Anstelle eines Vorworts:
»Das Floß der Medusa«
Vor rund 200 Jahren, im Jahr 1819, wird in Paris ein Gemälde des Malers Théodore Géricault ausgestellt. Diese Darstellung von Schiffbrüchigen auf bewegter See wirkte wie ein »Angriff auf die etablierte Gesellschaft«. Und das, obwohl dieser Maler bisher eher durch romantische Darstellungen von Reitszenen, Landschaftsbilder und Porträts einfacher Leute aufgefallen war und zudem das Gemälde auf den ersten Blick frei von revolutionären Symbolen oder Pathos ist. Es zeigt schlichtweg Schiffbrüchige zwischen Verzweiflung und Hoffnung auf einem Floß im tosenden Meer, während am Horizont ein Schiff erscheint.
Und doch hat die Sorge der Herrschenden einen Grund: Medusa war das Flaggschiff eines französischen Fregattenverbands. Als es auf dem Weg nach Senegal auf Grund läuft, sichern sich der Kapitän, die höheren Offiziere und die einflussreichen Passagiere die wenigen Rettungsboote. Die übrigen Passagiere und Schiffbrüchigen müssen mit einem notdürftig zusammengezimmerten Floß auskommen. 15 Tage treibt dieses Floß auf dem Meer. In diesen 15 Tagen und Nächten kommt es zu Selbstmord, durch Hunger erzwungenen Kannibalismus und sogar zum Mord an Schwerverwundeten, um die letzten Weinreserven für die anderen aufzusparen. Nur wenige überleben. Das Gemälde fängt den Moment ein, als die Überlebenden am Horizont ein Schiff entdecken und sich diesem entgegenstrecken.
Keiner der Schiffbrüchigen hatte es sich ausgesucht, auf diesem Floß zu landen. Sie trieb einzig der Wunsch zu überleben an. Und doch ist der vom Maler Géricault geschilderte Augenblick, als die wenigen Überlebenden ein rettendes Schiff erblicken, mit solcher Verzweiflung geladen, dass die Vertreter der bourbonischen Restauration dieses Bild »als ersten Schritt zur Revolte gegen ihr Regime« deuteten, als ob dieses Gemälde ihnen ihre Schmach und Schuld vor Augen führen würde. Sie befürchteten, dass dieses Aufbäumen in Verzweiflung sich zum Aufruhr entwickeln könnte. Elf Jahre später, im Juni 1830, kommt es in Paris tatsächlich erneut zu Aufständen.
Mit der Darstellung und damit der Verdichtung in einen Moment drang das Leid der unterprivilegierten Passagiere der Medusa in die feine Welt der Pariser Salons ein und erinnerte an die Schuld der Eliten. Schließlich hatten die einflussreichen Passagiere der Medusa die sicheren Rettungsboote für sich in Beschlag genommen. Sie hatten zudem bei einem aufkommenden Sturm die zwei Seile, mit denen das Floß gezogen werden sollte, gekappt. Dabei war es im Gegensatz zu den Rettungsbooten nicht manövrierfähig und damit auf sie angewiesen. Allein das Thema des Gemäldes verwies auf »den Zynismus und die Selbstsucht der Regierenden«.
Hier zeigt sich eine gewisse Parallele zu unserer heutigen Situation und den aktuellen Flüchtlingsbewegungen. Mit ihnen platzt die Systemfrage in die bis dato vermeintlich heile Welt des Merkel’schen Biedermeiers. Sie führen uns unsere Mitverantwortung vor Augen. Auch wenn keiner der Geflüchteten es sich wirklich ausgesucht hat und wohl eher der Wunsch auf ein besseres Leben sie antrieb als der Wunsch, politische Botschaften zu übersenden, so tragen sie doch eine Botschaft nach Europa. Diese lautet: So wie wir wirtschaften und handeln, wie wir arbeiten, konsumieren und Politik machen – so kann es nicht weitergehen.
Mit den Flüchtlingsbewegungen stellen sich die grundlegenden Gerechtigkeitsfragen mit besonderer Dringlichkeit, und ihr globaler Charakter wird in aller Deutlichkeit klar. Das ist eine der Thesen, die diesem Buch zugrunde liegen. Um sie zu erläutern, ist das erste Kapitel einer Sichtung der verschiedenen Fluchtursachen gewidmet. Auch wenn diese anfangs einzeln geschildert werden, so hängen sie doch zusammen und greifen systemisch ineinander. Deshalb ist eine Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem erforderlich, wenn wir Fluchtursachen wirklich bekämpfen wollen. Wie wenig die Reaktionen der Bundesregierung und der EU-Eliten dieser Herausforderung gerecht werden, wie wenig sie zudem geeignet sind, einen guten Start für das zukünftige Zusammenleben zu organisieren – und stattdessen eher dem wachsenden Rassismus in die Hände spielen –, wird im zweiten und dritten Kapitel thematisiert. Im Kontrast dazu geht es im vierten Kapitel um das, was längst Grund zur Hoffnung gibt: um all die Entwicklungen, die Mut machen, sowie um all die Belege dafür, dass Einwanderung weniger als Problem, sondern vielmehr als Bereicherung erlebt werden sollte.
Und darin liegt die zweite zentrale These, die mich zum Schreiben motiviert hat: Die jetzige Situation muss nicht zwangsläufig auf eine Apokalypse zulaufen. Sie kann vielmehr auch den Wendepunkt zum Positiven, zu einer wirklichen Demokratie in der Einwanderungsgesellschaft, zu einem Land für alle darstellen. Diese Perspektive ist eng verknüpft mit einem neuen Verständnis von Kultur – und zwar einer Kultur frei von jeglichem nationalen Reinheitsgebot oder Leitkultur-Ansprüchen. Dabei wird dieses im fünften Kapitel herausgearbeitete Verständnis von Kultur nicht allein normativ begründet, sondern auch durch einen geschichtlichen Exkurs zu Migration verdeutlicht. Im sechsten Kapitel wird schließlich erörtert, welche Schritte notwendig sind, damit aus der Hoffnung auf Demokratie in der Einwanderungsgesellschaft eine neue Realität wird. Deutlich wird: Ein sozialer Universalismus in Wort und Tat, das heißt, dass alle die tatsächliche Möglichkeit haben, ihr Leben selbst zu gestalten, kann dafür wegweisend sein. Wir brauchen eine Politik, die das Versprechen auf umfassende Teilhabe und gleiche Rechte für alle wahrmacht, indem sie den Menschen auch die materiellen Mittel in die Hand gibt, um sich praktisch zu beteiligen. Eine soziale Unionsbürgerschaft sowie eine Offensive für das Öffentliche, also einen Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, die alle nutzen können, sind in diesem Sinne erste Schritte auf dem Weg zu einem solidarischen Europa der Einwanderung. Es geht dabei letztlich um nicht weniger als das Bild eines Europas, welches wieder die Hoffnung wecken kann, von der eine Demokratie lebt. Europa könnte so von einer Drohung wieder zu einem positiven Beispiel mit weltweiter Aus- strahlung werden – zu einem Kontinent für alle.
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1 Fluchtursachen:
Das Verdrängte wird sichtbar
So wie das Gemälde »Das Floß der Medusa« in den feinen Pariser Salons vor rund 200 Jahren auf eine Ungerechtigkeit aufmerksam machte und deshalb den besorgten Unmut der Eliten erregte, so platzt mit den Flüchtlingsbewegungen die Systemfrage in unsere Gesellschaft. Das bisher Ausgeschlossene wird sichtbar und verschafft sich Gehör. Das bisher Verdrängte meldet sich zu Wort. Das Unterdrückte taucht auf.
Das Besondere an der aktuellen Situation ist weniger die Anzahl der Geflüchteten. Neu ist, dass sie es zu »uns« schaffen. Seit langem sind viele Millionen Menschen auf der Flucht. Viele Flüchtende verbringen Jahre ihres Lebens auf dem Weg. Einigen gelingt die Ankunft in einem besseren Leben, die meisten jedoch bleiben unterwegs irgendwo hängen zwischen Unsicherheit, Kriminalisierung oder Prostitution. Nicht wenige Menschen verlieren erst ihre Heimat und dann ihr Leben. So ist davon auszugehen, dass allein zwischen 2000 und 2014 circa 23 000 Menschen auf dem Weg in die Europäische Union (EU) gestorben, im Mittelmeer ertrunken, in Containern erstickt oder in Wüsten verdurstet sind. Dass sie dieses Risiko in Kauf nehmen, hat mit dem Leid und der Not in ihrer Heimat zu tun. Wo Bürgerkriege, Umweltzerstörung, rassistische Verfolgung und Hunger Gesundheit und Leben bedrohen oder zumindest ein gutes Leben verunmöglichen, werden Menschen in die Flucht getrieben.
Doch bisher vollzog sich all das Sterben und Leiden überwiegend jenseits unserer Wahrnehmungsschwelle. Kerneuropa wähnte sich gut abgeschirmt. Das Frontex-Grenzregime sollte verhindern, dass Menschen überhaupt nach Europa kamen. Dafür nahm die EU großzügig Geld in die Hand. So wurde das Budget von Frontex innerhalb von zehn Jahren verfünfzehnfacht. Das Grenzregime der EU basierte bisher auf der Verabredung, Flüchtlinge an den Außengrenzen sterben zu lassen, wenn nicht sogar auf dem stillschweigenden Konsens, bei diesem Sterben im Zweifelsfall nachzuhelfen. Diese Übereinkunft hat einige Risse bekommen. Lange Zeit war es üblich, dass die Küstenwache in Griechenland ankommende Schlauchboote mit Flüchtenden einfach auf hoher See »abstach«. Nach dem Regierungswechsel in Athen wurde diese Praxis untersagt.
Zudem profitierte das Grenzregime der EU von der Kooperation mit Diktatoren auf der anderen Seite des Mittelmeers. Wo Demokratie und Menschenrechte nichts gelten, ist es leichter, Flüchtende mit vermeintlich effektiver Grausamkeit an der Fortsetzung ihrer Route nach Europa zu hindern. Diese offensichtliche Verletzung von Menschenrechten wurde von der EU nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern auch materiell belohnt. Dann kam es aber in einigen dieser Länder infolge des arabischen Frühlings wenigstens zu Erschütterungen der bisherigen Machtstrukturen, worunter auch die grausame Effizienz der Flüchtlingsabwehr »litt«.
Die Regelungen der Dublin-Verordnungen sollten zudem sicherstellen, dass das Gros der Geflüchteten in Ländern wie Griechenland und Italien abgefangen und von dort aus möglichst schnell abgeschoben wird. Und auf die Geflüchteten, die es doch in die Mitte Europa geschafft hatten, warteten weitere Schikanen, zum Beispiel die Unterbringung in Lagern und das Arbeitsverbot für die ersten Monate. Und dann gab es da noch die lange Zeit gut gelingende Abschottung auf der Wahrnehmungsebene.
Die europäische Gesellschaft hat sich mit einem erschreckend gut funktionierenden System von Wahrnehmungsfiltern umgeben. Nicht nur die Außengrenzen Europas wirkten wie eine Festung. Auch unsere Wahrnehmungsschutzschilde, die unangenehme Wahrheiten von uns fernhalten sollen, waren jahrelang hochgefahren. Unser Wohlbefinden wurde recht gut abgeschottet. Das Leid der Flüchtenden und Geflüchteten, ja die Geflüchteten selbst erschienen größtenteils unsichtbar. Nicht weil eine politische Zensur das so angeordnet hätte, sondern weil die Aufmerksamkeitsökonomie das so regelte – ganz ohne Verschwörung, sondern schlichtweg durch den stummen Zwang der Nachfrage und der Nachrichtenlage. Doch die vielen, die nun die EU-Außengrenze überwunden haben, führen zu einer Sichtbarmachung des Leids und der Verzweiflung. Wobei wir uns keine Illusionen machen sollten. Ein Teil der Fluchtgeschichten wird wohl nicht zu erzählen sein, denn es gibt ein »Elend, das sich der Beschreibung entzieht«.
Flüchtende als Träger einer Botschaft
Zweifelsohne waren die wenigsten der Flüchtenden zu Beginn ihrer Flucht in irgendwelchen politischen Netzwerken organisiert. Wohl kaum einer verstand seine Flucht als Politaktion. Kaum eine plante, sich in Lebensgefahr zu begeben, um damit ein politisches Statement abzugeben. Doch all die vielen persönlichen Motive, Nöte, Ängste und Hoffnungen der Flüchtenden sowie ihr spontanes Begehren verdichten sich immer wieder zu einem kollektiven Akt. Sie treten heraus aus der Unsichtbarkeit. »Der Zaun, der Europa nach außen abschirmt, und die bürokratischen Mauern, die seine inneren Grenzen bestimmen, wurden von den Flüchtenden überwunden – und das nicht nur symbolisch.« Mit der neuen Sichtbarkeit der Flüchtlinge werden auch einige ihrer Lebensgeschichten deutlich, und viele dieser Geschichten sind verflochten mit einer größeren Geschichte: der Geschichte der globalen Ungerechtigkeit. Die einzelnen Fluchtbewegungen wurden zu einer größeren Migrationsbewegung, die etwas in Europa in Bewegung setzt. Denn diese Migrationsbewegung hat die Abgrenzungen, auf denen das weltweite Ausbeutungsgefälle basiert, durchkreuzt und damit das vermeintlich Unverrückbare unterlaufen. Sie macht deutlich: So, wie es ist, wird es, ja, kann es nicht bleiben. Statt der Verwaltung des Mangels, als die uns Politik in den letzten Jahrzehnten verkauft wurde, steht damit eine Politik der Veränderung ganz oben auf der Tagesordnung.
Unsere Welt befindet sich im Wandel, und die Flüchtenden sind Boten dieses Wandels. Doch die Politik in Deutschland und in Europa ist unfähig, angemessen darauf zu reagieren. Politiker*innen der verschiedenen Parteien verwenden Sprechzettel, die oft so klingen, als hätten sie einfach die Skripte von vor zwanzig Jahren wieder aus der Schublade geholt. Das Auftreten des CSU-Generalsekretärs Andreas Scheuer erinnert in erschreckender Art an das Agieren eines früheren CDU-Generalsekretärs – namentlich Volker Rühe. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel versucht, die SPD mehr oder weniger rechts von Angela Merkel zu platzieren. Oskar Lafontaine wiegt Familiennachzug und das Recht auf Asyl gegeneinander ab. Auch das erinnert in gewisser Weise an die frühen 1990er Jahre, als die SPD den sogenannten Asylkompromiss mitgetragen hat.
Auch ein Teil der Grünen macht mit bei Abschottung und Beschwörung der Ängste. Sie inszenieren sich als pragmatische »Macher«, die ihre humanistischen Ideale nicht vergessen haben, aber gleichwohl versuchen müssen, diese in einer Welt, die leider (und mysteriöserweise) voll von ökonomischen und geostrategischen Zwängen ist, unbürokratisch umzusetzen. Resultat ist die Zustimmung zu neuen Abschottungsversuchen. Ein zeitgemäßer Umgang mit den anstehenden Herausforderungen sieht anders aus. (Wie, das werde ich in den folgenden Kapiteln ausführen.) Viele Linke setzen dagegen auf die Losung: »Refugees Welcome!« Ich selbst verwende diesen Slogan oft und bin überzeugt, dass er als bewusst antirassistisches Statement wichtig und richtig ist. Jedoch bleibt dieser Satz sprachlos bezüglich der den Flüchtlingsbewegungen zugrunde liegenden Ursachen.
Nötig ist jetzt ein tiefgreifendes Verstehen der Botschaft, die die vielen, die aufbrechen (müssen), uns überbringen. Dazu gehört, sich Folgendes klarzumachen: Die hohe Zahl der Geflüchteten ist nicht einfach ein unglücklicher Zufall, sondern hat Ursachen. Im Kern verweisen die Migrationsbewegungen nach Europa auf ein grundlegenderes Problem: auf die Ungerechtigkeit unserer Weltwirtschaftsordnung. Ein Problem, das nicht zuletzt auch unser Problem ist. Die vielen, die in großer Not die Grenzen überwinden, führen uns die Begrenztheit der kapitalistischen Ordnung heute vor Augen. Nun würde es womöglich zu weit führen, die Geflüchteten als das neue revolutionäre Subjekt, wenn auch wider Willen, zu bezeichnen. Aber ganz sicher setzen sie die Verteilungsfrage im globalen Maßstab auf die Agenda. Der Slogan der Refugee-Bewegung »Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört« drückt genau diese Einsicht aus. Flucht ist oft eine Reaktion auf die breite Ausbeutung und Verwüstung ganzer Landstriche im globalen Süden.
Wenn im Folgenden unsere Art zu handeln und zu wirtschaften kritisch beleuchtet wird, so geht es dabei nicht um individuelle Schuld eines jeden einzelnen von uns. Jedoch gibt es so etwas wie eine kollektive Verantwortung dafür, dass Ausbeutung und Umweltverschmutzung nicht so fortgeführt werden wie bisher. Dieser Verantwortung, die Fluchtursachen abzubauen, anstatt weiter neue zu produzieren, müssen wir uns stellen. Das erfordert, unter anderem die Handelspolitik grundlegend umzustellen.
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