Paul & Jelena I: Willst du mit mir gehen?
In ihrer ersten gemeinsamen Nacht ist Paul seit drei Wochen solo, seine Freundin hat ihn verlassen, er ist »deprimiert und untervögelt«. Er will Jelena aufreißen, mit der »asozialen Nummer«. Hält sie fest. Trinkt aus ihrem Glas. Erzählt, wie gut er im Bett ist. Sie, rot gefärbte Haare, rote Fingernägel, findet das: »Geil. Endlich mal ein Arsch.«
Dass er gar keiner ist, eher das Gegenteil? »Habe ich irgendwann später rausgefunden.« Lange nach dem Bauwagen, hinter dem sie zum ersten Mal Sex haben.
»Der lag auf dem Weg«, sagt sie. »Ist doch spannend!«
Am nächsten Morgen muss sie früh raus. Arbeiten. Behindertenbetreuung. Und abends zu Subway, Sandwiches schmieren. Das erzählt sie ihm. Also sucht er den Laden, schaut erst im falschen. Dann findet er sie, kurz vor Feierabend. Hilft ihr beim Aufräumen. Bis ein Punk mit schwarzen Haaren vor dem Fenster steht, böse schaut.»Das war mein damaliger Freund.« Zwei Jahre ist Jelena mit ihm zusammen. Paul ist ihr zweiter »Ausrutscher«. Sie spürt, dass es zu Ende ist. Also sagt sie zu Paul: »Du gehst jetzt sofort hinten raus. Und wartest da.« Sie schickt den anderen weg. Dann gehen Paul und Jelena trinken. Dann gehen sie heim.
Und so beginnt es.
Sie können kaum voneinander lassen. Drei-, viermal am Tag fallen sie übereinander her. »Es war total geil, ich hatte überall blaue Flecken«, sagt sie.
Die körperliche Anziehungskraft wirft sie fast um. Sie spüren den reinen, puren Trieb. Die unbedingte Lust, einander anzufassen, zu riechen und zu schmecken, miteinander eins zu sein. Und noch etwas anderes: eine Magie, nicht von dieser Welt. »Das bisschen Feinstaub, den es eben braucht, um sich bedingungslos ineinander zu stürzen«, sagt Paul. Sie empfinden, was Menschen seit Jahrtausenden dazu gebracht hat, alles andere zu vergessen.
Was ist noch Sex, was ist schon mehr? Wie soll man es nennen? Ist das nicht völlig egal, wenn nur der andere zählt? Wenn man kaum zum Essen kommt, weil der Mund nur noch küssen will?
Paul fliegt für vier Wochen nach Bali. Und stellt ihr ein Ultimatum. »Wenn ich wiederkomme, will ich wissen, wo das hinführt.« Er ist mit dem Ideal der großen Liebe aufgewachsen. »Man muss denken: Das ist für immer. Egal, was kommt. Und alles investieren.« Wie auf den Zetteln in der Schule: »Willst du mit mir gehen? Ja oder nein.«
Er lächelt.
»Das Vielleicht gab es damals noch nicht.«
Auf Bali hat er was mit einer Fremden. Aber als er nach München zurückkommt, will er die Entscheidung. Am Tag vor seiner Ankunft bekommt sie Panik.»Also habe ich nachts um zwölf einen Typen angerufen und ihn an der Isar getroffen. Einmal noch einen anderen, dachte ich.«
Als sie sich am nächsten Tag wiedersehen, auf einer Brücke, scheint die Sonne. Beide sind aufgeregt. »Dieses kleine wilde Ding, da kann alles passieren«, denkt er. Dann küsst er sie einfach.
»Wir waren verliebt«, sagt sie.
Es beginnt ihre große Zeit, ein endloser Sommer. Paul studiert ein bisschen Soziologie. Arbeitet hinter der Bar. Lebt vor der Bar. Er kennt die halbe Stadt. Und die andere Hälfte würde ihn gern kennen. Sie gehen aus, liegen am Fluss, lesen sich gegenseitig Artikel aus der Zeitung vor. Ein Dream-Team.
Der erste Mann neben Paul kommt im Herbst. Er ist Fitnesstrainer und DJ. »Ich bin in seinem VW-Bus eingepennt und nicht nach Hause gekommen«, sagt sie. »Aber ich kann nicht lügen.«
Als sie Paul davon erzählt, weinen beide.
»Wie konntest du?«, schreit er.
Paul will sie eine Woche lang nicht sehen. Jelena kann eine Woche nichts mehr essen.
Als sie sich wiedertreffen, liegen sie sich in den Armen. Und beschließen: Das kann es doch nicht gewesen sein. Wir gehören zusammen. Egal, was passiert.
»Was man halt so macht«, sagt Paul heute. »Die komplette Leier: Kann ich dir noch mal vertrauen? Wollen wir deswegen alles aufs Spiel setzen?«
Er ist verletzt, er rächt sich, mit einer anderen, »die hatte das Dekolleté tätowiert«.
Sie verzeihen einander. Warum auch nicht? Fremdgehen ist nichts Besonderes. Irgendwann, kann man meinen, irgendwann betrügen sich doch alle. Weil die Beziehung zu eng ist. Oder nicht eng genug. Irgendein Grund findet sich immer. Weil es 1000 Gründe gibt, fremdzugehen. Und nur einen, treu zu bleiben.
»Der weit verbreitete Seitensprung, diese tausende Jahre alte Institution«, findet Paul, »ist doch der Beweis, dass etwas mit dem klassischen Beziehungsmodell nicht stimmt.«
Wirklich? Viele Paare leben es vor: Einmal ist keinmal. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Was uns nicht umbringt, härtet uns ab. Und immer so weiter. Paul und Jelena fragen sich: Welche Beziehung funktioniert schon ohne jede Lüge? Was ist ein bisschen Sex gegen vierzig Jahre eines gemeinsamen Lebens? Und was ist Sex heute überhaupt? Sind wir wirklich frei?