Einleitung: Die schlechte Gesundheitsversorgung alter Menschen
Mit 50 Jahren fängt für viele von uns heute eine neue Lebensphase an. Eine Lebensphase, die keine Generation vor uns je so erlebt hat. Denn mit 50 erreicht man heute das Alter, in dem die eigenen Eltern oder nahestehende Menschen über 70, 80 oder gar über 90 Jahre alt sind. Jeder von uns kennt heute Menschen, die genau in dieser Lebensphase sind. Und es werden aufgrund des demografischen Wandels und verbesserter medizinischer Versorgung immer mehr.
Denn die Zeitspanne, in der die Bevölkerung bei relativ guter Gesundheit und noch recht eigenständigem Leben altert, zieht sich heute im Durchschnitt genauso lange hin wie das gesamte Kindes- und Jugendalter. Da kommt es natürlich sehr darauf an, wie gesund man in den Jahren nach der Rente mit 70 Jahren bis zum 90. Lebensjahr lebt. In Gesundheit altern – damit sieht es in Deutschland aber ganz und gar nicht gut aus. So hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) herausgefunden, dass einem 65-jährigen Deutschen im Schnitt noch 19,6 Lebensjahre bevorstehen. Lediglich 6,5 Jahre davon sind rein gesunde Jahre. In Großbritannien und Frankreich sind es schon über zehn gesunde Jahre, mit denen ein 65-Jähriger rechnen kann. Ein 65-Jähriger in Schweden darf noch auf 20,3 weitere Lebensjahre hoffen und verlebt dabei 13,5 Jahre in recht guter Gesundheit. Und ein Norweger kann sogar zu drei Vierteln seiner Lebenszeit zwischen 65 und 85 Jahren – also 15 Jahre lang – mit guter Gesundheit rechnen. Die Gründe dafür, dass Deutschland die wenigsten gesunden Senioren hat, sind vielschichtig: unzureichende präventive Angebote, um Übergewicht oder übermäßigen Alkoholkonsum im Zaum zu halten, ungewöhnlich niedrige Preise hierzulande insbesondere für ungesunde Lebensmittel und lediglich eine halb so hohe Erwerbsquote der 65- bis 74-Jährigen im Vergleich zu Großbritannien oder Schweden. Ältere Menschen sind also in vergleichbaren EU-Ländern deutlich produktiver und mobiler und damit offenbar auch länger gesund als in Deutschland. Zugespitzt bedeuten diese Zahlen, dass ein deutscher Rentner mit 65 befürchten muss, zwei Drittel seiner verbleibenden Lebenszeit mit Krankheiten, Schmerzen, Operationen und Pflegebedürftigkeit traktiert zu werden. Und da kommt es natürlich ganz besonders darauf an, Versorgungsstrukturen vorzufinden, die genau diesem Bedarf entsprechen. Doch die sind so nicht vorhanden. Zwar schneidet das Gesundheitssystem in Deutschland im europäischen Vergleich mit anderen Ländern insgesamt nicht schlecht ab. Die Versorgung von älteren und kranken Menschen, die noch nicht in vollem Maße pflegebedürftig oder gar dement sind, lässt aber arg zu wünschen übrig. So richtig fühlt sich keiner für diese Patienten zuständig. Dabei müssten die Zahlen der OECD doch eigentlich alle aufrütteln. Die Politik, die Krankenkassen, die Senioren selbst und vor allem deren Angehörige, die heute immer noch die Hauptlast der Betreuung tragen. Kliniken und Universitäten sind heute weder medizinisch noch pflegerisch ausreichend auf die auf uns zurollende Welle von immer mehr alten und kranken Menschen eingestellt, warnt die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG). Und im ambulanten Bereich sieht es noch viel schlechter aus, klagt Dr. Peter Landendörfer, auf Altersmedizin (Geriatrie) spezialisierter Allgemeinarzt aus dem bayerischen Heiligenstadt, seit Jahren auf Fachkongressen. Mit der Versorgung alter Menschen in den allgemeinmedizinischen Praxen rollt auch auf die Hausärzte ein demografischer Tsunami zu, vor dem viele lieber die Augen schließen. Denn der geriatrische Patient wird laut Landendörfer heute von vielen Medizinern als Last angesehen, weil seine Behandlung aufwendig und teuer ist und weil geriatrische Behandlungen zudem höchst komplex sind.
Im Fokus meines Buches steht daher vor allem die stark wachsende Zahl älter werdender Menschen im Alter von 70plus bis 95plus, die noch nicht (voll) pflegebedürftig oder dement sind. Da diese Altersphase heute länger dauert, kann in dieser Zeit auch sehr viel mehr passieren. Es beginnt zumeist um das 70. Lebensjahr herum mit ein paar Wehwehchen, den ersten noch nicht so schwerwiegenden Erkrankungen und dem einen oder anderen Mittelchen, das eingenommen wird. Dann folgen die ersten Krankenhausaufenthalte, zumeist noch geplante Routineoperationen an der Hüfte, an den Knien oder an den Augen oder bei ersten Herzproblemen. Spätestens wenn all das passiert, werden die ersten Missstände offenkundig: lange Wartezeiten in der Notaufnahme oder ein unwürdiger Umgang mit Patienten in einem zunehmend industrialisierten Medizinbetrieb, in dem jeder kranke Mensch zu einer Nummer degradiert wird. Bei vielen alten Menschen kommt hinzu, dass sie auf Krankenhausfluren oder Normalstationen zwischengeparkt werden, weil die geriatrische Abteilung zu wenige Betten hat oder es gar keine Geriatrie gibt. Viele alte Menschen werden erst einmal mit Medikamenten vollgepumpt, damit kurzfristig ein spürbarer Behandlungseffekt erzielt werden kann. Ein Krankenhausaufenthalt verwirrt aber viele ältere Menschen derart, dass zusätzlich zu ihren Krankheiten noch Verwirrtheit (das sogenannte Delir) hinzukommt. Damit sind sie im Krankenhaus dann endgültig verloren. Werden sie schließlich auch noch – häufig vorschnell oder »blutig« – aus dem Krankenhaus entlassen, sind sie endgültig verlassen, weil sie zusammen mit ihren Angehörigen mit der neuen Situation völlig überfordert sind. Dabei benötigen alte und kranke Menschen eine besondere Behandlung und Betreuung, weil für sie eigene Gesetzmäßigkeiten gelten. Von keiner Patientengruppe sonst werden so viele Medikamente unkontrolliert geschluckt wie von alten Menschen. In keinem Bereich der Medizin müssen so viele Krankheiten gleichzeitig behandelt und muss dennoch der ganzheitliche Blick auf den Patienten bewahrt werden wie in der Geriatrie. Und in keiner Lebensphase zuvor kommt es vor allem darauf an, den Alltag noch einigermaßen gut bewältigen zu können. Dazu ist bei der Behandlung und Betreuung geriatrischer Patienten vor allem Kompetenz und Feingespür erforderlich und nicht – wie sonst in der Medizin – eine strikt leitliniengerechte Behandlung. Skandalös ist es jedoch, dass diese Erkenntnisse bekannt sind, unser hoch gepriesenes Gesundheitssystem aber dennoch nur höchst unzureichend darauf eingestellt ist. Um mir sowohl in der Praxis als auch im Alltag ein möglichst umfassendes Bild von der Versorgung alter und kranker Menschen zu machen, bin ich quer durch Deutschland gereist. Dabei ist mir schnell klar geworden, dass sich unbedingt etwas ändern muss. Denn der demografische Tsunami, der auf uns zurollt, bedroht das gesamte medizinische System. Um herauszufinden, was genau getan werden muss, habe ich mir sowohl die traurige Realität als auch gelungene und Mut machende Versorgungsansätze angeschaut. Ich bin in Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen gewesen, habe alte Menschen auf Station und zu Hause besucht und bin mit engagierten Ärzten und Pflegern auf Besuchstour gegangen. Eines habe ich von jeder meiner Recherchen mitgenommen: Der größte Wunsch der meisten alten Menschen ist, wieder dahin zurück zu können, wo sie hergekommen sind: nach Hause.
Um das aber gewährleisten zu können, kommt es auf eine gute Betreuung – und zwar weit über die Medizin hinaus – an. Denn das Leben wird von Lebensjahr zu Lebensjahr beschwerlicher. Deshalb greift dieses Buch die wichtigsten Fragen und Probleme auf, die für alte und kranke Menschen in der langen Lebensphase, in der sie heute noch weitgehend alleine zu Hause leben, entscheidend sind. Die sieben thematischen Kapitel sind immer nach dem gleichen Muster aufgebaut. Der erste Beitrag listet die Missstände auf. Im zweiten Beitrag geht es darum, ob eine Heilung dieser Missstände in Sicht ist. Die letzten beiden Texte in jedem Kapitel sind Reportagen vor Ort, die Mut machen sollen und zeigen, wie alte und kranke Menschen besser betreut und behandelt werden können.
Doch worauf kommt es bei der Versorgung geriatrischer Patienten besonders an? Ganz wichtig sind in jedem Fall die Bedeutung des Hausarztes und von Hausbesuchen (Kapitel 2 und 3), die Bedingungen im Krankenhaus und bei der Reha mitsamt der Nachsorge (Kapitel 4 und 5) sowie die medikamentöse Versorgung (Kapitel 1). Andere Themen, die hierzulande für den geriatrischen Patienten bisher eher ein Schattendasein gefristet haben, müssen in Zukunft eine deutlich stärkere Rolle spielen. Das sind die Digitalisierung in der Medizin (Kapitel 6) und die zunehmende Verantwortung der Kommunen für die Gesundheitsfürsorge ihrer älteren Bürger (Kapitel 7). Mit einer Kombination aus diesen herkömmlichen und neuen Unterstützungsformen ist heute für viele alte Menschen durchaus ein langes und möglichst beschwerdefreies Leben zu Hause möglich.
Doch irgendwann passiert es dann doch. Das schlimme und einschneidende Ereignis, das etwa durch einen Sturz, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall ausgelöst wird. Dann ändert sich im wahrsten Sinne des Wortes alles schlagartig. Alte Menschen finden sich plötzlich in der Notfallstation eines Krankenhauses wieder und geraten dort in eine Maschinerie, in der sie nach langen Behandlungsprozeduren zu einem hilfsbedürftigen, abhängigen Menschen werden. Und dann stockt das gewohnte Leben. Die familiäre Betreuung zu Hause stößt an ihre Grenzen, die Einweisungen in die Klinik werden häufiger, erneute Rücküberweisung zum Hausarzt, Weiterüberweisung zu Fachärzten, Einschaltung des Pflegedienstes, Physiotherapie, Beantragung einer Reha und dann das gleiche Spiel von vorn.
All diese Versorgungssegmente haben zwar ihren Wert, und alle Fachleute handeln dabei nach bestem Wissen und Gewissen. Sie sind aber weitgehend in sich geschlossen und laufen mehr nebeneinander her, als dass sie ineinandergreifen würden. Das hat zur Folge, dass alte Menschen, wenn sie ernsthaft krank werden, nur höchst unzureichend versorgt werden und gar nicht mehr verstehen, wie es um sie steht und was alles mit ihnen passiert. So habe ich zum Beispiel erlebt, wie einer 102-jährigen Patientin eine geriatrische Reha vorenthalten wurde, obwohl alle medizinischen Gründe für eine solche sprachen. Und ich bin alten Menschen begegnet, die einsam, hilflos oder einfach nur erschöpft waren und nicht wussten, ob es für sie noch eine Zukunft geben kann.
Doch in den nächsten Jahren wird alles noch viel schlimmer werden, wenn sich nicht entscheidende Dinge verändern. Deshalb werden in diesem Buch im zweiten Teil eines jeden Kapitels auch ganz konkrete Alternativen aufgezeigt, die in der Praxis bereits funktionieren und bundesweit ein fester Bestandteil der gesundheitlichen Versorgung alter und kranker Menschen werden müssen. Bei meinen Recherchen vor Ort habe ich mich selbst davon überzeugt, was zum Nutzen alter und kranker Menschen alles möglich ist, wenn der Wille vorhanden ist, etwas anzupacken. Und angepackt wird vieles, an vielen Orten in Deutschland mit großem Einfallsreichtum, viel Herzblut und mit gar nicht so hohem finanziellen Einsatz. Das Problem ist nur, dass es häufig bei zeitlich befristeten Modellen bleibt und viele innovative Ideen nicht in Gesetze fließen, sodass sie den alten und kranken Menschen am Ende nicht zugutekommen.
Natürlich dürfen am Schluss auch Rezepte nicht fehlen, die alte und kranke Patienten und deren nahe Angehörige am besten sich selbst verordnen sollten. Das Schlusskapitel mit seinen 45 Tipps ist daher gerade für nahe Angehörige wichtig, um frühzeitig Vorsorge treffen zu können und dann im Ernstfall auch wirklich gut versorgt zu sein. Warten Sie nicht auf morgen, sondern fangen Sie schon heute damit an!
Besser heute und nicht erst morgen sollte auch die Politik handeln. Dazu müsste sie aber endlich mehr Mut aufbringen, Versorgungsmodelle und unterstützende Maßnahmen für alte Menschen, die sich in der Praxis bewährt haben, auch tatsächlich gesetzlich und finanziell abzusichern. Dabei liegt aber noch sehr vieles im Argen. Zum Beispiel bei der Pflege, der Vorsorge oder auch der eigentlichen geriatrischen Versorgung, die in diesem Buch im Fokus steht. Deswegen werden auch der Politik am Schluss dieses Buches Rezepte ausgestellt, die bis 2020 dringend auf die politische Agenda gehören. Eine Liste mit Internetlinks, die viele weitere Tipps und Informationen beinhalten, rundet schließlich den Serviceteil ab.
Wenn dieses Buch dazu beiträgt, sinnvolle Maßnahmen ins Bewusstsein zu rücken, das immer länger werdende Leben in der dritten Lebensphase zu verbessern, wäre schon viel gewonnen. Für die alten Menschen selbst, aber auch für die nahen Angehörigen im Alter von 50plus. So erfahren Sie schon heute, was Sie für sich vorbeugend regeln können oder sogar müssen. Es gibt also viele Gründe, dieses Buch zu lesen. Sie als Leser schaffen damit auch die besten Voraussetzungen, sich für das eigene Alter zu wappnen und im hohen Alter besser leben zu können als die meisten alten Menschen heute.
»Wehe, du bist alt und wirst krank« ist daher keine leere und schon gar keine sensationsheischende Floskel, sondern für viele Patienten bittere Realität in einem der besten Gesundheitssyste- me der Welt.
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