begeisterung, mit der sich Amerikaner alle vier Jahre in den Präsidentschaftswahlkampf stürzen, würden wir uns für Deutschland wünschen. Amerikaner zeigen weniger Sozialneid und mehr Respekt vor anderen Meinungen. Im Vergleich mit der in Deutschland verbreiteten Bedenkenträgerei, dass dieses oder jenes sowieso nicht funktionieren könne, wirkt die zupackende „Can do“-Mentalität oft höchst erfrischend. Und zudem konstruktiver. Gewiss, sie hat auch ihre Schattenseiten – wenn über dem ansteckenden Optimismus die berechtigte Skepsis (zum Beispiel beim Demokratieexport per Militärintervention) oder gewisse Sicherheitsvorkehrungen (zum Beispiel auf Ölplattformen oder in Atomkraftwerken) zu kurz kommen, mitunter mit dramatischen Folgen.
Auf viele Neuankömmlinge aus Deutschland wirkt Amerika im Alltag lebenswerter und liebenswerter, als sie sich das aus der Ferne vorstellen konnten. Das geht den meisten meiner Kolleginnen und Kollegen so, ganz unabhängig davon, ob sie für eine linksalternative, liberale oder bürgerliche Zeitung berichten – oder, im Rundfunkbereich, für eine „rot“ oder „schwarz“ dominierte Sendeanstalt. Zu Einwanderern werden nur wenige. Bei aller Faszination an der Neuen Welt bleiben die meisten von uns im Herzen und in ihren gesellschaftspolitischen Grundüberzeugungen Deutsche. Und Europäer. Aber unsere neuen Erfahrungen machen uns Wanderer zwischen beiden Welten zu Kulturvermittlern. Wenn es in den Heimatredaktionen oder in den Leserbriefen und Hörer-E-Mails wieder mal heißt, „Die spinnen, die Amis!“, dann fühlen wir uns herausgefordert, die Hintergründe und Motive für amerikanische Haltungen zu erklären, die von der anderen Atlantikseite gesehen irrational anmuten – typisch amerikanisch-verrückt.
Die Idee zu diesem Buch
So ist auch dieses Buch entstanden: aus den Begegnungen mit mehreren zehntausend Deutschen bei meinen zahlreichen Vortrags- und Lesereisen in den Jahren 2007 bis 2011. Ein bisschen früher als andere hatte ich mich an Barack Obamas Fersen geheftet und ihn von Februar 2007 an regelmäßig zu Wahlkampfauftritten begleitet. Damals lautete die herrschende Meinung noch, Hillary Clinton werde George W. Bush beerben und die erste Präsidentin der USA werden. Aus diesen Erlebnissen entstand eine Biografie: „Barack Obama. Der schwarze Kennedy“. 2009 schrieb ich ein Buch über seine Frau: „Michelle Obama. Ein amerikanischer Traum“. Es erzählt ihren – typisch amerikanischen – Aufstieg vom schwarzen Arbeiterkind zur ersten First Lady, die von Sklaven abstammt; und ihren Lebensweg, der von einem rein afroamerikanischen Wohnviertel ins Weiße Haus führte. Es ist zugleich das erste Buch, das beschreibt, wie sie in ihrer neuen Rolle auftritt und wie sie ihr Amt ausfüllt.
Im Juni 2011 war ich dann der erste deutsche Korrespondent, dem Präsident Obama ein Interview gab – aus Anlass des Besuchs der Kanzlerin Angela Merkel und ihrer Ehrung mit der Freiheitsmedaille, dem höchsten zivilen Orden der USA.
Die Obamas wirkten auf viele Deutsche anfangs wie ihr Wunschbild von Amerika. Doch diese Sicht wurde bald erschüttert. Sie waren zwar anders als Bush und seine Republikaner, aber sie handelten deshalb noch lange nicht wie Europäer. Auch sie waren und blieben – Amerikaner. Sowohl die Faszination, die das neue Glamourpaar auf die Deutschen ausübte, als auch die Irritationen, die sie auslösten, bekam ich bei Vorträgen und Debatten in Deutschland hautnah zu spüren. Immer wieder mündeten die Fragen – anfangs zu den Erwartungen an Obama, später zum Verlauf seiner Präsidentschaft – in der Bitte, zu erklären, warum Amerikaner in so vielen Bereichen „anders ticken“ als die Deutschen. Warum stößt die allgemeine Krankenversicherung auf so viel Widerstand? Warum gelingt es ihm nicht, Guantanamo zu schließen? Warum beschimpfen ihn so viele Amerikaner als „Sozialisten“? Und warum hassen sie oft gerade das, was wir an ihm lieben?
Viele Diskussionen endeten mit der Aufforderung: Schreiben Sie ein Buch mit solchen Beispielen aus der politischen Praxis!
Ist dies also ein Buch über Barack Obama? Ja – und nein. Die Beispiele stammen aus seiner Amtszeit. Man könnte sie aber ebenso gut in anderen Präsidentschaften finden, vergangenen wie künftigen. Im Kern geht es darum, was Amerikaner und Europäer unterscheidet. Die Obama-Präsidentschaft hat diese Unterschiede im Denken über die Rolle des Staats und der Bürger, über soziale Gerechtigkeit und Eigenverantwortung, Privatwirtschaft und gesellschaftlichen Zusammenhalt nur in besonderer Weise sichtbar gemacht.
Deshalb richtet sich dieses Buch an alle, die Wegweiser und Leitplanken suchen, um Amerika besser zu verstehen. Und ganz besonders an alle, die so wie wir für ein paar Jahre in die USA ziehen. Es soll ihnen helfen, sich auf diesem fremden Stern zurechtzufinden. Die Stämme, die dort leben, und ihre Gesellschaftsordnung – Demokratie, Marktwirtschaft, Rechts- staat – könnten bei oberflächlicher Betrachtung wie eine Kopie Europas aussehen. In vielen Dingen fühlen und denken sie jedoch ganz anders als wir.
Ähnlich - und doch anders

Ron Sachs-Pool/Getty Images
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