1989 – Was für ein schicksalhaftes Jahr!
Im Herbst 1989 berührten sich die deutsche und die tschechische Geschichte auf eine besondere Art und Weise. Zehntausende DDR-Bürger flüchteten damals über die »Goldene Stadt« Prag in die Freiheit! Dabei erlebten sowohl die Zufluchtsuchenden selbst als auch alle anderen involvierten Akteure extrem dramatische Stunden, Tage und Wochen. Es war wohl eine große Ausnahme in der Geschichte, dass dieses Drama ein glückliches Ende nahm: Die Botschaftsflüchtlinge gelangten unversehrt in das »gelobte Land«.
Das Aufbegehren der Bürger, die unaufhörlichen Demonstrationen, der Massenexodus und die Ereignisse um die Prager Botschaft, die schließlich zum Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in der DDR geführt hatten, waren eine große Ermunterung für die Tschechen und Slowaken. Praktisch zeitgleich mit dem Regime in der DDR brach auch die kommunistische Diktatur in der Tschechoslowakei in sich zusammen. Wie sich herausstellte, gab es im Herbst 1989 Wechselwirkungen zwischen der ČSSR und der DDR in Bezug auf die politischen Entwicklungen, so dass es zu Synergieeffekten für beide Länder kam. Die tschechoslowakischen Forderungen im Zu- sammenhang mit der Problematik in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland wirkten sich maßgeblich auf die Entwicklung in der DDR aus. Der Flüchtlingsstrom, die Proteste nach der Grenzschließung am 3. Oktober 1989 und schließlich der Fall der Berliner Mauer waren wiederum ausschlaggebende Impulse und Katalysatoren der »Samtenen Revolution« von Prag.
Aber nicht nur der nahezu gleichzeitige Zusammenbruch der beiden Regime ist eine Gemeinsamkeit der beiden Staaten; ihre Schicksale waren bereits zuvor eng miteinander verbunden. Tschechische und deutsche Historie haben sich im 20. Jahrhundert mehrfach gegenseitig beeinflusst, in der jüngeren Vergangenheit überwiegend auf tragische Weise für beide Nationen. Demgegenüber gehört die parallel verlaufende Implosion der kommunistischen Regime im Herbst 1989 zweifellos zu den glücklichen Momenten in der Geschichte beider Völker. Dieser erfreuliche Ausgang der gemeinsamen historischen Ereignisse hat das Potential, das Geschichtsbewusstsein hier wie dort dauerhaft positiv zu prägen.
Der Kreis schliesst sich
Prolog von Hans-Dietrich Genscher
Die Stunden in der deutschen Botschaft in Prag am 30. September 1989 gehören zu den bewegendsten meines Lebens. Schon im Herbst 1988 hatte ich gegenüber dem sowjetischen Außenminister Schewardnadse in New York die Erwartung geäußert, dass es im nächsten Sommer in der DDR zu Protestkundgebungen kommen werde, wenn es bis dahin keine Reformen gäbe. Der fortschreitende Zerfall der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsstrukturen war unübersehbar, diese Entwicklung würde vor der DDR nicht haltmachen. Im Gegenteil: Seit Anfang 1989 beschleunigte sie sich auf dramatische Weise. Am 2. Mai 1989 hatte Ungarn begonnen, die Grenzsicherungen nach Österreich abzubauen; damit war der Eiserne Vorhang an entscheidender Stelle geöffnet. Am 27. Juni 1989 durchschnitten die Außenminister Ungarns und Österreichs, Horn und Mock, den Stacheldraht, der West- und Osteuropa trennte – ein historischer Tag, dessen Bedeutung wohl nur von wenigen erkannt wurde. Schließlich war Ungarn neben der Tschechoslowakei das bevorzugte Reiseland der DDR-Bewohner. Nun konnten sie von dort aus in den Westen gelangen.
Einige Monate zuvor, am 18. Januar 1989, hatte ich in meiner Rede vor der KSZE-Folgekonferenz in Wien gesagt: »Die Schlussakte von Helsinki ermutigt die Kräfte, die jetzt in verschiedenen Staaten auf grundlegende Reformen drängen ... Was in den letzten Tagen in Leipzig und Prag gegen friedliche Demonstranten geschah, darf sich nicht wiederholen. [Das gemeinsame Haus Europa] muss ein Haus sein mit offenen Türen und Fenstern, in dem Menschenrechte und Menschenwürde geachtet werden, in dem jeder ohne Angst leben kann.
Es ist eine historische Tatsache: Auch Jahrzehnte der Trennung, auch Jahre des Kalten Krieges haben aus einem Europa nicht zwei gemacht, und auch aus einer deutschen Nation nicht zwei. Alles, was künstlich trennen soll, wird immer anachronistischer – die Mauer in Berlin ist ein solches Relikt. Nutzen wir die Möglichkeiten, die Lage in Europa grundlegend zu verändern, gehen wir den Weg, den europäischen Friedensweg, entschlossen weiter ... Wenn Europa zu sich selbst zurückfindet, finden alle Europäer zueinander. Die Bundesrepublik Deutschland wird weiter, wie es im Brief zur deutschen Einheit heißt, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt.«
Im August 1989 bereitete ich mich wie üblich auf meine Reise nach New York zur UN-Vollversammlung vor. Es war die Zeit, als die Lage in der deutschen Botschaft in Prag dramatische Formen annahm. Die Ostberliner Anwälte Wolfgang Vogel und Gregor Gysi waren nach Prag gereist, um die DDR-Flüchtlinge zur Rückkehr zu bewegen; was sie den Menschen zusicherten, war Ausreise innerhalb von sechs Monaten danach. Sie mussten unverrichteter Dinge zurückkehren. Unterdessen ließ sich der Flüchtlingsstrom nicht mehr bewältigen. Alle Botschaftsangehörigen waren auf den Beinen, Tag und Nacht, rund um die Uhr. Unser Botschafter Hermann Huber, seine Frau und das gesamte Personal leisteten Übermenschliches. Aber die normalen Bordmittel reichten nicht mehr aus. Wir entsandten immer mehr Mitarbeiter aus der Zentrale und von anderen Botschaften in die tschechoslowakische Hauptstadt, die dort in Hotels untergebracht wurden. Die Behörden duldeten das, obwohl das alte ZK der Kommunistischen Partei noch im Amt war. Offensichtlich war man innerhalb der Führung unsicher geworden.
Gleichzeitig verschärfte sich die Lage für die DDR-Flüchtlinge von Tag zu Tag. Immer mehr DDR-Bewohner suchten Zuflucht, und dieser Strom schwoll noch dramatischer an, nachdem die ungarische Regierung am 11. September die Grenze nach Österreich für alle ausreisewilligen DDR-Bürger im Lande geöffnet hatte. Am Samstag, dem 23. September, reiste ich zur UN-Vollversammlung nach New York. Im Flugzeug begleiteten mich Professor Kessler und sein Oberarzt. Sie hatten eine komplette kardiologische Ausrüstung dabei, falls es über dem Atlantik zu einem Herzinfarkt kommen sollte. Diese Gefahr war nicht auszuschließen, nachdem ich am 20. Juli 1989 einen Herzinfarkt erlitten hatte, und so hätte man im Flugzeug notfalls eine sogenannte Lyse machen können. Auch im Hotel waren die Ärzte unmittelbar neben der Suite untergebracht, in der meine Frau und ich wohnten.
Meine Rede vor der Vollversammlung hielt ich am Vormittag des 27. September 1989. Sie schloss eine Passage zur deutschen Ostgrenze ein, die ich auf dem Flug nach New York wieder und wieder überarbeitet hatte. Angesichts der Entwicklung in der DDR und in den anderen sozialistischen Staaten war eine solche Stellungnahme notwendig geworden, denn wenn sich die Möglichkeit der Überwindung des Eisernen Vorhangs und damit auch der deutschen Teilung abzeichnete, dann durfte unsere Haltung zur Ostgrenze nicht unklar sein.
Die Frage nach der Oder-Neiße-Linie würde von allen Seiten in Ost und West gestellt werden. Schwiegen wir uns hier aus, dann räumten wir der DDR die Rolle eines Garanten der polnischen Westgrenze ein. Wozu aber hätte das führen können? Zu einer Verfestigung der deutschen Spaltung? Deshalb war ein deutliches, ein in der Sache verpflichtendes Wort unumgänglich. So erklärte ich fünfzig Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs in feierlicher Form vor dem Forum der Welt, der Generalversammlung der Vereinten Nationen: »Das polnische Volk ist vor fünfzig Jahren das Opfer des von Hitler-Deutschland vom Zaun gebrochenen Krieges geworden. Es soll wissen, dass sein Recht, in sicheren Grenzen zu leben, von uns Deutschen weder jetzt noch in Zukunft durch Gebietsansprüche in Frage gestellt wird. Das Rad der Geschichte wird nicht zurückgedreht. Wir wollen mit Polen für ein besseres Europa der Zukunft arbeiten. Die Unverletzlichkeit der Grenzen ist Grundlage des friedlichen Zusammenlebens in Europa.« Mit dieser Passage wandte ich mich direkt an den polnischen Außenminister Skubiszewski, der, wie ich wusste, im Plenarsaal anwesend war. Die internationale Wirkung der Rede war groß. Das bestätigte ihre Notwendigkeit und Dringlichkeit.
Nach der Sitzung der Generalversammlung hatte uns Außenminister Schewardnadse zum Mittagessen in die Residenz des sowjetischen UN-Botschafters geladen. Zu Beginn bedankte ich mich für einen sehr persönlich gehaltenen Brief Schewardnadses. Dieser wiederum würdigte meine Rede vom Vormittag. Offensichtlich hatte er die Botschaft verstanden, denn ich hatte mich nicht nur zur Frage der deutschen Ostgrenze geäußert, sondern auch zu den Rahmenbedingungen für die sich abzeichnende deutsch-deutsche Annäherung und Vereinigung: »Kein Staat wird sich dieser Entwicklung«, gemeint war die Reformentwicklung, »auf Dauer entziehen können. Wer auf das Scheitern der Reformen hofft, wird von der Entwicklung überrannt werden. Auch im Westen sollte niemand die neuen Möglichkeiten unterschätzen, sondern sie entschlossen im Interesse des ganzen Europa nutzen. Die Geschichte pflegt ihre Angebote nicht zu wiederholen. Ich appelliere an die Staaten Europas, diese geschichtliche Stunde nicht zu versäumen ... Die Bundesrepublik Deutschland sieht in der europäischen Friedensordnung auch den Rahmen für das Ziel, das der Brief zur deutschen Einheit formuliert hat, nämlich: auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Dieses Ziel wollen wir unter voller Achtung der von uns geschlossenen Verträge erreichen. Das kann nur mit allen Staaten in Europa und nicht gegen sie geschehen. Niemand in Europa hat Anlass, unsere Politik zu fürchten. Sie ist eingebettet in das Schicksal des ganzen Kontinents. Sie ist europäische Friedenspolitik. Das schließt natürlich Alleingänge aus.«
Das war der Rahmen, in dem wir das Ziel, das wir im Brief zur deutschen Einheit formuliert hatten, erreichen wollten. Im Lauf des Gesprächs kam ich auch auf Schewardnadses UN-Rede vom Vortag zu sprechen. Er hatte darin die alte Koalition des Zweiten Weltkriegs beschworen und vor einem in Deutschland neu aufkommenden Revanchismus gewarnt, der versuche, die Nachkriegsordnung in Europa in Frage zu stellen. Niemand, so sagte er, dürfe willentlich oder unwillentlich die Kräfte des Revanchismus ermutigen. Zutiefst bestürzt und alarmiert hatte ich den Text dieser Rede gelesen, denn wir konnten solche Polemik mit allen ihren Folgen gerade jetzt nicht gebrauchen. Nach Beratung mit meinen Mitarbeitern packte ich den Stier bei den Hörnern.
Mit großer Offenheit, so begann ich unser Gespräch, wolle ich seine Ausführungen vom gestrigen Tag ansprechen. Sie hätten in der deutschen Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit gefunden, weil man nach dem Stand unserer Beziehungen derartige Äußerungen nicht mehr für möglich gehalten habe. Der sowjetische Außenminister erwiderte, Anlass dazu seien einige Elemente in der Rede des Bundeskanzlers auf dem CDU-Parteitag in Bremen gewesen, vor allem die Passage über die Wiedervereinigung Deutschlands in den alten Grenzen. Er habe bewusst keine Namen genannt, um die Sache nicht zu verschlimmern, aber er halte die Lage für ernster als nach dem Interview des Bundeskanzlers von 1986. Diese Beurteilung der Bremer Rede wies ich zurück. Es gebe, so betonte ich, keinen Anlass zu einer solchen Bewertung. Im Übrigen wisse ich sehr genau, wie der Bundeskanzler zur Grenzfrage stehe; er sehe die Dinge nicht anders als ich, und meine Rede am Morgen sei wohl hinreichend klar gewesen.
Mit großer Entschiedenheit legte ich Schewardnadse unsere Politik dar: Sie nehme ernst, was in der deutsch-sowjetischen Erklärung vom Frühsommer 1989 vereinbart sei – keinesfalls dürften wir uns um die Früchte des gemeinsam Erreichten bringen. Schließlich war Schewardnadse mit einer gemeinsamen Sprachregelung für die Öffentlichkeit einverstanden: Man sei sich einig, die Beziehungen in vollem gegenseitigen Vertrauen zwischen der sowjetischen Führung und der Bundesregierung weiterzuentwickeln.
Als diese heikle Frage geklärt war, kam ich auf mein eigentliches Thema zu sprechen, die Lage in der DDR. Schon bei früheren Begegnungen, sagte ich zu Beginn, hätte ich ihn auf die Notwendigkeit von Reformen in der DDR hingewiesen, denn die Ursachen der allgemeinen Unzufriedenheit und der Fluchtbewegung lägen nicht vornehmlich im materiellen Bereich. Dann schilderte ich dem sowjetischen Außenminister die immer unerträglichere Lage in unserer Prager Botschaft, beschrieb die ähnliche Situation in Warschau und bat nachdrücklich um Hilfe für unser Bemühen, diese Probleme zu lösen und von der DDR- Führung die Zustimmung zur Ausreise zu erlangen.
Schewardnadse, der zu erkennen gab, dass auch er Reformen in der DDR für notwendig hielt, versprach, Generalsekretär Gorbatschow unverzüglich über unser Gespräch zu unterrichten. Diesmal war er offensichtlich von meiner Analyse überzeugt. Ein Jahr zuvor, als ich ihn – ebenfalls in New York – schon einmal auf die bei ausbleibenden Reformen unvermeidlichen Entwick- lungen in der DDR hingewiesen hatte, äußerte er noch erhebliche Zweifel an meiner Einschätzung. Aber auch damals sicherte er die Unterrichtung Gorbatschows zu.
Am Abend des 27. September 1989 traf ich in unserer UN- Vertretung zu einem Abendessen mit DDR-Außenminister Oskar Fischer zusammen. Unsere Begegnungen waren zu einer nützlichen Tradition geworden, durch die wir in den Ost-West-Fragen im Allgemeinen, im KSZE-Prozess und in aktuellen Problemen zu einem Meinungsaustausch mit der DDR kamen. Bilaterale Fragen standen, entsprechend unserer Zuständigkeitsverteilung in der Bundesregierung, nicht auf der Tagesordnung. Nichts wäre der DDR-Seite schließlich lieber gewesen, als wenn von den Außenministern Themen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR besprochen worden wären. Das hätte die These der DDR, dass beide deutsche Staaten füreinander Ausland seien, unterstrichen. Humanitäre Fragen hingegen warf ich immer wieder auf, und erfahrungsgemäß konnten Fälle, die bei solchen Gelegenheiten Erwähnung fanden, auch gelöst werden.
Bei dieser Begegnung bat ich Außenminister Fischer zunächst um ein Gespräch unter vier Augen. Mit Bundesminister Seiters, der für die Beziehungen zur DDR zuständig war, hatte ich vereinbart, dass ich mit Fischer die gegenwärtige Situation behandeln würde. So erläuterte ich ihm die Lage in unseren Botschaften in Prag und in Warschau, wobei die Lage in der tschechischen Hauptstadt zweifellos dramatischer war. Wiederholt nickte Fischer bei meinen Darlegungen; offensichtlich war er über die Situation vor Ort umfassend informiert.
Sodann machte ich ihm zwei Vorschläge, wie man die Ausreisefrage für die Zufluchtsuchenden in den Botschaften lösen könne: Entweder könnten die Ausreiseformalitäten in Prag erledigt werden oder die Ausreise fände über die DDR statt. Die Pass-Eintragung würde jeweils durch Vertreter der DDR erfolgen, deren Souveränitätsanspruch so gewahrt bliebe. Vorausgegangen war ein offener, ernsthafter Meinungsaustausch. Ich erklärte Außenminister Fischer, dass die Deutschen aus der DDR auf keinen Fall bereit sein würden, an ihre alten Wohnorte zurückzukehren. »Warum genügen nicht sechs Stunden anstelle der bisher üblichen sechs Monate?«, fragte ich. Damit spielte ich auf die zweite Alternative an, die ich danach präsentierte.
Mein Eindruck war: Fischer sah die Notwendigkeit einer Lösung. Überhaupt lernte ich ihn an diesem Tage von einer Seite kennen, die mit seinem Verhalten bei unseren ersten Begegnungen vor fast anderthalb Jahrzehnten kaum zu vergleichen war. Plötzlich hörte ich nicht mehr die Sprache eines Mannes, der Erklärungen des Politbüros oder Zentralkomitees wiedergab. Auch Fischer suchte einen Weg und versprach, sofort nach seiner Rückkehr mit Honecker zu sprechen. Am nächsten Morgen gegen 9.00 Uhr rief ich Fischer an. Erneut informierte ich ihn über die immer unerträglicher werdende Lage in der Botschaft. Auf meine dringende Bitte hin versprach er schließlich, meine Vorschläge nach Berlin weiterzuleiten. Nach meinem Eindruck gab sich Oskar Fischer Mühe, eine Lösung nach einem meiner Vorschläge herbeizuführen.
Noch am selben Tag appellierte ich in einem persönlichen Gespräch an ČSSR-Außenminister Johanes, zu einer Lösung beizutragen. Es müsse etwas geschehen. Johanes sagte nur zu, er werde Prag von meinen Ausführungen informieren; persönlich allerdings schien er nicht sehr berührt und meinte, diese Sache müsse zwischen Bonn und Berlin geregelt werden. Seine Regierung trage keine Verantwortung für die entstandene Lage. «Das ist nicht das Problem«, erwiderte ich. Es gehe darum, den Menschen zu helfen. Im Ton war ich um Zurückhaltung bemüht, denn immerhin tolerierte die Regierung der ČSSR alle unsere Aktivitäten – die Verpflegungszufuhr, die medizinische Betreuung, die Abordnung von zahlreichen Angehörigen des Auswärtigen Amts nach Prag. Das waren zwar Selbstverständlichkeiten, doch noch ein paar Monate früher wäre alles anders gewesen. Das ungarische Beispiel wirkte wenigstens insoweit bis nach Prag.
Am späten Abend gab es ein Abendessen der Sieben, das heißt der USA, Kanadas, Großbritanniens, Frankreichs, Italiens, Japans und Deutschlands. Als ich auch dort über die Lage berichtete, sagten James Baker und Roland Dumas sofort Hilfe zu. Die entscheidende Wende war aber offensichtlich von meinem Gespräch mit Schewardnadse am Nachmittag dieses Tages in der sowjetischen Vertretung ausgegangen. Am Freitag war ich gegen 17.00 Uhr gerade im Begriff, das Hotel zum Rückflug nach Bonn zu verlassen, als das Telefon klingelte: Ein Mitarbeiter von Außenminister Fischer – Botschafter Niklas – informierte uns, der Ständige Vertreter der DDR werde am Morgen des nächsten Tages mit neuen Instruktionen ins Bonner Auswärtige Amt kommen. Daraufhin ließ ich Fischer ausrichten, der Ständige Vertreter möge nicht im Auswärtigen Amt, sondern wie üblich im Kanzleramt vorstellig werden.
Gerade in dieser dramatischen Phase der deutsch-deutschen Beziehungen wollte ich auf keinen Fall die Zuständigkeiten innerhalb der Regierung verwischen, weshalb ich auf korrekter Verfahrensweise bestand. Hier ging es nicht um formale Kompetenz-, sondern um Statusfragen. Da die DDR für uns nicht Ausland war, blieb sie der einzige Staat, mit dem die bilateralen Beziehungen in der Zuständigkeit des Bundeskanzleramts lagen. Noch vor Verlassen des Hotels informierte ich telefonisch den Bundeskanzler und Bundesminister Seiters. Am Morgen des 30. September 1989 landeten wir in Bonn. Zu Hause machte ich mich frisch, dann fuhr ich ins Kanzleramt.
Als der Ständige Vertreter Ostberlins, Neubauer, Bundesminister Seiters und mir erklärte, man habe sich beim Abwägen der beiden von mir vorgeschlagenen Varianten für die zweite entschieden, also für die Fahrt durch die DDR, antwortete ich: »Die Lage hat sich inzwischen weiter verschärft. Es ist deshalb notwendig, dass die Züge von hochrangigen Beamten der Bundesregierung begleitet werden. Außerdem werde ich selber nach Prag reisen, weil die Stimmung, wie sie alle Beobachter schildern, inzwischen so gespannt ist, dass die Flüchtlinge die Botschaft nicht verlassen wollen. – Ich muss Ihnen die Lage so schildern, wie sie ist. Die Flüchtlinge vertrauen Ihnen nicht. Aber ich bin sicher, dass ich die Menschen durch eine Art persönlicher Bürgschaft bewegen kann, durch die DDR zu reisen. Wichtig wird sein, dass Herr Seiters und ich sowie hohe Beamte die Züge begleiten, als eine Art vertrauensbildende Maßnahme.«
Neubauer fuhr daraufhin in sein Büro nach Bad Godesberg, telefonierte mit Ostberlin, kam zurück ins Kanzleramt und erklärte das Einverständnis. Noch am selben Nachmittag flog ich zusammen mit Kanzleramtsminister Seiters nach Prag. Ich legte Wert auf seine Mitreise, weil ich in dieser Lage auch nach außen den Schulterschluss von Regierung und Koalition zeigen wollte. Begleitet wurden wir von Staatssekretär Priesnitz aus dem Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, von Ministerialdirektor Kastrup aus dem Auswärtigen Amt, Ministerialdirigent Duisberg aus dem Kanzleramt sowie von Ministerialdirektor Jansen aus dem Auswärtigen Amt und dem Leiter des Ministerbüros, Frank Elbe.
Kurz bevor die Türen der Bundeswehrmaschine geschlossen wurden, rief mich ein Unteroffizier ans Telefon. Ich erfuhr, dass die Situation sich noch einmal geändert hatte: Der Ständige Vertreter der DDR sagte nun, abweichend von unserer Verständigung vor wenigen Stunden, dass die Führung der DDR mit der Mitreise der beiden Bundesminister Seiters und Genscher in den Sonderzügen nicht einverstanden sei. Ich nahm diese Nachricht zur Kenntnis und machte mir nun die größten Sorgen, wie wir unter diesen Umständen das Vertrauen der Menschen für eine Fahrt durch die DDR noch gewinnen könnten. Unsere Mitreise hätte die Sache fraglos erleichtert. Ich kündigte ein weiteres Gespräch mit dem Ständigen Vertreter Neubauer aus Prag an.
Kurz danach startete eine zweite Maschine mit Staatssekretär Dr. Sudhoff nach Warschau. Auf dem Flug dachte ich darüber nach, was ich in Prag zu den in der Botschaft versammelten Menschen sagen sollte. In dieser Stunde war mir bewusst: Jetzt würden nicht nur einige Tausend Deutsche aus der DDR unsere Botschaft in Richtung Bundesrepublik verlassen können, es kündigte sich Historisches an: Die DDR ist am Ende. Was sich hier vollzieht, ist im Grunde der Zusammenbruch der DDR von innen und von unten; das Ende der Mauer rückt in Sichtweite. War die Ausreise aus Ungarn noch gegen den wütenden Protest der Führung in Ostberlin geschehen, so reisten die Menschen aus der Prager Botschaft – nur zwanzig Tage später – mit ihrer Zustimmung aus.
Der Flüchtlingsstrom verwandelte sich in einen Urstrom der Geschichte. Es wurde wahr, was ich immer wieder in meinen Reden gesagt hatte: »Selbst Jahrzehnte der Trennung können aus einem Volk nicht zwei machen.« Auch erinnerte ich mich, dass in der Bundesrepublik die Aufnahme von Deutschen aus der DDR in unseren Botschaften in Mittel- und Osteuropa mitunter als eine unnötige Störung der Entspannungspolitik empfunden worden war. Die Forderung Ostberlins, wir sollten Deutschen aus der DDR in unseren Botschaften keine Aufnahme gewähren, fand durchaus offene Ohren – ein Ansinnen, das ich immer zurückgewiesen hatte. Wir durften uns nicht zu Hilfskräften der Abgrenzungspolitik machen, durften die Mauer nicht administrativ an den Toren unserer Botschaften noch einmal errichten.
Am Flughafen in Prag begrüßte mich am Nachmittag ganz offiziell der Staatssekretär im tschechoslowakischen Außenministerium. Die Regierung brachte damit zum Ausdruck, dass sie diesen Besuch offiziell zur Kenntnis nahm. Unverzüglich fuhren wir zu unserer Botschaft, vor der wir auf eine unser Kommen gespannt erwartende große Menschenansammlung stießen. Wir gingen durch die Tür des Gebäudes und sahen schon im Torbogen die Betten dreifach übereinander stehen: Ein Teil der Flüchtlinge musste liegen, weil nicht genug Bewegungsfläche für alle da war. Botschafter Huber geleitete mich den Gang hinunter. Zunächst, so bemerkte ich, realisierten die Menschen gar nicht, dass der Außenminister angekommen war. Über Schlafende hinweg stiegen wir die Treppe hinauf ins obere Stockwerk zur Wohnung des Botschafters, von wo ich noch einmal mit dem Ständigen Vertreter Neubauer telefonierte, um ihn auf die möglichen Folgen aufmerksam zu machen, wenn Seiters und ich nicht mitreisen. Neubauer teilte mir mit, er habe keine neuen Weisungen aus Ostberlin. So mussten wir versuchen, das Vertrauen der Flüchtlinge auf andere Weise zu gewinnen.
Nachdem wir die weiteren Einzelheiten besprochen hatten, sagte ich: »Herr Huber, es ist wohl Zeit, auf den Balkon zu gehen, um von dort die Menschen zu informieren.« Wir traten hinaus. »Liebe Landsleute« – ein Jubelsturm brach los. Dann begann ich: »Wir sind gekommen, um Ihnen zu sagen ...« Ehe ich den Satz zu Ende bringen konnte, noch einmal unbeschreiblicher Jubel. Auch heute, im Rückblick der Jahre, ergreift mich bei dieser Erinnerung noch immer tiefe Bewegung. Es war ein unvergesslicher Moment, für mich ebenso wie für die in der Botschaft versammelten Menschen, und noch heute höre ich bei zufälligen Begegnungen immer wieder: »Wir waren damals in der Botschaft in Prag mit dabei!« Der erste Zug verließ schon am Abend des 30. September 1989 Prag in Richtung DDR. Die mitreisenden Beamten riefen mich am nächsten Morgen an: »Sie können sich nicht vorstellen, was wir erlebt haben!« Die Sympathiekundgebungen unterwegs waren überwältigend. Überall an der Bahnstrecke hatten DDR-Bürger gewinkt. Manch einer hatte sogar Betttücher aus dem Fenster gehängt. Wenn man mich nach dem Gespräch mit Außenminister Fischer in New York gefragt hätte, welche der beiden Varianten die DDR wohl wählen würde, hätte ich auf die erste, die des direkten Weges in die Bundesrepublik Deutschland, getippt. Wie konnte die Führung in Ostberlin unterschätzen, welchen psychologischen Effekt der Transport Tausender Flüchtlinge durch die DDR haben würde?
Die Wirkung war unübersehbar. Bei einer direkten Ausreise wie der von Ungarn über Österreich wären die Konsequenzen kaum so schwerwiegend gewesen; nun aber hatte der politische Urstrom sich in Bewegung gesetzt und schob sich ungehindert durch die DDR. Dieses Urstromtal nahm seinen Ausgang in Prag, der europäischsten aller europäischen Städte. Aber ihre Kräfte empfing die Entwicklung vom Willen der Menschen nach Freiheit und Selbstentfaltung. Wie lange hatte ich darauf gewartet, wie viel Zeit meines Lebens dafür eingesetzt! Lange schien das Ziel schwer und nur in ferner Zeit erreichbar, dann wurde es als Möglichkeit sichtbar und zuletzt so schnell greifbar, dass ich zu träumen glaubte. Als ich von Prag nach Bonn zurückflog, als Außenminister des freien Deutschland, gingen meine Gedanken zurück zu meiner Kindheit und Jugend in Halle: Was hätten wir damals, nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, dafür gegeben, gemeinsam neu anfangen zu können in einem geeinten, demokratischen Deutschland? Nun hatte ich die Hoffnung, es werde mehr als vierzig Jahre später möglich sein.