Einleitung
Mit militanten Rechtsextremisten Strongbow zu trinken, ist nicht unbedingt meine Vorstellung von einem ungezwungenen Samstagvormittag. Und mit islamistischen Extremisten über ein Kalifat im Vereinigten Königreich zu diskutieren, ist auch nicht gerade ein normaler Samstagabend. Nichtsdestotrotz brach ich am 5. November 2016 mit meiner Routine und tauchte innerhalb von nur 20 Stunden in zwei radikal entgegengesetzte extremistische Welten ein, von denen mir bald klar werden sollte, dass es sich um zwei Seiten derselben Medaille handelte.
Als ich mit meinen Forschungen über Extremismus begann, war mir nicht bewusst, wie voreingenommen ich war. Ich wuchs ohne materielle Sorgen in Österreich auf, studierte im Ausland und las die New York Times. Niemals bezweifelte ich die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte, die Unverzichtbarkeit der Demokratie und die Vorteile kultureller Vielfalt. Als ehemalige Mitarbeiterin bei der in London beheimateten Quilliam Foundation, einer Organisation, deren Ziel die Bekämpfung des Extremismus ist, verbrachte ich meine Tage damit, mich intensiv mit dem Thema Radikalisierung zu beschäftigen. Und doch versagte ich kläglich, als ich zum ersten Mal versuchte, mich in die Lage von Extremisten zu versetzen, und zwar bei Rechtsextremisten und Islamisten gleichermaßen. Im Rahmen dieser Forschungen kam ich ständig mit Leuten in Berührung, mit denen ich normalerweise nie ein Wort gewechselt hätte, und hörte Geschichten, die ich andernfalls nie gehört hätte. Durch meine Arbeit wurde mir klar, dass ich anders gedacht, gehandelt und reagiert hätte, wenn man mich ein anderes Narrativ gelehrt hätte. Die Geschichten, die man uns erzählt, bestimmen, wie wir unsere Weltbilder konstruieren.
Der erste Schritt zur Bekämpfung des Extremismus besteht darin, den Geschichten von Extremisten zuzuhören. Natürlich geschieht das am besten von innen heraus – dort, wo die Gespräche unzensiert stattfinden. Genau aus diesem Grund beschloss ich, verdeckt zu arbeiten. Zufällig organisierten am Samstag, den 5. November 2016, sowohl die rechtsextreme English Defence League (EDL) als auch die islamistische Organisation Hizb ut-Tahrir („Partei der Befreiung“) Veranstaltungen.
Extremistische Gruppen von innen
Die Facebook-Seite der EDL hatte einen landesweiten Protest gegen „muslimische Grooming-Gangs“* in der englischen Stadt Telford angekündigt. Als der Sunday Mirror1 die Stadt als „Hauptstadt des sexuellen Missbrauchs von Kindern“ titulierte, tat er rechten Gruppen einen Gefallen. Da die Angehörigen dieser Gang pakistanischer Herkunft waren, beeilte sich die EDL, dem Etikett ein „Islamisch“ hinzuzufügen. Der Protest richtete sich nicht nur gegen die „Telforder Kinder-Missbrauchs-Gang“, er richtete sich auch gegen die „Vertuschung durch Offizielle und Kirchen“ sowie die „Islamisierung im Vereinigten Königreich“.2
Ich bin nicht der einzige Mensch, der an diesem kühlen Guy-Fawkes*-Morgen am Bahnhof von Telford den Zug verlässt. Viele der aussteigenden Fahrgäste tragen auf ihren Pullovern mit EDL-Logo Mohnblumen, die traditionell am 11. November, dem britischen Volkstrauertag zum Gedenken an die Opfer der beiden Weltkriege, getragen werden. Fahnen mit Georgskreuzen und Bier gehen von Hand zu Hand, und es liegt eine aufgeregte Atmosphäre in der Luft. „Willkommen in der islamischen Kindervergewaltiger-Hauptstadt“, sagt ein Mann mit grimmiger Stimme. Alle scheinen einander zu kennen und identifizieren mich augenblicklich als Außenseiterin. Aber letztendlich siegt die Neugier über das Misstrauen, und sie erkundigen sich. „Sind Sie auch wegen dem Protest hier?“, fragt einer der Männer. Er ist etwa Ende vierzig, und Tattoos zieren jeden Zentimeter seiner Haut, der nicht von Jeans, T-Shirt und Lederjacke bedeckt ist. Ich nicke. Streng genommen lüge ich nicht; ich bin tatsächlich wegen des Protests hergekommen. Er sieht mich merkwürdig an.
„Sind Sie überrascht?“, frage ich.
„Sie sind keine Engländerin, oder?“, erwidert er. Seine Alkoholfahne betäubt mich kurz; schließlich ist es erst elf Uhr morgens.
„Nein, Österreicherin.“ Sein gezwungenes Lächeln zeigt an, dass er nicht überzeugt ist.
„Wo wohnen Sie?“
„London“, erwidere ich.
„Sie sind deswegen den ganzen Weg hier rauf gekommen?“
„Danny, es ist ein landesweiter Protest“, wirft sein Freund ein.
„Ist das Ihr erster?“
„Ja.“
Danny wirkt belustigt. „Oh, keine Sorge, Schätzchen – dann werden wir uns um Sie kümmern.“ Solange ich nicht als Spionin enttarnt werde, nehme ich an.
„Wie oft waren Sie schon auf diesen … Protesten?“ Ich achte darauf, ihr Vokabular zu benutzen.
„Ach, ich hab’ aufgehört zu zählen.“
Wir gehen ins Stadtzentrum, wo die Sicherheitsvorkehrungen offenbar erhöht worden sind. Polizeibeamte aus dem ganzen Land sind im Einsatz; einer von ihnen erzählt mir später, er sei den ganzen Weg aus Südwales gekommen.
Danny berichtet mir von der Frühzeit der EDL. Er war einer ihrer ersten Anhänger, als die Mitgliederzahlen sich noch in den Zehntausendern bewegten.3 Er holt sein Handy raus und fängt an, einen EDL-Song abzuspielen. „I’m here to protest, right, ’cos I’m going an a march ’cos I want Britain to be about British. I want Britain to be about British.“
Ich hole tief Luft. Spielt er diesen Song tatsächlich einer Österreicherin vor, die in Großbritannien lebt?
„Wir haben ein gemischtrassiges Recht und die muslimischen Ungläubigen; sie versuchen, unserem Land ihr Recht überzustülpen.“ Er wartet auf meine Reaktion.
„Ach so“, antworte ich, nicht ganz sicher, was ich tun oder sagen soll. „Werden Sie den auf dem Marsch abspielen?“
„Ja.“ Er schließt die Augen, scheinbar wie in einem melancholischen Tagtraum. „Na ja, es ist ziemlich anders geworden im Lauf der Jahre. Am Anfang waren es immer viel mehr, aber jetzt sind es nicht mehr so viele.“ Ich bin mir nicht sicher, ob er Veranstaltungen oder Leute meint. Vermutlich beides.
Die Polizisten folgen uns noch immer – auf Pferden, in Autos, zu Fuß.
„Na ja, das Ganze kann in Gewalt ausarten.“ Es war eher eine Feststellung als eine Drohung, obwohl meine Angst vor dieser Gewalt dadurch keineswegs kleiner wurde. Ich glaube ihm. Er hat starke Blutergüsse unter den Augen, und ihm fehlen ein paar Zähne.
Wir bleiben vor einem Café stehen. Zuerst nehme ich an, dass wir jetzt frühstücken gehen, meine Stimmung hellt sich auf; bei einem morgendlichen Cappuccino käme man sich wenigstens einigermaßen normal vor. Aber die Bierdosen, die von den EDL-Mitgliedern in großen Zügen geleert werden, machen dieser Aussicht rasch ein Ende. Danny begrüßt mehrere Männer, offenbar Freunde, die er seit einiger Zeit nicht gesehen hat. „Habt ihr schon gehört, George ist im Gefängnis?“, fragt er sie. Einige sind zu sehr damit beschäftigt, mich anzustarren, um mitzubekommen, was er sagt. „Oh, das ist Julia.“ Er tätschelt mir die Schulter. „Es ist ihr erstes Mal. Wir müssen ein bisschen auf sie Acht geben.“ Wir haben noch eine Stunde, bis der Marsch anfängt. „Kommen Sie mit in den Pub?“, fragt Danny. „Ich geb’ einen aus!“ Ich lehne höflich ab und setze mich stattdessen draußen auf eine Bank neben eine junge Frau, die leicht gelangweilt wirkt.
Sarah hat ein schmales Gesicht mit einer schmalen Nase und noch schmaleren Augenbrauen. Ihre Haare sind rot gefärbt, aber ihr Haaransatz zeigt, dass ihre natürliche Haarfarbe hellbraun ist. „Willst ’n Strongbow?“, fragt sie.
„Klar“, sage ich. Ein Cider mit einer Frau, die diese kunterbunte Ansammlung von Männern völlig kalt lässt, erscheint mir passend. Ich nehme mir eine Dose.
„Die Polizei hat uns gezwungen, die Fragezeichen abzureißen.“ Sie deutet auf einen kleinen Papierhaufen. Tatsächlich hat jeder einzelne von den Handzetteln einen abgerissenen Rand. Die Frage oben auf dem Blatt „Islam – eine friedliche Religion?“ liest sich jetzt wie eine Feststellung. Aber darunter zitiert das Blatt zwölf Koranverse, die Aufrufe zu gewaltsamem Handeln enthalten. Allerdings handelt es sich um unvollständige Verse, die aus dem Zusammenhang gerissen wurden. Selbst die radikalsten englischen Übersetzungen des Koran durch Salafisten enthalten nicht Passagen wie die folgenden: „Terrorisiert und köpft diejenigen, die an andere Schriften als den Koran glauben“ oder „Die Ungläubigen sind dumm“.
„Du kannst einen behalten“, sagt sie. Ich nehme einen Handzettel und hoffe, dass später niemand einen Blick in meine Tasche wirft.
„Wie bist du dazu gestoßen?“, frage ich Sarah. Sie räumt ein, dass sie anfangs nicht gewusst habe, wie sie es angehen sollte, obwohl sie der EDL seit Langem in den Sozialen Medien gefolgt sei. „Und dann lernte mein Freund Luke kennen, der uns mit all den anderen bekannt machte.“ Sie steht auf. „Paul!“ Ein attraktiver Mann in etwas, das aussieht wie ein Schlafanzug mit EDL-Logo, taucht auf, kommt zu uns rüber und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. „Wir haben eine sechs Monate alte Tochter. Wir sind hier, weil wir wollen, dass unsere Mia in einer besseren Welt aufwächst, stimmt’s, Paul? Ich möchte nicht Angst haben, dass sie auf der Straße vergewaltigt wird. Ich möchte nicht, dass sie eines Tages ohne Arbeit dasteht.“ In Ermangelung tröstender Worte verlege ich mich darauf, meinen Cider hinunterzukippen. „Wir können nicht weiter so tun, als wäre alles in Ordnung, wenn es das so offenkundig nicht ist. Allerdings müssen wir jetzt vorsichtig sein. Die Polizei kennt Paul.“ Auch die meisten ihrer Freunde engagieren sich für die EDL. „Es ist wie eine Familie – wir schützen einander“, sagt sie.
„Schützen wovor …?“, frage ich.
„Nun ja, nicht wir sind die Aggressiven, sondern die Linken und die Muslime – die fangen den Streit immer an.“ Im Hintergrund höre ich sie skandieren: ‚Muslimische Penisse – verschwindet von unseren Straßen.‘“
„Ich nehm noch eins, ja?“ Ein Typ in mittlerem Alter setzt sich an unseren Tisch und öffnet sein Strongbow. „Hi, ich bin Sam.“ Er beugt sich über den Tisch, um mir die Hand zu schütteln. Sam hat ein freundliches Lächeln, auch wenn ihm einige Zähne fehlen. Es dauert nicht lange, bis er mir seine Geschichte erzählt. „Ich war früher Wachmann auf dem Flughafen Gatwick, sodass ich anfangs nicht jedem erzählen konnte, dass ich der League beigetreten bin, weil sie einen sonst vielleicht für einen Rassisten halten. Man muss aufpassen, mit wem man gesehen wird.“ Stolz entfaltet er eine EDL-Fahne, den Moment sichtlich genießend.
Sam ist fest davon überzeugt, dass es „einen gemäßigten Muslim nicht gibt“. Für ihn sind alle Muslime gleich. Er glaubt, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Gemäßigten sich dem Extremismus zuwenden würden. Sein Fazit lautet, dass „man niemandem trauen kann, der sich dieser Religion anschließt, weil sie niemals ‚Nein‘ sagen würden, wenn ein Extremist sie um Hilfe bittet“. Genauso würde man doch alles für seine militanten Kumpels hier tun, wenn sie einen darum bitten? Doch ich stelle diese Frage nicht; ganz so mutig hat der Cider mich noch nicht gemacht. Stattdessen höre ich mir seine Analyse der politischen Dynamik im Nahen Osten an. Seine detaillierten historischen Kenntnisse überraschen mich. Wie naiv war ich anzunehmen, dass alle von der EDL ignorante, uninformierte Schlägertypen sind?
Als einer seiner Freunde sich neben ihn setzt, fällt Sam plötzlich etwas völlig anderes ein, und er fängt an, von einem Halal-Metzger in Bradford zu erzählen: „Und er bedient keine Nicht-Muslime.“ Das war nicht seine einzige Sorge: „Sie wohnen in unseren Häusern, vergewaltigen unsere Frauen, es ist ein schleichender Prozess, aber sie übernehmen langsam alles, was uns kostbar ist.“ Ich kann seine Verzweiflung spüren; er fühlt sich machtlos. „Die Politiker hören nicht zu. Sie halten uns für extrem und nennen uns Rassisten.“
„Was ist dann die Lösung?“, frage ich, ohne selbst eine Antwort zu haben. „Vielleicht müssen wir alles atomar zerstören und wieder ganz von vorne anfangen.“
Sein Freund lacht. Ich huste und spucke Cider über meine Hose. Sam steht sofort auf, um eine Serviette zu holen, und bietet an, mir seinen Schal zu leihen, falls mir kalt wird.
„Liberalismus und Toleranz funktionieren nicht, das haben wir gesehen. Die einzige Lösung ist Krieg“, fügt er hinzu, während er sich wieder hinsetzt. Anscheinend teilt er das apokalyptische Weltbild genau jener Leute, die er für jeden Missstand in der britischen Gesellschaft verantwortlich macht. Als ich zynisch eine Augenbraue hochziehe, überkommt ihn ein Moment der Schwäche. „Vielleicht lässt sich Extremismus nur mit Extremismus bekämpfen“, stößt er beinahe im Flüsterton hervor.
Die Demonstration beginnt, und mit jedem Meter, den sie sich vorwärts bewegt, werden die wütenden Gesänge der Menge lauter. Das freundliche Geplauder und herzliche Lächeln vor dem Café wirken jetzt beinahe surreal. Es ist, als ob Wut alle anderen Gefühlsregungen ausgelöscht hätte. Ich halte mich im Hintergrund, fern von den Kameras. Ein Mitarbeiterin von Quilliam, ertappt inmitten von anti-islamischen Transparenten, Kreuzen und britischen Fahnen, das gäbe eine gute Schlagzeile ab. Als ich mich stattdessen unter die Journalisten mische, begegne ich Sams enttäuschtem Blick. „Komm schon, die ist eine von denen“, höre ich einen seiner Freunde sagen, bevor er mir einen bösen Blick zuwirft. Um nicht ein Zugabteil mit ihnen teilen zu müssen, verlasse ich die Demo frühzeitig. Ich fühle mich schuldig und bin verwirrt: Darauf war ich nicht darauf gefasst gewesen, einen fürsorglichen Trinkgenossen, eine liebevolle Mutter und einen belesenen Intellektuellen auf der Demo zu treffen. Was hat sie zu Unterstützern einer der extremsten antimuslimischen Hassgruppen Großbritanniens gemacht? Wieso hat sich so viel Wut in ihnen angestaut?
Im Zug fange ich an, das politische Handbuch der Hizb ut-Tahrir, From Darkness into Light4, zu lesen, und versuche, mir einen Reim auf Kapitel 4 („Die Feinde des Islam“) zu machen, während mir noch der Kopf dröhnt von dem EDL-Gegröle. Als ich aus dem Zug steige, geht mir der Koran-Vers „Die Spötter erhielten die vernichtende Strafe, die ihnen für ihren Spott prophezeit worden war“* nicht mehr aus dem Sinn.
Bei der Hizb ut-Tahrir
Ich treffe kurz vor sieben Uhr abends in der Mile End Road ein. Die Straße ist nur schwach beleuchtet, was mir zum Vorteil gereicht, weil die beiden Männer, die vor dem Eingang stehen, so mein Gesicht nicht erkennen können. „Ich bin wegen der Kaschmir-Veranstaltung hier.“ Sofort lassen sie mich hinein. Ich gehe die Treppe hoch in die erste Etage, in einen großen Konferenzsaal für ungefähr 300 Personen, vorne mit einem Rednerpodium. . Ein Mann steht an der Tür, um die Zuhörer zu begrüßen. Als er mich ansieht, kann ich einen Hauch von Misstrauen spüren. Zum Glück weiß er nicht, dass ich für jemanden gearbeitet habe, den er für einen Verräter hält. Mein Chef, Maajid Nawaz, war einer der wichtigsten Anwerber für Hizb ut-Tahrir, einer globalen islamistischen Organisation. Heute leitet er Quilliam. „Sie müssen da hinübergehen “, sagt er schließlich und deutet auf die hinterste Ecke des Saals: den abgesonderten Frauenbereich.
Ich setzte mich neben eine Gruppe von Frauen mit farbenfrohen Hidschabs, weil sie einen freundlichen Eindruck machen. Eine Frau namens Sana fängt sofort ein Gespräch mit mir an. Sana ist eloquent, belesen und hat einen Abschluss von der Westminster University. Zumindest im Frauenbereich scheint sie alle zu kennen. „Ich komme oft zu diesen Veranstaltungen“, erzählt sie mir. „Was machen Sie in London? Sind Sie Studentin?“
Ich beschließe, nicht zu lügen. „Nein, ich habe mein Studium vor noch nicht allzu langer Zeit abgeschlossen. Jetzt forsche ich zum Aufstieg der extremen Rechten und zu antimuslimischen Hassverbrechen. Ich komme sogar gerade von einer EDL-Demo in Telford.“ Ich fahre fort, bevor sie fragen kann, welcher Forschungseinrichtung ich angehöre.
Es funktioniert. Sana greift das EDL-Thema auf. „Oh, wie heißt noch mal gleich ihr Leiter … Tom … Tommy …“
Ich beschließe, ihr zu helfen. „Tommy Robinson? Er ist nicht mehr ihr Leiter, aber -----“
„Ach, stimmt, er ist jetzt bei Quilliam“, unterbricht sie. Quilliams kurzer Flirt mit Tommy im Jahr 2013 entfachte eine landesweite Kontroverse und sorgte für jede Menge abenteuerliche Gerüchte. Vereinfacht ausgedrückt, schaffte es Quilliam, die EDL zu zerschlagen, was zu einem Mitgliederrückgang von über 25 000 auf lediglich ein paar Hundert führte. Aber es gelang der Organisation nicht, Tommy, der später in seine anti-muslimische Rhetorik zurückfallen sollte, nachdem er ein halbes Jahr im Gefängnis gesessen hatte, zu entradikalisieren.
Ich kann es mir nicht leisten, Sana zu vergraulen, also bleibe ich bei meiner Rolle.
„Interessant“, murmele ich.
Aber das Mädchen neben mir ist neugierig. „Was ist Quilliam?“ Es ist offensichtlich, dass sie zu dieser Veranstaltung mitgeschleppt wurde – sie passt so wenig dazu wie ich, mit ihrem starken Augen-Make-up und dem langen, offenen Haar.
„Die fanatische Lobbygruppe, die dieser Verräter Maajid Nawaz leitet.“ Sana schreit jetzt beinahe. Ich ziehe den Kopf ein, während mehr und mehr Leute eintreffen. Die meisten der 300 Plätze sind inzwischen besetzt. Ich bin froh, als sie auf das Thema EDL zurückkommt. „Rechtsextreme Gruppen wie die EDL sind lediglich Erscheinungsformen des Bösen, das innerhalb unserer Gesellschaft existiert. In gewisser Weise tun sie mir sogar leid.“ Für sie sind die Aktionen der EDL das Produkt umfassenderer Ideen, die von den Medien und Politikern in Umlauf gebracht werden. Sie sind repräsentativ für alles Böse in den westlichen Gesellschaften. „Wir müssen fragen, woher sie ihre Ideen beziehen. Islamfeindliche Hassverbrechen nehmen zu“, sagt sie. „Vor allem Vorfälle in öffentlichen Verkehrsmitteln sind häufiger geworden. Aber wir müssen einfach Geduld haben, am Ende werden es diejenigen sein, die den Propheten verspotten, die in die Schranken gewiesen werden“, sagt sie und schürzt die Lippen.
Als der Vorsitzende der Hizb ut-Tahrir in Großbritannien, Dr. Abdul Wahid, seinen Vortrag beginnt, verstummt der Saal augenblicklich, nur ganz hinten schreit ein Baby. Nachdem er alle Anwesenden begrüßt hat, fängt Dr. Wahid an, über die Unterdrückung der Muslime in Kaschmir zu sprechen. Ich habe ein Déjà-vu-Erlebnis. Als er die Vergewaltigung kaschmirischer Frauen durch Inder erwähnt, erinnert mich das an die Reden, die ich früher an diesem Tag gehört habe. Die Formulierung, die er benutzt, ähnelt der von den EDL-Führern verwendeten: „Vergewaltigungsepidemie“ und „keine Achtung vor Frauen“ sind die wiederkehrenden Ausdrücke. Nach Ansicht von Dr. Wahid ist Kaschmir nur ein Beispiel für die weltweite Unterdrückung der Muslime. Er überlässt es dem nächsten Redner zu erhellen, was er damit meint. Mohammad Atif spricht explizit den Aufstieg der Rechten überall in Europa, den USA und Australien an. „Westliche Länder auf der ganzen Welt stimmen für antimuslimische Politiker“, sagt er. Seine Stimme ist ruhig, aber ich kann seine Erregung spüren, als er über „die globale Diskriminierung von Muslimen“ spricht.
„Frankreich hat Studentinnen verboten, den Hidschab zu tragen, Deutschland hat vor Kurzem den Niqab an Schulen verboten, in den Niederlanden will Geert Wilders den Koran verbieten (seine Partei nennt sich ironischerweise ‚Freiheitspartei‘), in Australien hat die One-Nation-Partei ein Verbot muslimischer Migration gefordert, und, natürlich, vergessen wir nicht den Zirkus, den wir im Augenblick in den USA erleben.“
Im gleichen Atemzug erwähnt er auch die vorbeugende Strategie gegen Extremismus des ehemaligen britischen Premierministers David Cameron, das „Prevent“-Programm, das seiner Ansicht nach nur ein Instrument zur Ausspionierung von Muslimen ist. „Der ganze Liberalismus und die Toleranz, von der sie reden, scheint unsicher und brüchig. Wir haben gesehen, dass es der Demokratie nicht gelingt, die Rechte von Minderheiten zu sichern. Muslime werden im Westen im wahrsten Sinne des Wortes drangsaliert, alles unter dem Deckmantel der Freiheit. Westliche Politiker haben dies geschehen lassen. Was vor 70 Jahren passiert ist, passiert heute wieder. Die Muslime sind die Juden von heute.“
„Träumen wir?“, fragt der nächste Redner, Rizwan Sheikh. „Befreiung, Dschihad – und zwar defensiver Dschihad – ist die einzige Lösung.“ Er erläutert, dass Dschihad bedeute, gegen die Besetzung durch die Kuffār, die Ungläubigen, zu kämpfen und die Welt von Kapitalismus und Kolonialismus zu befreien. „Es gibt kein größeres Übel als diese Zwillingsschwestern.“ Beispielhaft für diesen notwendigen Dschihad sind laut Rizwan die Stammesmilizen, die während des Indisch-Pakistanischen Krieges von 1947/48 Gebiete Kaschmirs befreiten. „Und genau diese Menschen werden heute im ‚Krieg gegen den Terror‘ bombardiert, von dem wir jetzt wissen, dass es ein Krieg gegen den Islam ist.“ Im Lichte dessen, was er den „globalen Krieg gegen den Islam“ nennt, sei es notwendig, dass alle Muslime zu ihrer wahren Identität zurückkehren und sich „als Bruderschaft“ vereinigen, um allen Feinden entgegenzutreten. Laut Hizb ut-Tahrir wird die Befreiung jedoch nur die Hälfte des Problems lösen. Sobald die Länder befreit seien, müsse man ihnen ein System geben. Das für die Zeit nach der Befreiung vorgeschlagene System ist ein Kalifat, welches das Potenzial aller dieser Länder freisetzen werde.
„Wir nehmen nun Fragen aus dem Publikum entgegen“, schließt der Vorsitzende. Frauen fordert er ausdrücklich auf, Fragen schriftlich einzureichen, falls sie es vorziehen, sich nicht vor allen zu äußern. Die Frau neben mir sieht mich erwartungsvoll an. „Möchten Sie eine Frage stellen?“
Ich zögere. Aber sie versteht mein Schweigen als ein „Ja“ und reicht mir ein Blatt Papier. Ich schreibe meine Frage auf und gebe es ihr zurück.
„Sie möchten nicht aufstehen und sie selbst stellen?“
„Ich bin schüchtern.“
Sie nickt, geht zu den Absperrungen, die uns vom Männerbereich trennen, und gibt meinen Zettel vorne ab. Der Vorsitzende räuspert sich, als wolle er Zeit gewinnen, um aus meiner schludrigen Handschrift schlau zu werden. Ich bedauere augenblicklich, nicht lesbarer geschrieben zu haben. Was, wenn er mich nach vorne ruft, um ihm zu helfen, meine Buchstaben zu entziffern? „Was kann man tun gegen den Aufstieg rechter Parteien und antimuslimischen Hass überall auf der Welt?“, sagt er schließlich, die Frage an Mohammad Atif richtend.
Es ist eindrucksvoll zu beobachten, wie Mohammad den aus antimuslimischen Vorfällen resultierenden Unmut geschickt mit dem umfassenderen Scheitern demokratischer und liberaler Systeme und mit der Schlussfolgerung verknüpft, dass die einzige alternative Lösung darin bestehe, ein Kalifat zu errichten. „Ob Modi, Trump oder Wilders – diese Leute haben freie Bahn. Es gibt etwa 60 muslimische Führer weltweit, doch keiner von ihnen hat sich gegen diese Fanatiker ausgesprochen. Es herrscht völliges Schweigen, weil sie die Muslime in Wirklichkeit gar nicht vertreten. Der „Krieg gegen den Terror“, der finanzielle Zusammenbruch und die im Westen ausgelösten schweren wirtschaftlichen Probleme hatten ihre Wurzeln alle im kapitalistischen System. Dieses Problem wird erst gelöst sein, wenn die Umma (die globale islamische Gemeinde) ihren eigenen Staat, ihre eigenen Medien und ihre eigene Außenpolitik hat“, erklärt Mohammad.
„Ich muss gehen“, flüstere ich Sana ins Ohr.
„Okay, Sie sollten zu unseren anderen Veranstaltungen kommen. Und … lassen Sie sich nicht zu sehr auf die EDL ein“, fügt sie augenzwinkernd hinzu.
Als ich die Konferenz verlasse, ist mein Kopf voll von einem seltsamen Mix an Demo-Gesängen der EDL, Zeilen aus dem Koran und Guy-Fawkes-Feuerwerk. Die beiden Exkursionen vom 5. November in die Denkweisen rechter und islamistischer Extremisten sind ein guter Ausgangspunkt, um die Parallelen und die Dynamik zwischen den beiden Gruppen zu untersuchen.
Du hasst mich, und ich hasse dich
Am nächsten Morgen finde ich eine kleine Notiz in meiner Tasche: „Passen Sie auf sich auf, denn wir nähern uns dem Endkampf.“ Die Tinte ist lila, die Handschrift zittrig. Während ich über den Urheber der Notiz spekuliere, wird mir klar, dass sie genauso gut von einem EDL- wie von einem Hizb-ut-Tahrir-Mitglied stammen könnte. Die Rhetorik und der Modus Operandi von EDL und Hizb ut-Tahrir weisen in mancherlei Hinsicht eine verblüffende Ähnlichkeit auf. Beide stacheln zum Hass gegen den anderen auf, der repräsentativ für die Gesellschaft als Ganzes dargestellt wird. Beide Seiten fühlen sich in ihrer kollektiven Identität und Würde angegriffen. Beidewerfen der jeweils anderen Seite mangelnden Respekt ihren Frauen gegenüber vor. Zugleich spielen Frauenfeindlichkeit und veraltete Geschlechtervorstellungen in der islamistischen wie der rechtsextremen Ideologie eine zentrale Rolle. Amerikanische Suprematisten greifen bis heute auf den gewaltigen Vorrat an antifeministischen Memen und sexistischen Witzen der sogenannten Mannosphäre zurück. Derweil kritisierte der IS Hillary Clinton, sie sei eine „Feministin“, und wies warnend darauf hin, dass der Prophet gesagt habe: „Ein Volk, das seine Führung einer Frau anvertraut, wird niemals erfolgreich sein.“5 Auch der Ruf nach Maßnahmen gegen die „faulen, korrupten oder inkompetenten Politiker“ und die „manipulierten Medien“ ist beiden gemeinsam. Sie sind zwei Seiten derselben Medaille.
Während EDL-Mitglieder gegen die „Islamisierung des Westens“ protestieren, glaubt Hizb ut-Tahrir von sich, dass die Organisation zu den Vorreitern gegen die „Verwestlichung des Islam“ gehöre. Erstere träumt von einem Großbritannien ohne Muslime, während es das Ziel der Letzteren ist, den Islam von allen westlichen Einflüssen zu reinigen und wieder ein Kalifat zu errichten. Als Folge ihres gemeinsamen Pessimismus hinsichtlich des Status quo propagieren beide Gruppen apokalyptische Zukunftsvisionen – Visionen, die ihnen stets erlauben, die „Reset“-Taste zu drücken. Weil ungerechte Behandlung und Dämonisierung Hand in Hand arbeiten, stehen Extremisten in einer für beide Seiten vorteilhaften Beziehung zueinander. Um eine stimmige Geschichte erzählen zu könne, braucht das Opfer einen Täter ebenso sehr, wie der Täter ein Opfer braucht. Beim Extremismus führt dies zu einem Effekt, der als wechselseitige Radikalisierung bezeichnet wird.
Während Parallelen zwischen der Propaganda und den Mobilisierungsstrategien rechter und islamistischer Extremisten eingehend untersucht worden sind, wurde zu ihrer Interaktion bislang kaum geforscht.12 Wissenschaftler und Expertenkommissionen13 stimmen darin überein, dass wir die wechselseitige Radikalisierung und ihre konkreten Erscheinungsformen und Bedingungen besser verstehen müssen, um praktische Schlussfolgerungen und politische Empfehlungen daraus ableiten zu können. Dieses Buch bietet deshalb Einblicke aus erster Hand in die Online- und Offline-Interaktionen rechter und islamistischer Extremisten und will auf diesem Wege die beschleunigte Dynamik wechselseitiger Radikalisierung veranschaulichen.
Das Zeitalter der Wut
In den letzten Jahren jagte im Westen ein folgenschweres Nachrichtenereignis das andere: Terroranschläge in Paris, San Bernardino, Brüssel, Orlando, Nizza, München, Berlin, Quebec (Stadt), London Westminster, Manchester, Portland, London Bridge, Finsbury Park, Charlottesville, Barcelona. Dazwischen gab es den Brexit, einen Putschversuch in der Türkei, Burkini-Verbote in Frankreich, einen antimuslimischen Präsidenten im Oval Office, 46 Prozent Unterstützung für einen rechten Waffen-Befürworter in Österreich, einen besiegten Ministerpräsidenten in Italien, eine neue US-Regierung, welche die Einreise von Menschen aus mehreren mehrheitlich muslimischen Ländern verbot, und den Aufstieg des Nationalismus in Europa. Diese Ereignisse waren Erschütterungen, mit denen intakte Gesellschaften hätten zurechtkommen können. Doch alles in allem haben sie die Spaltungen innerhalb unserer Gesellschaften vertieft und uns dahin gebracht, wo wir heute sind.
Viele der westlichen Staatsoberhäupter, die die Weltordnung nach der Finanzkrise geprägt haben, sind aus dem Amt geschieden David Cameron, Barack Obama, Matteo Renzi, François Hollande. Eine neue Ära hat begonnen – Der New Statesman hat sie als das „Zeitalter des Putinismus“ bezeichnet; der Guardian nannte sie die „Ära des Trumpismus“. Ich nenne sie das „Zeitalter der Wut“.
Diese Ära ist gekennzeichnet durch einen Teufelskreis aus emotional getriebenen Aktionen und Reaktionen. Ob in den Sozialen Medien oder auf der Straße, Wut und Angst sind omnipräsent: Hassverbrechen erleben innerhalb und außerhalb des Netzes ein Allzeithoch. Der Brexit und Donald Trump gehören zu den Produkten dieser globalen Zunahme der Wut, genauso wie die Terroranschläge.
Im Zeitalter der Wut blicken EU und NATO in eine ungewisse Zukunft. Die Spannungen zwischen ihren mächtigsten Mitgliedern nehmen zu, das allgemeine Vertrauensniveau sinkt. Und das zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Mit den Worten von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und EU-Ratspräsident Donald Tusk sieht sich der Westen gegenwärtig den „größten Sicherheitsherausforderungen seit einer Generation gegenüber“.* Schwer bewaffnete Soldaten patrouillieren durch die Touristenhochburgen in Paris, Brüssel, Nizza und anderen europäischen Großstädten. Die deutsche Bundesregierung bricht mit den letzten noch aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg übrig gebliebenen Tabus, indem sie deutsche Straßen militarisiert und die staatliche Überwachung weiter ausbaut. Unterdessen löst sich das Vereinigte Königreich von Europa und hört möglicherweise auf, die wachsenden ökonomischen Lasten, aber auch die immer entscheidenderen nachrichtendienstlichen Informationen mit seinen Nachbarn zu teilen. Wahrscheinlich werden die rapide steigenden Raten bei den Hassverbrechen das einzige gemeinsame Merkmal bleiben, das den europäischen Binnenmarkt überdauert.
Die Welle terroristischer Anschläge im Herzen Europas ist eine eindringliche Erinnerung daran, dass die westlichen Demokratien nicht immun sind gegen Konflikt und Gewalt. Nach dem Schock, welcher der Illusion unserer Generation vom ewigen Frieden ein Ende bereitet hat, suchen viele nach jemandem, dem sie die Schuld geben können. Jeder hat seinen eigenen Sündenbock ausgemacht: Muslime, untätige Politiker und eine inkompetente Polizei – sie alle stehen ganz oben auf der Liste. Weiter unten stoßen wir auf den Kapitalismus, Eurokraten, die Globalisierung, Putin und viele andere. Aber all die Versuche einen Sündenbock zu suchen, , Schuldzuweisungen und Panikmache haben einen hohen Preis. Während Narrative von den Rändern des politischen Spektrums in Europa und den USA zum Mainstream mutieren, erleben Extremisten, wie ihre binären Weltbilder Wirklichkeit werden. In gespaltenen Gesellschaften blüht der Terrorismus. Wie viele weitere Erschütterungen und Risse können unsere Gesellschaften noch verkraften, bevor die apokalyptischen Visionen der Extremisten von einer Konfrontation zwischen „dem Westen und dem Islam“ zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden?
Zu diesem Buch
Dieses Buch untersucht die Dynamik zwischen „neuen“ Rechtsextremisten und islamistischen Extremisten und ihre Auswirkungen auf die weltweite terroristische Bedrohung. Im Lichte des gleichzeitigen Aufstiegs von Rechtsextremismus und islamistischem Extremismus ist es von größter Wichtigkeit, unser Verständnis der Wechselwirkung dieser beiden Bedrohungen, die bislang von Kommentatoren und Politikern größtenteils als isolierte Phänomene behandelt wurden, zu verbessern. Die Wahlen in den USA, Frankreich, Deutschland, Österreich und anderen Ländern, in denen die extreme Rechte momentan Erfolg hat, haben eine Debatte über wechselseitige Radikalisierung wichtiger denn je gemacht. Das Buch versucht Antworten auf Fragen wie diese zu geben: Wie verstärken rechtsextreme und islamistisch-extremistische Narrative sich gegenseitig? Wie können wir diese beiden binären Weltbilder demontieren? Was bedeuten Siege für rechtsextreme Führer überall in der westlichen Welt für den globalen dschihadistischen Aufstand? Müssen wir beim Kampf gegen den islamistischen Extremismus auch den Rechtsextremismus bekämpfen?
Um in diesen Fragen weiterzukommen, greife ich auf Gespräche mit militanten Rechtsextremisten, islamistischen Extremisten, Hackern, Geheimdienstoffizieren, Psychologen, ehemaligen Dschihadisten, Terroropfern und politischen Entscheidungsträgern zurück, analysiere Zahlen, Menschen und deren Verhalten, um Einblicke in die Dynamik zwischen Rechtsextremisten und islamistischen Extremisten im Internet wie außerhalb des Word Wide Web zu bieten. Die Befunde basieren auf einer Mischung aus Interviews, Exkursionen, statistischen Analysen und der Beobachtung der Sozialen Medien. Keine der untersuchten Zahlen, Personen oder Kontexte sind erfunden. Doch weil es um äußerst heikle Themen geht, wurden die Namen einiger der Interviewten geändert, um die Privatsphäre jener Einzelpersonen zu schützen, die es vorzogen, anonym zu bleiben oder die nicht wussten, dass sie interviewt wurden. Auch für alle Internet-Accounts, die ohne Wissen des Account-Inhabers beobachtet wurden, habe ich Pseudonyme verwendet.
Extremismus in all seinen Ausprägungen und Formen ist ein höchst kontroverses Thema. Es gibt keine allgemeingültige Definition des Begriffs, der selbst für extremistische Zwecke missbraucht worden ist: Einige repressive Regime nehmen den Kampf gegen den Extremismus zum Vorwand, um drakonische Maßnahmen gegen ganze Minderheitengruppen einzuleiten. Die britische Regierung definiert Extremismus als „lautstarke oder aktive Opposition gegen grundlegende britische Werte, darunter Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, individuelle Freiheit sowie gegenseitige Achtung und Toleranz unterschiedlicher Bekenntnisse und Überzeugungen“.14 In diesem Buch wird jeder als „Extremist“ bezeichnet, der bewusst Hass und Ängste schürt, um bestehende oder provozierte Spannungen für seine politische Agenda zu instrumentalisieren. Es gibt extremistische Politiker, Aktivisten, sogar Journalisten – rechtsextreme, linksextreme, christliche und atheistische. Ich beabsichtige nicht, den Begriff „Extremist“ als Beleidigung oder dauerhaftes Etikett zu verwenden. Ein Extremist, ob männlich oder weiblich, wird als solcher lediglich durch seine Handlungen definiert, nicht durch seinen Charakter. Tatsächlich waren einige der Extremisten, mit denen ich sprach, sympathischer und freundlicher als der Durchschnittsbürger, dem ich vielleicht in der Londoner U-Bahn oder einer x-beliebigen Fußgängerzone in Deutschland begegne. Weil Extremismus stets mit der Entmenschlichung von Menschen anfängt, werde ich mein Möglichstes tun, um nicht in dieselbe Falle zu tappen, und stattdessen bestrebt sein, jede einzelne Person als menschliches Wesen mit guten und schlechten Eigenschaften darzustellen. Ziel dieses Buches ist es nicht, Öl ins Feuer zu gießen, sondern zu zeigen, dass die Handlungen von Extremisten eines der drängendsten Probleme unserer Zeit – die wachsende Wut – verschärfen und dadurch unseren Planeten zu einem immer gefährlicheren Ort machen. Und es sucht zu zeigen, dass die Dynamik nicht unumkehrbar ist. Dass es Wege aus diesem Teufelskreis gibt.
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* Der englische Begriff Grooming (dt. sinngemäß „Anbahnung“) meint den gezielten Versuch von Erwachsenen, mittels Geschenken, Gefälligkeiten etc. sexuelle Kontakte zu Kindern und Jugendlichen herzustellen.
1 Geraldine McKelvie: „Horrific abuse scandal in town dubbed ‚child sex capital of Britain’“, Sunday Mirror (27. August 2016). Verfügbar unter http://www.mirror.co.uk/news/uk-news/horrific-abuse-scandal-town-dubbed-8718139.
2 English Defence League: „Telford demo 5 November: Media briefing“ (16. Oktober 2016). Verfügbar unter http://www.englishdefenceleague.org.uk/wp-content/uploads/2016/10/16_10_23_Telford-demo-media-briefing.pdf.
* Guy Fawkes (1570–1606), englischer katholischer Offizier, der am 5. November 1605 mit einigen Mitverschwörern vergeblich versuchte, das englische Parlament in die Luft zu sprengen und den König zu ermorden. Heute erinnern vornehmlich die Anglikaner zum Jahrestag der „Pulververschwörung“ in der sogenannten „Bonfire Night“ mit Feuerwerk und Fackelzügen an das gescheiterte Attentat.
3 Jamie Bartlett und Mark Littler: Inside the EDL. Populist Politics in a Digital Age, Demos (2011).
4 Salim Fredericks und Ahmer Feroze: From Darkness into Light (Al-Khilafah Publications, o.O. o.J.).
* Sure 6: al-Anam (Das Vieh), zit. nach http://www.quran4theworld.com/translations/German/6_151-165.htm (aufgerufen am 17. August 2017).
5 „The Murtadd Vote“, Al Hayat Media Center (2016). Verfügbar unter https:// baytalmasadircom.files.wordpress.com/2016/11/is-text-the-murtadd-vote. pdf.
12 Die wichtigsten Beiträge zu diesem Thema stammen von Jamie Bartlett und Jonathan Birdwell: „Cumulative Radicalisation Between the Far-Right and Islamist Groups in the UK. A Review of Evidence“, Demos (2013), und Busher und Macklin: „Interpreting ‚Cumulative Extremism’“.
13 Bartlett und Birdwell, ‘Cumulative Radicalisation’, sowie Busher und Macklin, „Interpreting ‚Cumulative Extremism’“.
* Zit. nach https://www.welt.de/print/die_welt/debatte/article160272611/EU-und-Nato-sind-naeher-zusammengerueckt.html.
14 Britische Regierung: „The Prevent Duty. Departmental Advice for Schools and Childcare Providers“, Erziehungsministerium (Juni 2015). Verfügbar unter https://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/ file/439598/prevent-duty-departmental-advice-v6.pdf.