"Wie schade, dass Sie aus Washington wegmussten"
Im Dezember 2010 saß ich rund um die Uhr mit meinem Team im Planungsstab des US-Außenministeriums zusammen, um nach 18 Monaten ein umfassendes Projekt für Außenministerin Hillary Clinton abzuschließen. Es war eiskalter Winter; ich ging mit einer Kollegin in den frühen Morgenstunden zu Fuß nach Hause. Zum Schutz vor dem Wind klappten wir unsere Kragen hoch und spielten das übliche Washingtoner Ratespiel: Wir spekulierten, wer wohl im Postenkarussell nach den Midterm-Wahlen welche Stelle übernehmen würde. Ich hielt mich zurück, aber ich hatte bereits unmissverständliche Hinweise erhalten, dass für mich eine Beförderung anstehen könnte – auf eine der wenigen höheren Positionen, die es noch gab. Ich war aufgeregt – und zutiefst zerrissen.
Seit fast zwei Jahren leitete ich als erste Frau den Planungsstab im Außenministerium, unterstand direkt der Ministerin und unterstützte sie bei der Entwicklung und Umsetzung langfristiger, strategischer Entwürfe für die amerikanische Außenpolitik. Als Hillary Clinton, die ich sehr bewundere und die eine wirklich wunderbare Chefin ist, mich zwei Jahre zuvor angerufen und mir den Job angeboten hatte – ein Traumjob für jeden Experten in Sachen Außenpolitik –, hatte ich auf der Stelle zugesagt. Allerdings erklärte ich ihr auch, dass ich nur zwei Jahre bleiben konnte –nur so lange können Hochschullehrer in den USA üblicherweise von ihren Universitäten freigestellt werden; darüber hinaus müssten sie die Anstellung auf Lebenszeit aufgeben. Als ich nach Washington ging, war meinem Ehemann Andy und mir selbst allerdings völlig klar, dass ich gerne auch länger bliebe, falls ich die Gelegenheit bekäme, in einer höheren Stellung weiterzumachen. Mein gesamtes Berufsleben hatte ich als Professorin verbracht, aber Außenpolitik war meine ganze Leidenschaft.
Es war mein Moment, mich »reinzuhängen«; ich musste es nutzen, dass ich zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort war, und mich in Stellung bringen. Natürlich war es nicht sicher, dass ich diese Beförderung wirklich bekommen würde, aber ich hatte eine echte Chance; die Stelle, um die es ging, hatte ebenfalls noch nie eine Frau besetzt. Und ich hätte dort Gelegenheit, einen Ansatz der Außenpolitik fortzuführen, an den ich fest glaubte und der inzwischen ein Markenzeichen von Hillary Clintons Amtszeit war.
Die Frau, für die ich mich immer gehalten hatte – die Karrierefrau, die Juraprofessorin, die Dekanin, ja schon die Studentin, die das Jurastudium als Eintrittskarte ins Außenministerium ansah –, hätte Ja gesagt, und das ohne jedes Zögern. Doch während der berufliche Teil meines Lebens vorwärtsstrebte, sah es im persönlichen Bereich sehr viel komplizierter aus. Als ich 2009 die Stelle im Außenministerium antrat, hatten Andy und ich beschlossen, dass es für ihn und unsere beiden Söhne günstiger sein würde, wenn ich jede Woche von Princeton nach Washington pendelte, statt die ganze Familie umzusiedeln. Die Jungs waren damals zehn und zwölf Jahre alt, gingen in die 4. und 6. Klasse und waren in ihrem Umfeld zufrieden und verwurzelt. Sie waren ganz und gar einverstanden mit unserer Entscheidung. Zwar waren sie traurig, dass ich nach Washington ging, aber als ich vorschlug, sie sollten alle mitkommen, ließ sich ihre Reaktion zusammenfassen mit einem klaren »Bye, Mom!«.
Andy ist Professor für Politik und Internationale Beziehungen in Princeton. Er war zu Hause immer präsenter gewesen als ich; meine vorige Stelle als Dekanin der Woodrow Wilson School of Public and International Affairs in Princeton sowie meine diversen Aktivitäten in der Außenpolitik hatten mir sehr viel mehr Reisetätigkeit abverlangt als seine Arbeit. Selbst wenn ich zu Hause war, war mein Computer nie ganz außer Reichweite. In der ersten Klasse sollte unser älterer Sohn einmal seine Familie malen: Mich malte er als Laptop. Nicht als Frau an einem Laptop, sondern einfach nur als Laptop! Dabei war mein Büro damals keine zwei Kilometer von zu Hause und von ihrer Schule entfernt; ich konnte an Elternabenden und an Schul- und Sportveranstaltungen teilnehmen, und die Organisation des Unijahres brachte es mit sich, dass ich zwar streckenweise sehr beschäftigt war, dass es aber immer auch Zeiten zum Auftanken gab, in denen wir gemeinsam Ferien machen oder zu Hause ausruhen konnten. Ich war im Leben der Jungen sehr präsent und empfand es als unglaubliches Glück, dass ich eine engagierte Mutter sein und ein aktives Berufsleben führen konnte.
Da Andy und ich bisher immer alles irgendwie geschafft hatten, nahm ich an, wir würden uns auch jetzt einfach an den neuen Rhythmus gewöhnen. Doch diesmal war der Wechsel schmerzlich. Zwei Wochen nach dem Anruf von Außenministerin Clinton trat ich meinen Job an, und in dieser kurzen Zeit wechselten wir von einer Welt, in der mein Büro zehn Minuten zu Fuß von zu Hause lag, in eine Welt, in der ich montags um 5 Uhr morgens das Haus verließ und freitags am späten Nachmittag oder Abend nach Hause kam. Dieser Zeitplan war bei den frisch ernannten Amtsträgern in der Obama-Verwaltung nicht ungewöhnlich; ich kannte nicht wenige Frauen und Männer, die ihre Familien in New York, Pennsylvania oder sogar in Kalifornien zurückgelassen hatten. Aber selbst hohe Regierungsbeamte, die direkt in Washington wohnen, bekommen ihre Familien nicht besonders viel zu Gesicht; die Arbeitszeiten sind immens, natürlich nicht zuletzt, weil die Arbeit so wichtig ist. Außerdem richten sich die Ereignisse in der Welt nicht nach dem Familienkalender; eine Krise baut auf der anderen auf und kann selbst in die wichtigste und schönste Familienfeier hineinplatzen. An Urlaub stand mir monatlich ein Tag zu, was für US-Verhältnisse eher großzügig ist, aber im Juni konnte ich mir noch immer kaum eine Woche Abwesenheit leisten.
Ich trug die Kosten meiner Entscheidung, aber ich hatte ja auch den Nutzen. Andy verstand das und unterstützte mich darin. Für unsere Söhne aber waren die Kosten unmittelbar spürbar und sehr hoch. Mein kleinerer Sohn – er war erst zehn – weinte sonntags abends, weil er wusste, dass ich am nächsten Morgen wegmusste. Einmal versuchte ich, ihn zu trösten, da brach es aus ihm heraus, noch bevor ich ein Wort sagen konnte: »Ich will nicht, dass du weggehst. Und unser Land ist mir egal!« Ich hatte ihm früher einmal erklärt, dass er genauso unserem Land dienen würde wie ich; genau das sagte ihm übrigens auch die Ministerin, als sie ihn einmal traf, aber er hatte einfach die Nase voll.
Unser älterer Sohn versuchte mit meiner Abwesenheit ganz erwachsen umzugehen, er bot sogar an, sich künftig um die Frühstückssäfte zu kümmern, die ich normalerweise jeden Morgen frisch presste. Er begriff, wie viel mir der Job bedeutete. Und er begriff auch, dass meine neue Stellung von grundsätzlicherer Bedeutung war. Als ich kurz nach dem Wechsel noch dabei war, mich in die Washingtoner Welt einzuarbeiten, und so frustriert war, dass ich (natürlich ohne es ernst zu meinen) etwas von Aufhören und Heimkommen murmelte, sah er mich an und sagte: »Mama, du kannst nicht aufhören! Du bist ein role model.« Das hatte er irgendwo aufgeschnappt, wahrscheinlich bei der Mutter eines Schulfreunds, aber er hatte es bereits verinnerlicht.
Er war stolz auf mich, aber gleichzeitig hatte er gerade erst in der Middle School angefangen, mit neuen Freunden und anspruchsvollerem Unterricht, all seine Gewohnheiten waren über den Haufen geworfen. Als dann noch die Pubertät dazukam, wurde er zu einem dieser Geschöpfe, das viele Eltern gut kennen: das mürrische, schweigsame Kind, das, wenn überhaupt, in trotzigen Einsilbern antwortete. Er hatte andere Freunde, fing an, keine Hausaufgaben mehr zu machen, im Unterricht zu stören, seine Mathenoten sanken in den Keller, und er ließ keinen Erwachsenen mehr an sich heran. Er rebellierte gegen seinen Vater und gab sich alle Mühe, mich vollständig zu ignorieren. In der 8. Klasse eskalierte dieses Verhalten eines Tages: Er bekam Schulverbot und wurde von der Polizei abgeholt. Ich erhielt mehrere alarmierende Anrufe – natürlich war an diesem Tag eine wichtige Sitzung angesagt –, musste alles stehen und liegen lassen und mit dem nächsten Zug nach Hause fahren (Außenministerin Clinton und ihre Stabschefin Cheryl Mills hatten immer großes Verständnis, aber mein Büro geriet doch unter Druck).
Viele Eltern versicherten mir, dass das Verhalten meines Sohnes typisch sei, dass nichts an dem, was mir da widerfuhr, besonders ungewöhnlich sei. Teenager rebellieren eben; und Eltern von Teenagern raufen sich die Haare. Und schließlich war ja Andy da und tat, was er konnte. Trotzdem ging mir mein Sohn nicht mehr aus dem Kopf. So sehr ich meine Arbeit auch liebte, kaum bekam ich einen Anruf oder eine SMS über das neueste Drama, fragte ich mich, warum zum Teufel ich in Washington war, während mein Sohn mich in Princeton brauchte.
Ich spielte verschiedene Szenarien durch, fragte mich, ob ich vielleicht versuchen sollte, nur ein weiteres Jahr in Washington herauszuschlagen, wusste aber, dass jeder Job, für den ich eventuell infrage kam, vom Senat abgesegnet werden musste, was drei bis sechs Monate in Anspruch nehmen konnte, und dass Hillary Clinton zu Recht erwarten würde, dass ich mich volle zwei Jahre bis zum Ende von Barack Obamas erster Amtszeit verpflichtete. Ich dachte daran, meinen Mann und die Söhne zu bitten, doch nach Washington zu ziehen, aber dann hätte Andy zu seiner Arbeit nach Princeton pendeln müssen, und die Jungs wären aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen worden, was ich besonders für den Jüngeren nicht gut fand. Schließlich waren wir nach Princeton in erster Linie wegen der guten öffentlichen Schulen gezogen und wegen der Kinderfreundlichkeit in dieser Stadt.
Auch das Geld spielte bei meinen Überlegungen eine Rolle. Mit meinem Eintritt in die Regierung verdiente ich nur noch die Hälfte und zahlte zudem Miete für ein winziges Einzimmer-Apartment in Washington sowie die Fahrtkosten. Würde die ganze Familie zu mir ziehen, könnten wir zwar unser Haus in Princeton vermieten, aber dann müsste Andy pendeln, und wir säßen mit den Umzugskosten und den Mehrausgaben in der teureren Stadt da.
Tief im Inneren wusste ich, dass es die richtige Entscheidung war, nach Hause zurückzugehen, wenngleich ich die Frau, die diese Entscheidung traf, eigentlich nicht wiedererkannte. Und doch war es beschlossene Sache. Hillary Clinton richtete mir eine großartige Abschiedsfeier aus, die ich nicht vergessen werde. Meine gesamte Familie – Eltern, Geschwister, Tanten, Onkel und Cousins – reisten an, vier von ihnen sogar aus Hongkong. Andy und die Jungs waren da und strahlten um die Wette mit all den lieben Freunden, alten und neuen, die zusahen, wie ich den Secretary’s Distinguished Service Award erhielt, die höchste Auszeichnung, die das Außenministerium zu vergeben hat. Bei all den Reden, Späßen und Geschenken von Kollegen, die ich zu schätzen und zu bewundern gelernt hatte, kam es mir nicht ein einziges Mal in den Sinn, dass ich »aufgab« oder »ausstieg«. Ich hatte nur beschlossen, einen Schritt zur Seite zu gehen statt weiter nach oben.
Am nächsten Tag, einem Freitag, räumte ich mein Apartment aus und stand am folgenden Dienstag wieder in Princeton im Hörsaal. Als ich mich von der strapaziösen Zeit in Washington erholt hatte und meine Familie allmählich wieder ins Lot kam, veränderte sich einiges grundlegend. Ich unterrichtete wieder, schrieb und hielt Vorträge als Professorin und außenpolitische Kommentatorin – zusammen war das alles mehr als ein Vollzeitjob, aber eben ein wunderbar flexibler. Doch jetzt wurde mir so klar wie nie zuvor, wie wesentlich genau diese Flexibilität immer dafür gewesen war, dass ich Familie und Karriere unter einen Hut bekam.
Genauso wichtig waren die kleinen Dinge, die ich früher als ganz normal angesehen hatte, die mir aber plötzlich viel wertvoller erschienen. Das erste halbe Jahr lang sprang ich morgens aus dem Bett und machte für die Jungs ein üppiges Frühstück: Muffins, Scones, Pancakes, Waffeln, Bratkartoffeln, Spiegeleier und so weiter. Andy hatte die beiden zwei Jahre lang allmorgendlich aus dem Bett geholt, versorgt und zur Schule geschickt; am ersten Morgen nach meiner Rückkehr drehte er sich um und sagte: »Du bist dran.« Einige Zeit später wies er mich allerdings sanft darauf hin, dass ich meine Abwesenheit vielleicht doch ein klein wenig überkompensierte. Dabei stellte ich mich eigentlich genauso für mich an den Herd wie für sie. Ein Aspekt des Mutterseins, den ich niemals erwartet hätte, ist das reine, elementare Vergnügen, das es mir bereitet, meine Söhne etwas essen zu sehen, was ich gekocht habe. Das muss ein tief in der Evolution verankerter Trieb sein. Egal: Ich war daheim, und ich hätte nicht glücklicher sein können.
Im Lauf der Monate stellte ich mir allmählich grundsätzlichere Fragen. Mein Entschluss, Washington zu verlassen, gründete sich auf meine Liebe und Verantwortung für meine Familie. Dennoch dachte ich darüber nach, mich im Fall einer Wiederwahl von Barack Obama erneut um eine Stelle im Außenministerium zu bemühen. Wenn man gerade am Zenit seiner Karriere steht, während die eigene Partei acht volle Jahre lang an der Macht ist, dann ist das der Moment, um nach den Sternen zu greifen. Als ich 2011 wegging, schloss ich den Versuch nicht aus, 2013 wiederzukommen.
Trotzdem kämpfte ich weiterhin mit mir. Selbst wenn ich die außergewöhnliche Gelegenheit bekommen sollte, wieder dem Regierungsteam anzugehören, würde ich mit einem neuen Weggang die letzten zwei Jahre verpassen, in denen mein älterer Sohn zu Hause war, und auch den Wechsel meines jüngeren Sohns zur Highschool. Es war mir nie in den Sinn gekommen, nicht meine Karriere vornanzustellen, solange meine Familie irgendwie damit zurechtkam, aber jetzt musste ich ehrlich mit mir selbst sein.
Die Krise meines älteren Sohns hatte mich zur Konfrontation mit der Frage gezwungen, was mir am wichtigsten war, und nicht, auf welche Ziele ich konditioniert worden war oder mich vielleicht sogar selbst konditioniert hatte. Ich begann, die Art von Feminismus zu hinterfragen, mit der ich aufgewachsen und für die ich immer eingetreten war. Warum bedeutete Erfolg für eine Frau (wie für einen Mann) immer, das berufliche Fortkommen höher zu stellen als alles andere?
Ich hatte immer geglaubt und auch all den jungen Frauen, denen ich Lehrerin oder Mentorin war, eingebläut, dass Frauen »alles haben« könnten, das heißt, dass sie Karriere und Familie haben könnten genau wie Männer und auf derselben Ebene wie sie. Männer, die Präsidenten, CEOs, Direktoren, Manager oder sonst irgendwelche Führungskräfte sind, haben schließlich auch Familien. Frauen könnten das ganz genauso, erklärte ich meinen Studentinnen – sie müssten sich nur genug für ihre Karriere einsetzen. Doch jetzt stand ich da, hatte mich »reingehängt« wie immer und hatte doch eine Entscheidung getroffen, die ich selbst von mir nie erwartet hätte – und obendrein war ich sicher, dass es die richtige Entscheidung war.
Für jemanden, der in den Siebzigerjahren aufgewachsen ist und von den Möglichkeiten, der Kraft und den Versprechen der Frauenbewegung geprägt wurde und treu an ihr hing, fühlte sich der Entschluss, sich für die Familie und gegen die Karriere zu entscheiden, wie Ketzerei an. Doch ein Ereignis im Mai 2011, also vier Monate nach meinem Weggang aus Washington, ließ mir all diese Fragen in einem anderen Licht erscheinen. Ich sollte als Gastdozentin an der Universität Oxford die erste Fulbright Lecture über Internationale Beziehungen halten. Auf Bitten der Organisatoren erklärte ich mich zu einem Gespräch mit Rhodes-Stipendiaten bereit, bei dem es um die »Vereinbarkeit von Beruf und Familie« gehen sollte. Das Publikum bestand aus etwa vierzig talentierten und selbstsicheren jungen Männern und Frauen Mitte zwanzig.
Was da aus mir heraussprudelte, war nicht wirklich ein Vortrag, sondern eher eine Reihe offener Überlegungen darüber, wie unerwartet schwierig es gewesen war, den Job zu erledigen, den ich als hohe Regierungsbeamtin erledigen wollte, und gleichzeitig die Mutter zu sein, die ich sein wollte, solange meine Kinder mich brauchten. Viele Frauen und Männer haben mir inzwischen gesagt, dass es naiv von mir war, diese Schwierigkeiten nicht zu erwarten, aber ich war einfach davon ausgegangen, dass meine Familie und ich es schaffen würden, wie wir es immer geschafft hatten. Und meine Zeit in Washington, so schloss ich meinen Vortrag, habe mich davon überzeugt, dass ich höchstwahrscheinlich keinen weiteren Regierungsjob antreten würde, solange meine Söhne noch zu Hause lebten, selbst wenn meine Partei an der Macht bleiben sollte.
Fast staunte ich, wie gespannt das Publikum zuhörte und wie viele kluge Fragen mir im Anschluss gestellt wurden. Als eine der Ersten dankte mir eine junge Frau, dass ich »nicht noch einen dieser Vorträge unter dem Motto ›Ihr könnt alles haben‹ gehalten hatte. Offensichtlich hatte sie davon schon jede Menge gehört und war diesbezüglich äußerst skeptisch. Die meisten jungen Frauen im Saal planten in irgendeiner Weise, Beruf und Familie zu kombinieren, aber sie gingen die Sache sehr viel besser informiert an, als ich es mit 25 getan hatte. Denn ich war einfach davon ausgegangen, dass ich mit voller Kraft meine Karriere würde verfolgen können und Mann und Familie wie durch Zauberei von selbst mitlaufen würden. Trotz ihres jungen Alters und ihrer Leistungen erwarteten diese Frauen und viele der Männer im Saal, dass die Vereinbarung von Beruf und Familie zwar befriedigend, aber wahrscheinlich schwierig werden würde. Sie wollten von Erfahrungen und Kompromissen hören, von Leuten, die mitten in diesem Kampf standen, wollten Ratschläge, die ihnen vielleicht helfen konnten, den Weg, der vor ihnen lag, zu planen oder zumindest zu übersehen.
Etwa zur gleichen Zeit merkte ich immer deutlicher, dass die Reaktionen von Männern und Frauen in meinem Alter völlig anders ausfielen. Nach einigen Monaten stellte ich fest, dass für sie das Problem keineswegs darin lag, dass ich überhaupt an die Universität zurückgekehrt war, sondern darin, dass ich es wegen der Kinder getan hatte. Wenn ich in Princeton und New York gefragt wurde, warum ich in die Lehre zurückgegangen war, hätte ich einfach sagen können, dass meine zweijährige Freistellung abgelaufen war, und daran erinnern können, dass US-Chefökonom Larry Summers ebenfalls nach zwei Jahren sein Amt aufgegeben hatte und zurück nach Harvard gegangen war. Doch ich war fest entschlossen, für meine Entscheidung meine Familie als gleichwertiges Argument geltend zu machen. Als Dekanin der Woodrow Wilson School war ich immer dafür bekannt gewesen, dass ich um 18 Uhr nach Hause musste, um mit meiner Familie zu Abend zu essen, oder dass ich Termine verschieben musste, damit ich zu Elternabenden oder Schulveranstaltungen meiner Söhne gehen konnte. So antwortete ich auf die Frage, warum ich das Außenministerium verlassen hatte, häufig: »Mein Mann und ich haben zwei heranwachsende Söhne, die aktive Eltern brauchen. Außerdem werden sie nur noch wenige Jahre zu Hause sein.«
Von einem Moment auf den anderen veränderte sich die Wahrnehmung, die mein Gesprächspartner von mir hatte. Die Reaktionen reichten von »Wie schade, dass Sie aus Washington wegmussten« über »Ich würde Ihre Erfahrungen nicht verallgemeinern. Ich musste nie Abstriche machen, und meine Kinder haben sich großartig entwickelt« bis zu den vielen kleinen Hinweisen darauf, dass mein Gegenüber neu abzuschätzen versuchte, ob ich wirk- lich ein richtiger »Player« war.
Kurz gesagt, selbst als Frau mit Vollzeitanstellung als ordentliche Professorin wurde ich plötzlich in die Schublade der vielen talentierten und gut ausgebildeten Frauen gesteckt (und damit implizit abgewertet), die zu Beginn ihrer Karriere vielversprechende Ansätze zeigen und die ersten Erfolge verbuchen können, dann aber entscheiden, einen weniger aufwendigen Job anzutreten, die Arbeitszeit zu reduzieren oder gar nicht mehr zu arbeiten, um mehr Zeit zu haben, sich um ihre Familie zu kümmern. Andauernd bekam ich zu spüren, dass ich die Erwartungen vieler Menschen in meinem Umfeld enttäuscht hatte – ältere Frauen, meine männlichen und weiblichen Altersgenossen, selbst einige meiner Freunde –, die irgendwie in meinen Karriereverlauf investiert hatten.
Mein Leben lang hatte ich in diesen Gesprächen auf der anderen Seite gestanden. Ich war die mit dem leicht überlegenen Lächeln gegenüber einer Frau, die mir erzählte, sie habe beschlossen, eine Auszeit zu nehmen oder eine andere, weniger anspruchsvolle Stelle anzutreten, um mehr Zeit für die Familie zu haben. Ich war die Frau im verschworenen Kreis der immer weniger werdenden Freundinnen aus dem College oder dem Jurastudium, die ihren beruflichen Ehrgeiz nie hintangestellt hatten und sich gegenseitig für ihr unerschütterliches Engagement in Sachen Feminismus beglückwünschten. Ich war die, die Studentinnen und Zuhörerinnen auf Vorträgen einbläute, Frauen könnten alles haben und alles tun, egal in welchem Job. Das heißt, ich habe, wenn auch ungewollt, dazu beigetragen, dass Frauen das Gefühl haben, es sei ihre Schuld, wenn sie es nicht schaffen, in Vollzeit zu arbeiten und so schnell die Karriereleiter hinaufzuklettern wie Männer und dabei gleichzeitig noch Familie und ein aktives Privatleben zu haben (und obendrein noch schlank und hübsch zu sein). Je länger ich darüber nachdachte, desto grundlegend verkehrter schien es mir, dass die Millionen Frauen und immer mehr Männer, die sich ähnlich entschieden wie ich, nicht unterstützt und sogar gefeiert wurden, weil sie darauf bestanden, dass beruflicher Erfolg nicht das einzige Maß für Glück und Erfüllung des Menschen ist.
2012 schrieb ich einen Beitrag für die Zeitschrift The Atlantic, in dem ich all meine Gedanken über Frauen und Beruf zusammenfasste, die in mir brodelten. Der Artikel trug den Titel »Why Women Still Can’t Have It All«, den ich schon bald bereute, der sich aber mit Sicherheit besser verkaufte als ein zutreffenderer, aber weniger zündender Titel wie »Warum arbeitende Mütter bessere Voraussetzungen brauchen, um im Rennen zu bleiben und es bis ganz nach oben zu schaffen«. Innerhalb von fünf Tagen war die Online-Version 400 000 mal geklickt worden; eine Woche später waren es eine Million Klicks; heute ist er mit geschätzten 2,7 Millionen Klicks der meistgelesene Artikel in der 150 Jahre alten Geschichte des Atlantic. Ganz offensichtlich wollten eine beträchtliche Anzahl von Frauen und zunehmend mehr Männer eine neue Runde der inzwischen fünfzig Jahre andauernden Diskussion darüber, was wahre Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau wirklich bedeutet.
In den folgenden Monaten erhielt ich Hunderte E-Mails von Menschen, die mein Beitrag zum Nachdenken gebracht hatte. Jessica Davis-Ganao, Hochschuldozentin mit zwei kleinen Kindern, von denen eines an einer Erbkrankheit leidet, bemühte sich selbst gerade um eine Festanstellung an einer Hochschule und schrieb: »Ich habe gerade Ihren Artikel im Atlantic gelesen und musste meine Tür zumachen, weil ich einfach nicht aufhören konnte zu weinen. Sie artikulieren da einen Kampf, den ich seit einigen Jahren ausfechte.« Ein anderer Kommentar, den ich im Gedächtnis behalten habe, stammte von einer Mutter, die erklärte, ich hätte ihr mit meinem Artikel gleichsam »die Erlaubnis gegeben«, zu kündigen und eine Zeit lang zu Hause bei ihren Kindern zu bleiben – sie habe sich das schon lange gewünscht, es aber nicht gewagt.
Nicht alle Reaktionen waren wohlwollend. Mir wurde vorgeworfen, ich führe einen »plutokratischen« Feminismus fort – bezöge mich also nur auf Oberschichtenprobleme einflussreicher Frauen wie ich selbst. Einige kritisierten das gesamte Konzept des »Alles haben wollen« und sprachen von perfektionistischer Torheit, wenn wir uns einbildeten, wir könnten erfolgreiche Karrieren haben und gleichzeitig noch hochengagierte Eltern sein. Andere behaupteten, mein Artikel unterminiere Jahre historischer, hart erkämpfter Erfolge von Frauen am Arbeitsplatz.
Bald war ich Kritik und Lob direkt ausgesetzt, als ich nämlich durch das Land reiste, Vorträge hielt, mir Fragen anhörte und um Antworten rang. Schrittweise befreite ich mich von einer ganzen Reihe tief verinnerlichter Überzeugungen darüber, was wertvoll, wichtig, richtig und natürlich ist. Der Prozess ähnelte einem Besuch bei der Augenärztin, wenn sie die Linsen in diesen kleinen Apparat schiebt und die anfangs völlig verschwommenen Buchstaben, die auf der Tafel defilieren, nach und nach scharf und klar zu sehen sind.
Feministische Vorreiterinnen wie Betty Friedan und Gloria Steinem befreiten sich von erstickenden Stereotypen, die Frauen in eine Welt einsperrten, in der ihre Identität fast ausschließlich durch ihre Beziehungen zu anderen definiert wurde: Tochter, Schwester, Ehefrau, Mutter. Die Bewegung, die Friedan und Steinem in der Nachfolge von Susan B. Anthony, Elizabeth Cady Stanton und ihren Mitrevolutionärinnen des 19. Jahrhunderts anführten, war gemeinsam mit der Bürgerrechtsbewegung, der globalen Menschenrechtsbewegung, der Antikolonialismus-Bewegung und der Schwulenbewegung einer der großen Freiheitskämpfe der Menschheit im 20. Jahrhundert.
Freilich bleibt diese Bewegung in vielerlei Hinsicht unvollendet. Und zu Beginn des 21. Jahrhunderts bin ich zunehmend davon überzeugt, dass Frauenförderung bedeutet, sich aus einer ganzen Reihe von neuen Stereotypen und Annahmen zu befreien, und das nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer. Sie bedeutet, herkömmliche »Wahrheiten« sehr viel grundlegender infrage zu stellen: Was sind wir wert und warum? Wie bemisst sich Erfolg? Woraus speist sich die menschliche Natur? Und was bedeutet Gleichberechtigung wirklich? Es bedeutet, alles neu durchzudenken, von der Arbeitsplatzgestaltung über Lebensabschnitte bis zu Führungsstilen.
Ich möchte eine Gesellschaft, die es jeder und jedem ermöglicht, eine erfüllende Karriere zu haben, oder einfach einen guten Job mit gutem Gehalt, wenn das die Wahl ist, und gleichzeitig ein Privatleben, das genug Platz lässt für die tiefe Freude, andere lieben und für sie sorgen zu können. Ich hoffe, dieses Buch bringt uns in dieser Richtung ein Stück weiter.
Aber gehen wir einen Schritt nach dem anderen. Beginnen wir zunächst mit der Welt, wie sie ist, nicht, wie viele von uns sie gerne hätten.
[...]