Digitalisierung und Demokratie?

Im Gespräch Dem Klimawandel mit kommunalen Technologien entgegentreten, das fordert die Autorin Marta Peirano. Sie legt nahe, dass die Netzpolitik nicht in einer Gemeinschaft Netzbegeisterter diskutiert werden soll, sondern in einem gesellschaftlichen Diskurs
Digitalisierung und Demokratie?

Foto: Rosa Luxemburg Stiftung

Krystian Woznicki: Das zweite Kapitel Ihres Buches „El enemigo conoce el sistema“ (Der Feind kennt das System) ist dem Thema Internetinfrastruktur gewidmet. Sie beginnen das Kapitel mit einem Zitat des Mathematikers, Elektroingenieurs und Kryptographen Claude Shannon - auch bekannt als „der Vater der Informationstheorie“. Das Zitat inspirierte sogar den Titel Ihres Buches. Könnten Sie erklären, wie Sie den Titel gewählt haben und wie er das Thema Infrastruktur widerspiegelt?

Marta Peirano: Im Originalzitat sagt Shannon, dass „man Systeme unter der Annahme entwerfen muss, dass der Feind sofort volle Vertrautheit mit ihnen erlangt“, was bedeutet, dass man sich nicht auf die Geheimhaltung seiner Infrastruktur verlassen kann, um sie vor Angriffen zu schützen. Ich wähle einen anderen Ansatz. Ich sage, man kann sich nicht auf die Sicherheit/Verfügbarkeit/Ziele der Infrastruktur verlassen, wenn man sie nicht kennt. Heute kennen nur noch wenige Unternehmen die Funktionsweise der komplexen Systeme, auf die wir uns verlassen - und das betrifft nicht nur den Bereich der Kommunikation. Diese Firmen unternehmen große Anstrengungen, die Systeme vor uns zu verbergen, nicht nur physisch, sondern auch kognitiv, indem sie ein Interface aus Metaphern schaffen, das unser Wissen ersetzt hat. Diese bewusste Substitution soll die wahren Ziele dieser Systeme verbergen: Datenextraktion, Massenmanipulation und zunehmend auch Bevölkerungskontrolle..

KW: Die Frage der Internetinfrastruktur ist heute eine politische Frage, die über Netzpolitik im engeren Sinne hinausgeht und alle Bereiche des Lebens umfasst. Wie würden Sie diesen Zustand beschreiben?

MP: Kritische Infrastrukturen sind per Definition ein gesellschaftliches Anliegen. Heute investieren die europäischen Regierungen offen in 5G-Infrastrukturen. Dahinter stehen Unternehmen, die von autoritären Regimen finanziert werden, von denen bekannt ist, dass sie auch Hackergruppen finanzieren, die Infrastrukturboykotte und Desinformationskampagnen durchführen. Das war noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar und sollte meiner Ansicht nach verboten werden, insbesondere im Zusammenhang mit der Klimakrise. Wir brauchen eine Infrastruktur, auf die wir uns verlassen können. Wir wissen, was passiert, wenn wir uns auf Infrastrukturen verlassen, die wir nicht besitzen, kennen oder gesetzlich regeln können. Dann geschieht so etwas wie in Puerto Rico. Tausende von Menschen sterben.

KW: Der Ausbau der Cloud-Infrastruktur (Installation von Glasfaserkabeln, Errichtung von Rechenzentren und Serverfarmen etc.) hat eine geopolitische Dimension, die selten diskutiert wird. Sie materialisiert sich bei Grenzkontrollen, bei Einwanderungsentscheidungen, bei Drohnenangriffen - und ist auch mit der globalen Erwärmung verbunden. Die politische Geographie der Cloud-Infrastruktur überschreitet die Souveränität der Nationalstaaten und suspendiert anscheinend auch deren Verantwortung. Was ist Ihre Analyse dieser Situation?

MP: Die «Cloud» ist so etwas wie die Botschaft eines Landes, das es gar nicht gibt. Sie hat die Gesetze zum Schutz geistigen Eigentums erfolgreich in eine «Regel der Unverletzlichkeit» der Wiener Konvention von 1961 umgewandelt. Sie fungiert auch als Steuerparadies, als Infrastruktur zum Schutz der Funktionsweisen zweifelhafter Unternehmen, ist intransparent für lokale Behörden und wird kontrolliert von Stellen im Ausland. Unsere Behörden können nicht in diese Server eindringen, selbst wenn sie Beweise für eine wachsende Zahl illegaler Aktivitäten haben, von Kinderpornos bis hin zu Desinformationskampagnen. Kindesmissbrauch ist ein Internetproblem; Cambridge Analytica ist ein Geschäftsproblem. Das ist Kapitalismus ohne Demokratie, Macht ohne Verantwortung. Wie Edward Snowden sagte, wenn die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) tatsächlich greifen würde, dann würden die Unternehmen Geldbußen in der Höhe von 3 Prozentihres Jahresumsatzes zahlen müssen. Aber was man nicht sieht, kann man nicht kontrollieren.

KW: Zum Einfluss der Cloud-Infrastruktur auf die globale Erwärmung: Während der unaufhörliche Anstieg der Cloud-Aktivitäten durch die steigende Hitze der Serverfarmen zu höheren Temperaturen führt, verursachen höhere Temperaturen Stress für die Cloud-Infrastruktur (was immer mehr energiefressende Kühlsysteme erfordert). Es scheint, dass dies eine Spirale ist, mit der sich niemand ernsthaft auseinandersetzen möchte. Gibt es denn keine kritischen und praktischen Antworten, die es wert sind, verfolgt zu werden?

MP: Wie üblich wird dies als technisches Problem dargestellt. Das ist es nicht. Es ist ein Design- und ein humanitäres Problem. Diese Cloud-Infrastruktur wurde für und von der Datenextraktionsindustrie entwickelt und wird weiterentwickelt, nicht mit dem Ziel, die Klimakrise zu bewältigen, sondern mit dem Ziel, Menschen während dieser Krise zu managen. Also: anderes Ziel, anderes Design.

KW: Welche neuen Antworten auf diese spezielle Spirale müssen wir finden? Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang kommunale Technologien?

MP: Wir müssen Technologien für das genau entgegengesetzte Ziel entwickeln: Es kann nicht darum gehen, Menschen mit Hilfe der Cloud möglichst effizient zu managen. Nein, wir müssen den Menschen helfen, die Klimakrise dort zu bewältigen, wo sie stattfindet. Im Moment bedeutet das, den Menschen zu helfen, sich von denen zu trennen, die die gleichen Lieder, Filme, Bücher oder Werte lieben, wie sie, und sich wieder mit denen in ihrer Nähe zu verbinden, die vor der gleichen Herausforderung stehen: ihren Nachbarn. Diese Instrumente werden lokal und kommunal sein, da sie so konzipiert sind, dass sie auf lokale, gemeinsame Notfälle reagieren.

KW: Ich frage mich, wie die Neuerfindung des Netzes uns dem ursprünglichen Versprechen des Netzes näherbringen würde. Dieses Versprechen überlebt heute nur noch als neoliberaler Mythos, nämlich, dass das Netz Räume für neue Formen der Zusammenarbeit bietet.

MP: Das Problem ist nicht das Internet an sich, es ist das, was mit ihm passiert ist. Man könnte es als eine Pilzinfektion bezeichnen, die es sich während der Dotcom-Krise eingefangen hat, als sein Immunsystem geschwächt war. Die Infektion hat sich schnell und in der gleichen Weise verbreitet wie Heroin und Casinos es in Zeiten der Austeritätspolitik und großer Ungleichheit tun. Ich glaube, wir haben eine einzigartige Chance, das Internet zu retten, aber mit der richtigen Medizin: dezentrale, lokal betriebene Infrastruktur, die darauf abzielt, das Ökosystem zu schützen und den Gemeinden zu helfen, sich um sich selbst zu kümmern und ihre eigenen wertvollen Ressourcen auf gerechte und menschliche Weise zu teilen.

KW: Die Frage der Zusammenarbeit ist auch im Zusammenhang mit dem Klimawandel von großer Bedeutung. Das Ziel des More World-Projekts ist es, die Ursachen des Klimawandels durch Verflechtungen von Ökosystemen mit kommunalen, staatlichen und globalen Strukturen besser zu verstehen und zu erfassen und letztlich Möglichkeiten zur Bewältigung des Klimawandels aus solchen Verflechtungen heraus zu erforschen - als Ermöglicher der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen uns allen, die vom Klimawandel betroffen sind. Welche Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sehen Sie im Hinblick auf den Klimawandel, wenn Sie sich das Netz als dezentrale, Bottom-up-Infrastruktur neu vorstellen?

MP: GPL – die GNU Public License ist meine Religion. Es ist das einzige System, das entwickelt wurde, um sicherzustellen, dass alle vom Fortschritt profitieren. Jede lokale Verbesserung sollte zu einer Verbesserung für alle anderen werden. Technisch gesehen wissen wir bereits, wie man es macht: Alles, was ein Uber-Auto lernt, wird zu etwas, was jedes andere Uber-Auto weiß. Wir müssen dieses Wissen anwenden, um unser Verhältnis zur Umwelt zu verbessern. Es ist der einzige Weg, um zu überleben.

KW: Und wie sieht das in Bezug auf die anderen großen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen unserer Zeit aus?

MP: Ich denke, was hier gebraucht wird ist ein ganzheitlicher Ansatz. Jedes Protokoll, das sich wirklich darauf konzentriert, Gemeinschaften zu helfen, ihr Verhältnis zur Umwelt zu verbessern und ihre Ressourcen fair und vernünftig zu verwalten, kann zu einem Instrument der sozialen und politischen Gerechtigkeit werden. Nur die Werkzeuge des Dorfes können das Haus des Meisters demontieren. Es ist an der Zeit, radikale Verantwortung für die Werkzeuge unseres eigenen Überlebens einzufordern. Wir sind bereit.

Zum Dossier „Digitalisierung und Demokratie“ der Rosa Luxemburg Stiftung

21.11.2019, 23:02

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