Anfang vom Ende

Leseprobe "Ostdeutschland wurde zum Testgelände für Lohndumping, die Verringerung sozialer Errungenschaften, die Umschiffung tarifvertraglicher Regelungen und die Erprobung neuer Sozialverhältnisse."
Anfang vom Ende

Foto: Pedro Nunes/AFP/Getty Images

Teil 2 – Europa im Morast

1. Niedriglohnland Deutschland

"Ohne Würde ist man kein Mensch. Ich sehe zu viele Landsleute, die ihre Würde verloren haben. Sie leisten schwere Arbeit oder sehr nützliche Arbeit, doch sie finden dafür keine Anerkennung. Man gibt ihnen das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören. Dies gilt nicht nur für Arbeiter, die schmutzige Arbeit in Fabriken verrichten, sondern auch für Erzieher in Kindergärten. Noch nie hatten so viele Deutsche psychische Probleme. Es werden schon Stimmen laut, sie wegzustecken in spezielle Kliniken. Ein Vater, der bloß sechs Euro pro Stunde verdient, kann nicht einmal mit Sohn oder Tochter in die Ferien fahren. Welches Bild bekommt ein solches Kind von seinen Eltern?"

Günter Wallraff


Dienstag, 31. Mai 2011. Es regnet in Houthalen-Helchteren. Draußen sind es 14 Grad, viel zu kalt für die Jahreszeit. Im Restaurant De Barrier auf der grote Baan schieben bei einem Geschäftsessen für rund 100 Euro 160 Unternehmer die Beine unter den Tisch. Ein gemeinsames Mittagessen mit Flanderns neuem Gott: Bart De Wever. »Mit einer flämischen Front sollte es möglich sein, Reformen nach deutschem Modell durchzudrücken«, sagt De Wever. Die Unternehmer im Restaurant nicken zustimmend.

Und der Redner ruft kampflustig in die Runde: »Die sozialen Reformen in Deutschland waren hart, doch sie werfen Früchte ab. Das muss auch hier bei uns passieren: Einsparungen und strukturelle Reformen! Die Französischsprachigen wollen das nicht – aus Angst vor einem sozialen Blutbad. Also müssen wir eine flämische Front bilden! Zusammen mit den Parteien, die sich uns mit Eifer und Begeisterung anschließen wollen!« Bart De Wever als Herold für das deutsche Wirtschaftswunder. Ausfahrt krise? Auffahrt Deutschland! Der neue Hype für alle freien Märkte. »Das Vorbild liegt im Osten, im nahen Osten, genauer gesagt: in Deutschland«, posaunt die Schlagzeile des Standaard. Und darunter steht: »Es ist ein bisschen wie Fußball: ein einfaches Spiel, elf gegen elf ... und am Ende gewinnen die Deutschen. Kann Belgien daraus etwas lernen?«

Testgelände für Lohn- und Sozialdumping: die Ossis

Am 14. September 2010 strahlte das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) eine Reportage über wirtschaftliche Aspekte der Wiedervereinigung Deutschlands aus: "Beutezug Ost. Die Treuhand und die Abwicklung der DDR". Gespannt auf der Vorderkante meines Sessels kauernd, verfolgte ich die Dokumentation, die ein wesentlich differenzierteres Bild der Wirtschaft der vormaligen DDR präsentierte als bloß graue, verfallene Fabriken.

Natürlich wurden auch alte Industriebetriebe gezeigt, wie wir sie von Bildern her kannten, doch da war auch eine moderne industrie, von der wir überhaupt nichts wussten. Und da waren die ostdeutschen Staatsbanken, die im Zuge der Annexion von 1990 weit unter Wert von westdeutschen Privatbanken aufgekauft wurden. Fünf Jahre später stellte der Bundesrechnungshof der vereinten Republik fest, dass jene Bankenprivatisierung den wirtschaftlichen Aufbauprozess in den neuen Bundesländern »wesentlich beeinträchtigte«.

Die ZDF-Reportage enthüllte die Bilanz der Konkursverwaltungsgesellschaft, die den Namen »Treuhand« trug: dem Wortsinn zufolge jemand, der ein Eigentum getreu dem Nutzen eines Eigentümers verwaltet. Es wurde jedoch nicht »verwaltet«, sondern es wurde »marodiert«. Es war ein Beutezug. »Die DDR war überhaupt nicht wirtschaftlich bankrott. Erst mit der Einführung der D-Mark zu einem vollkommen irrealen Wechselkurs gingen wir bankrott«, sagt Edgard Most, ehemaliger Top-Bankier bei der Ostdeutschen Staatsbank, der dann zur Deutschen Bank wechselte. Als die Treuhand ihre Aktivitäten 1994 beendete, waren Tausende öffentliche Unternehmen in private Hände verkauft – und zwar nahezu alle weit unter Wert. Als die Maßnahmen 1990 aufgenommen wurden, arbeiteten vier Millionen Menschen in 12.000 Betrieben unter Treuhankontrolle. Nach nur vier Jahren Arbeit »unseres« André Leysen, führendes Mitglied im Präsidium des Verwaltungsrats der Treuhandanstalt, waren von jenen vier Millionen Menschen nur noch anderthalb Millionen in Arbeit.

In diesen Zeiten eines politisch korrekten rechten Denkens darf ich so etwas eigentlich gar nicht schreiben. Über mafiöse Praktiken bei der Annexion der DDR zu sprechen, das gehört sich einfach nicht. Doch die Wiedervereinigung Deutschlands und die Einführung einer neuen deutschen Wirtschafts- und Währungsunion zum 1. Juli 1990 kennzeichnen nun einmal den Beginn eines Hauens und Stechens nach unten. Im Osten gingen dabei ungefähr 6 Millionen Arbeitsplätze verloren. Bankier Edgard Most kommentiert dazu: »Schauen sie doch auf Görlitz. Oder auf Bautzen. Wunderschöne Städtchen und prachtvoll restauriert. Aber es sind potemkinsche Dörfer, leere Hülsen. Millionen Menschen sind in den vergangenen Jahren weggezogen. In diesem Ausmaß hat man das nirgendwo sonst in der industrialisierten Welt erlebt. Und das kann sich auch kein Land leisten.«

Ostdeutschland wurde zum Testgelände für Lohndumping, die Verringerung sozialer Errungenschaften, die Umschiffung tarifvertraglicher Regelungen und die Erprobung neuer Sozialverhältnisse. Im Osten war alles erlaubt und was nicht funktionierte, wurde einfach den Strukturen der Vergangenheit angelastet. Die Offensive wurde von einer schrillen Mediensymphonie über faule und verwöhnte Ossis begleitet, die es nicht gewohnt seien zu arbeiten. Dieselben Disharmonien klingen nun zwanzig Jahre später wieder durchs Land, diesmal mit Texten gegen die faulen und korrupten Griechen.

Das Testgelände im Osten stach Unternehmern in ganz Deutschland ins Auge. 1993 befand Volkswagen, dass man 30.000 Arbeiter zu viel beschäftigte. Da es eine sehr teure Angelegenheit ist, derart viele Menschen auf die straße zu setzen, dokterte der Personaldirektor Peter Hartz eine Lösung zusammen: Arbeitszeitreduzierung mit Lohnverlust. Volkswagens Autobauer mussten auf fast ein Fünftel des Gehalts verzichten, genau gesagt auf 17,9 Prozent. Volkswagens großer Boss, der steinreiche Herr Ferdinand Piëch, verzichtete hingegen auf nichts. Als Enkel von Ferdinand Porsche, des Gründers von Volkswagen, erbte Piëch die Firma. An der Aktion seines Personalchefs von 1993 verdiente er das Sümmchen von einer Milliarde Euro. Und doch verloren letztendlich 32.000 VW-Arbeiter den Arbeitsplatz.

Damit begann eine umfassende Attacke der deutschen Arbeitgeber auf die Arbeitsverhältnisse. Ab 1996 lautete ihre zentrale Parole »einfrieren der Löhne«. Wenig später wurde die Attacke auch auf politischer Seite geritten. Ihres Kanzlers Helmut Kohl gehörig überdrüssig, wählten die deutschen Wähler im Jahre 1998 die Sozialdemokraten an die Macht. Gerhard Schröders rot-grüne Koalition wünschte einen Arbeitsmarkt mit weniger Regulierungen und weniger Vorschriften. Also Deregulierungen. So sollte es beispielsweise einfacher – sprich: billiger – werden, Menschen auf die Straße zu setzen. Außerdem befand die neue Koalition, dass die Lohnkosten herabgesetzt werden müssten. Überall wurde über zu hohe Arbeitskosten gesprochen: es müsse etwas mit den Beiträgen geschehen, die die Arbeitgeber als Teil der Löhne an die Kassen für soziale Sicherheiten abzuführen haben. Derartige Beiträge seien zu senken. Doch in diesem Punkt blieben die Gewerkschaften standhaft, und die Verhandlungen scheiterten.

Doch damit war der Kuchen längst nicht gegessen. Rot-grün war fest entschlossen, den deutschen Arbeitsmarkt gründlich zu reformieren. Der »Genosse der Bosse« und sein Dritter Weg kurz vor der Jahrhundertwende, bevor sich ein vorangegangenes Millenium im mythischen Jahr 2000 auflöst, sprudelt ein wahrhaft trunkenes Empfinden von New Age durchs Land: ein neuer Frühling, eine neue Zeit! Modernität! Auch die Sozialdemokraten tauchen in den Zeitgeist ein. Für sie folgt nun: die neue Mitte. Der Dritte Weg. Die Mitte zwischen was? Zwischen Liberalismus und Sozialismus, so sehen sie es. Gerhard Schröder gibt sich enthusiastisch und hält seine Begeisterung für diesen neuen Kurs gemeinsam mit dem anderen Modernisten der Sozialdemokratie, Tony Blair von der anderen Seite des Ärmelkanals, auf Papier fest.

Ihr Manifest trägt den deutschen Titel: "Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten" und erscheint im Juni des Jahres 1999. Im ersten Satz des Manifests geht es nicht um ein Gespenst, das in Europa umgeht, sondern er lautet: »In fast allen Ländern der europäischen Union regieren Sozialdemokraten.« Und weiter heißt es im Text: »Die Sozialdemokratie hat neue Zustimmung gefunden – aber nur, weil sie glaubwürdig begonnen hat, auf der Basis ihrer alten Werte ihre Zukunftsentwürfe zu erneuern und ihre Konzepte zu modernisieren.« Die Sozialdemokratie will sich modernisieren und glaubwürdig sein! Modern für wen? Glaubwürdig für wen? Akzeptiert von wem? Das sind Fragen, die sich nicht mehr stellen. Vor der Aktion »glaubwürdige Modernisierung« richtet Gerhard Schröder einen Appell an seine Freunde. Nicht an diejenigen aus der Gewerkschaft. Auch nicht an diejenigen aus akademischen Kreisen. Und auch nicht an diejenigen aus der progressiven oder demokratischen Welt. Nein, an diejenigen aus der Welt der Unternehmer.

Er spricht seinen persönlichen Freund Peter Hartz an, den wir bereits als famosen Personaldirektor bei Volkswagen kennen. Manche kennen ihn besser als Organisator von Amüsementreisen bei Volkswagen, Callgirls inbegriffen. Am Vorabend der Neuwahlen des Jahres 2002 bittet Schröder seinen Freund Hartz, eine Kommission zur Reform des Arbeitsmarkts auf die Beine zu stellen. Und Hartz macht sich an die Arbeit und entwirft mit seiner Kommission die folgenden Schlachtpläne: erleichterte Entlassungen, Senkung der Sozialversicherungsbeiträge im Niedriglohnsektor, zeitliche Kürzungen des Bezugs von Arbeitslosengeld, Verpflichtung von Arbeitslosen zur Annahme jedes Jobs in ganz Deutschland, Förderung von Zeitarbeit ...

Diese ganze Modernisierung platzierte eine Bombe unter das Konzept »Arbeit haben«. Es verschob sich vom »Arbeitsplatz« zum »Job«. Keine festen Verträge mehr. Keine festen Arbeitszeiten mehr. Keine ausreichenden Löhne mehr, um einigermaßen zurechtzukommen. Schon bald trägt Schröder den Spitznamen: »Genosse der Bosse«. Damit bringt der Volksmund klar zum Ausdruck, für wen diese moderne Sozialdemokratie glaubwürdig und akzeptabel herüberkommt.

[...]

09.04.2015, 13:22

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