Die Stadt, eine gute Wohnung

Kommentar urbainable – stadthaltig richtet die Aufmerksamkeit des Besuchers auf die Veränderungen, denen wir gegenwärtig und zukünftig vor allem aufgrund des Klimawandels und des Artensterbens ausgesetzt sind. Ein Einführungstext von Matthias Sauerbruch
Fuchs vor der Haustür, Berlin, 2017
Fuchs vor der Haustür, Berlin, 2017

Foto: Erik-Jan Ouwerkerk

Die Sektion Baukunst der Akademie der Künste hat in den letzten zehn Jahren drei große Ausstellungen vorgestellt, die sich mit dem Istzustand der europäischen Stadt auseinandergesetzt haben. In einer dieser Ausstellungen ging es um die Wiederherstellung des schwierigen Gleichgewichts zwischen Stadt und Land in einer Zeit allgemeiner Verstädterung und Landzerstörung. Die zweite handelte vom Verlust der sozialen Kohäsion in der Gemeinschaft und dem Versuch, mit architektonischen Interventionen gegenzusteuern, und die dritte unterzog die Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes einer kritischen Dokumentation.

urbainable – stadthaltig setzt diese Reihe nun fort. Diese Ausstellung richtet die Aufmerksamkeit des Besuchers auf die grundlegenden Veränderungen, denen wir gegenwärtig und zukünftig vor allem aufgrund des Klimawandels und des Artensterbens ausgesetzt sind und sein werden. Die Wortschöpfung „stadthaltig“ suggeriert, dass Nachhaltigkeit und Stadt nicht unabhängig voneinander gesehen werden können, dass die Mechanismen des Funktionierens der Stadt auch der Schlüssel für eine verantwortungsbewusstere Existenz sind. Das soll nicht heißen, dass die zuvor genannten Probleme nun „abgearbeitet“ wären, im Gegenteil, sie sind in der vergangenen Dekade eher noch sichtbarer geworden und gehören ebenso zum Themenkomplex der Nachhaltigkeit wie alle anderen erwünschten und unerwünschten Folgen globaler Megatrends wie der Digitalisierung, des exponentiellen Wachstums und der veränderten Demografie der globalen Bevölkerung sowie der immer größer werdenden sozialen Kluft zwischen Arm und Reich. Dass die Vorbereitungen zu diesem Katalog nun auch noch in eine Zeit fallen, in der sich die Coronavirus-Pandemie in Asien, Europa und jetzt auch Amerika ausbreitet, trägt nicht zur Übersichtlichkeit bei.

“I want you to act as if our house is on fire. Because it is.“ – Diesen Aufruf zur Überprüfung und allfälligen Revolution all unserer CO2-produzierenden Lebensgewohnheiten hat die Aktivistin Greta Thunberg der Weltöffentlichkeit beim World Economic Forum in Davos 2018 entgegengeschleudert. Die damals 16-Jährige wirft den mittleren und älteren Generationen vor, die Zukunft der Jungen ihrem eigenen Wohlstand und ihrer Bequemlichkeit geopfert zu haben. Dabei wiederholt sie in ihrer Analyse des Istzustandes lediglich das, was Wissenschaftler spätestens seit dem Bericht des Club of Rome von 1972 zu den Grenzen des Wachstums in immer größerer Präzision vorhergesagt haben.

Der Klimawandel ist menschengemacht und er kann auch nur – wenn überhaupt – von Menschen aufgehalten oder gebremst werden. Bleiben diese Bemühungen ohne Erfolg, führt unser gegenwärtiger Umgang mit den Ressourcen des Planeten geradewegs in die Katastrophe. Und obwohl die gesamte Weltöffentlichkeit im Augenblick mit der täglichen Realität der Pandemie beschäftigt ist, muss man sich in Erinnerung rufen, dass die Verbreitung des Covid-19-Virus und die sich daraus ergebenden Konsequenzen zwar großes menschliches Leid und enormen wirtschaftlichen Schaden verursachen, aber dass das Faktum der Klimaerwärmung und aller damit assoziierten Probleme immer noch da sein wird, wenn der medizinische Notstand wieder vorbei ist.

Auf der anderen Seite scheint die Erfahrung der Pandemie die Bereitschaft der Menschen zu erhöhen, sich gewissermaßen spontan auf gesellschaftliche Veränderungen einzulassen, die unter normalen Umständen nur nach langen Diskussions- und Verhandlungsprozessen möglich gewesen wären. Die gegenwärtige Situation scheint also das Potenzial beschleunigter und radikaler Reform in sich zu tragen. Sie könnte ein Moment für Visionen und ihre entschlossene Umsetzung sein.

urbainable – stadthaltig ist eine Gruppenausstellung, vergleichbar mit dem Format einer Biennale. Die Mitglieder der Sektion Baukunst wurden eingeladen, der Öffentlichkeit zu erklären, mit welchen Vorschlägen sie in den letzten Jahren oder auch ganz aktuell auf den Zustand der europäischen Stadt reagiert haben oder reagieren und wie sie aus ihrer Tätigkeit eine Vorstellung für die Zukunft ableiten. Etwa die Hälfte der Mitglieder hat einen Beitrag geliefert, und da es sich um Autoren unterschiedlichen Geschlechts und Alters, verschiedener Nationalität und divergierender Tätigkeitsund Interessensfelder handelt, ist das Ergebnis zwangsläufig vielfältig. Die Ausstellung dokumentiert ein Interesse an einer Politik der kleinen Schritte – auf die Gefahr einer gewissen Unübersichtlichkeit hin, aber in der Gewissheit, dass auch in der Vergangenheit die Stadt letztlich aus einem unübersehbaren Flickenteppich einzelner Projekte und Initiativen entstanden ist. Die Ausstellung bietet einen Querschnitt durch die Ateliers der teilnehmenden Akteurinnen und Akteure, sie ist eine mehr oder weniger zufällige Momentaufnahme des Seelenzustands europäischer Architektur zu Beginn der Zwanzigerjahre des 21. Jahrhunderts.

Als Initiative der Sektion Baukunst ist diese Schau mit der Überzeugung verbunden, dass konkrete Interventionen in die gebaute Umwelt auch konkrete Folgen auf die Qualität unseres Lebens haben. Dies ist im kleinen Maßstab leicht nachvollziehbar: Alle wissen eine gut geschnittene Wohnung zu schätzen, freuen sich über eine schon angelegte und gepflegte Parkfläche, halten sich gerne auf einer Straße auf, die nicht nur dem Verkehr dient, sondern auch Raum für ein Café oder ähnliche soziale Angebote bietet, und alle nutzen gerne eine Infrastruktur wie den öffentlichen Nahverkehr, ein Theater oder ein städtisches Schwimmbad. Die Stadt bietet viele Möglichkeiten, das Leben fairer, angenehmer und interessanter zu machen, und ihre Architektur spielt dabei eine entscheidende Rolle.

Wie bauliche Interventionen aber auch tatsächlich dazu beitragen können, die Klimakrise zu mildern oder mit ihr in adäquater Form umzugehen, ist noch zu zeigen. Die Bemühungen der letzten dreißig Jahre haben viele bemerkenswerte Versuche hervorgebracht, eine nachhaltigere Architektur zu produzieren. In aller Nüchternheit muss heute jedoch festgestellt werden, dass es trotzdem nicht gelungen ist, die Gesamtbilanz klimaverändernder Emissionen in ausreichendem Maße einzudämmen – weder auf nationaler, europäischer und schon gar nicht auf globaler Ebene.

Es gibt also unbedingten Handlungsbedarf und vergleicht man den individuellen „ökologischen Fußabdruck“ eines einzelnen Bürgers der unterschiedlichen Länder der Welt, ist es ganz offensichtlich, dass die Industriegesellschaften Europas, Nordamerikas und Asiens eine größere Verantwortung haben als die Schwellenländer Afrikas, Asiens oder Südamerikas. Die Differenz des Ressourcenverbrauchs liegt im Extremfall beim Faktor 10.* Dabei profitieren die reichen Länder noch von den bescheideneren Lebensweisen der ärmeren, während sie durch ihren exzessiven Konsum die Lebensgrundlage für zukünftige Generationen weltweit zerstören.

Wie kann man diesen Circulus vitiosus unterbrechen und den ressourcenintensiven Status quo unserer Lebensweisen eindämmen? Die Antwort auf diese Frage wird einerseits in der konsequenten Entwicklung neuer Technologien zu suchen sein. Ein zügiger Übergang zur ausschließlichen Nutzung erneuerbarer Energien, die Vermeidung von Bedarfen und die Maximierung von Effizienzen im Verbrauch werden uns dem Ziel näherbringen. Andererseits wird es ohne Veränderung unserer Lebensgewohnheiten nicht gehen, denn in den letzten Jahrzehnten haben wir beobachten können, wie ein Großteil der erzielten technischen Optimierungen durch den sogenannten „Rebound-Effekt“ – ein umso expansiveres Konsumverhalten – zunichte gemacht wurde. Technischer Fortschritt ist unverzichtbar, aber ohne eine breite Bewusstseins- und Verhaltensänderung werden wir das gewünschte Ziel nicht erreichen. Aus Sicht der Baukunst bedarf es also integrierter Strategien und eines Ortes, an dem alle Aspekte des Problems überhaupt sichtbar werden, aber auch angegangen werden können. Dieser Ort kann nur die Stadt sein, denn nur hier kann die Gleichzeitigkeit von überschaubaren räumlichen Zusammenhängen, eingeübten sozialen und politischen Ritualen sowie des Potenzials zur Innovation allein aufgrund von Skalierungseffekten zu der Art von Solidarität verdichtet werden, die den Wandel auf den Weg bringt. Städte bieten darüber hinaus die ökonomische und institutionelle Infrastruktur, die es den einzelnen Akteurinnen und Akteuren oder der einzelnen Organisation ermöglicht, die eigene geistige und praktische Arbeitskraft sinnvoll einzubringen. Wie ein solcher Beitrag im Einzelnen aussehen kann, welcher Maßstab und welche Mittel der Intervention zur Verfügung stehen und wie diese Mittel in einzelnen Projekten zu investieren sind, darüber geben die Beiträge dieser Ausstellung Auskunft.

In unserem Alltag werden wir im Augenblick ständig zum Distanzhalten ermahnt, um eine eventuelle Infektionsgefahr so weit wie möglich zu reduzieren. Schulen, Hochschulen, Theater, Konzertsäle, Fußballstadien, Restaurants und Clubs sind per Gesetz geschlossen. Und während wir allein mit der Familie zu Hause sitzen und (gewissermaßen undercover) im Internet vorhandene Mitschnitte von Konzerten und Theaterabenden ansehen, wächst die Sehnsucht nach der Kraft der Stadt, die uns mit ihren beinahe endlosen Möglichkeiten, ihrer sozialen und kulturellen Vielfalt inspiriert und nährt. Vielleicht kann man dies bereits heute als eine Folge der augenblicklichen Pandemie festhalten: Die (mehr oder weniger) freiwillige Selbstbeschränkung lehrt uns, wieder eine Qualität zu schätzen, die wir viel zu lange für selbstverständlich gehalten haben – die Schönheit und den Reichtum einer großen Stadt.

Der Katalog und die Ausstellung sind aus einer intensiven Vorbereitung hervorgegangen und ich möchte mich auch im Namen von Jörn Walter bei allen Menschen bedanken, die dieses Experiment mit auf den Weg gebracht haben. Zunächst ein herzlicher Dank an die Sektionsmitglieder und ihre Gäste, die ihre Arbeit zur Diskussion stellen. Ein großer kollegialer Dank geht an Tim Rieniets für seine kuratorische Arbeit und die Gestaltung der Ausstellung. Herzlichen Dank an das unermüdliche Ausstellungs- und Katalogteam, Carolin Schönemann, den Sekretär der Sektion, Karin Lelonek und Denise Baumeister. Mein besonderer Dank gilt den Autorinnen und Autoren, die bereit waren, mit ihren Essays jeweils aus ihrer Sicht zu einer dichten und vielfältigen Diskussion in diesem Katalog beizutragen. Dieser Dank schließt auch Erik-Jan Ouwerkerk ein, der mit seinen sprechenden Bildern beispielhaft dazu beigetragen hat, die Komplexität unseres Themas einzufangen.

Zu guter Letzt geht unser aller Danksagung an unsere Unterstützer, die Wüstenrot Stiftung und das Immobilienunternehmen Euroboden und den Gerüsthersteller PERI, der uns mit seinen voll recycelbaren Schalungselementen einen Weg eröffnet hat, die Ausstellung im Sinne ihrer Inhalte schlüssig zu gestalten.

08.10.2020, 12:22

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