Synopsis
Gerade schien Nathalies Leben noch in bester Ordnung zu sein: Ein Beruf mit Berufung als Philosophielehrerin, eine eigene Lehrbuchreihe, eine stabile Ehe seit 25 Jahren und zwei fast erwachsene Kinder. Doch dann wird plötzlich alles anders. Ihr Mann verlässt sie für eine Andere, ihre exzentrische Mutter – die sonst Tag und Nacht um Nathalies Aufmerksamkeit buhlt – muss ins Altersheim und der Verlag deklariert ihre Bücher als altbacken und fordert eine Rundum-Modernisierung. Doch Nathalie, die die großen Gedanken stets den großen Gefühlen vorzieht, ist fest entschlossen, erhobenen Hauptes den Widerständen des Lebens zu trotzen und offen zu bleiben für alles, was kommt.
ALLES WAS KOMMT ist ein Frauenporträt und zugleich eine Reflektion über Umbrüche, Älterwerden und Sinnsuche. Isabelle Huppert brilliert in einer Paraderolle als Nathalie und changiert subtil zwischen Trotz und Traurigkeit, Stärke und Zerbrechlichkeit. Mit feinem Gespür für leise Töne inszeniert Mia Hansen-Løve unaufgeregt und intelligent eine persönliche Suche nach neuen Wegen und wurde dafür bei der Berlinale 2016 mit dem Silbernen Bären für die Beste Regie ausgezeichnet.
---
Interview mit der Regisseurin
Welche ist die erste Einstellung in einem Film, die bei Ihnen einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat?
Die allererste Einstellung kann ich nicht nennen, aber dafür eine Szene, die mich einfach nicht loslässt: Es ist letzte Szene aus Eric Rohmers WINTERMÄRCHEN, wenn die Heldin zufällig im Bus auf den Mann trifft, dem sie die ganze Zeit gegen jegliche Vernunft verfallen war. Solche erzählerische Bögen, diese Ausdauer, die am Ende plötzlich gerechtfertigt ist, zwei Menschen wiedervereint: da kommt der Zauber des Kinos zum Tragen. Solche Enden helfen mir, die Beziehung, die ich zum Kino habe, zu verstehen.
War für Sie Kino immer schon ein Mittel, um die innere Funktionsweise von Personen zu untersuchen, die ständig im Werden begriffen sind?
Ja, und es ist auch eine Möglichkeit, eine Existenz durch eine Präsenz zu erfassen. Für mich sind Filme bewegte Porträts und nur das Kino ist in der Lage, so etwas zu leisten. Es geht darum, etwas festzuhalten, das empfindsam, sinnlich und flüchtig ist – wie der Versuch, einen Zugang zum Nicht-Greifbaren, zum Unendlichen zu finden.
Ihre Filme scheinen in besonderer Weise zeitgenössische Sittengemälde mit der Ergründung der Seele zu verbinden, um immer tiefer einzutauchen in die Darstellung des Inneren, Film für Film.
Auf jeden Fall haben all meine Filme diese Suche gemein und darin treten sie auch miteinander in Dialog. Es geht darum, ein Schicksal zum Ausdruck zu bringen, ihm einen Sinn zu geben. Und auch wenn die Geschichten, die ich erzähle, oft nicht besonders glücklich enden, versuche ich sowohl eine Wahrheit zum Ausdruck zu bringen als auch darin eine Art Fülle zu finden. Das erwarte ich vom Kino.
Ihre Filme lassen sich nicht in Schubladen stecken wie z.B. die des „psychologischen Dramas”.
Wenn ich ein Drehbuch schreibe, denke ich vor allem an Dinge wie Rhythmus, Musikalität und viele andere Dinge, jedoch kaum an eine eventuelle „psychologische Unschlüssigkeit“ einer Figur. Was wir wissen müssen, erfahren wir in der Regel nach und nach, wenn wir eine Figur begleiten, ohne dass zusätzlich noch etwas erklärt werden muss. Ich versuche sogar – beim Schreiben wie auch im Schnitt – zu viele Informationen zu vermeiden. Wenn ich spüre, dass eine Szene nur einem bestimmten Zweck dient, dann schneide ich sie heraus. Wenn ich sie im Film behalte, dann weil sie von existenziellem Wert ist, von einer besonderen Poesie.
In ALLES WAS KOMMT sind die Schicksale der Figuren noch weniger als sonst in Stein gemeißelt. Sie filmen das Leben als ewige Chance, von vorne zu beginnen.
Ich bin demgegenüber eher zwiegespalten. Wie ist es möglich, gleichzeitig an Freiheit und Schicksal zu glauben? Das erzeugt eine Spannung zwischen der Überzeugung, dass man sich einem gewissen unkontrollierbaren Fluss hingeben muss, und dem Glauben an das mögliche Eintreten von Ereignissen in diesem Fluss.
Es scheint oft so, als wüsste Nathalie nicht, was der nächste Tag und noch nicht einmal der nächste Moment bringen würde. Rührt das aus Freiheiten, die Sie sich bereits beim Dreh erlauben? Bleiben Sie immer nah am Drehbuch oder fordern Sie gern den Zufall heraus?
Ich mache vor dem Dreh keine Proben, ganz einfach weil die Wahrhaftigkeit einer Szene in hohem Maße abhängt vom spezifischen Drehort – dem Licht, der Atmosphäre und wie diese Faktoren die Schauspieler beeinflussen. Drehbuch, Struktur und Dialog sind sehr wichtig, aber das, worum es am Set geht, ist, das Alles zum Leben zu erwecken. Und das geschieht durch die Interaktion zwischen den Schauspielern und dem Regisseur und kann nur in diesem bestimmten Moment entstehen. Es kann manchmal etwas dauern, bis sich alles fügt – ob nun so, wie man es sich vorgestellt hat oder doch in eine ganz andere Richtung. Es gibt da keine Regeln, außer dass man immer offen und scharfsinnig bleiben muss.
Sie sind eine junge Filmemacherin. Doch in ALLES WAS KOMMT setzen Sie sich mit dem Alter auseinander und untersuchen Lebensphasen, die Sie selbst noch nicht erlebt haben.
Ich fühlte mich eigentlich nie meinem Alter entsprechend. Das beeinflusst mein Schreiben in fast schon pathologischem Ausmaß. Denn mit diesem Gefühl wuchs auch eine Melancholie, von der mich das Kino schließlich wieder befreite. Du schreibst, um dich von deinen Dämonen zu befreien, während du fortwährend zu ihnen zurück kehrst. Wenn ich drehe, verschwindet bei mir dieses Gefühl, von der Welt getrennt zu sein. Die Tatsache, dass ich in den letzten zehn Jahren nur am Schreiben und Drehen war, rührt aus meiner Sehnsucht nach dem Gefühl, die Gegenwart neu zu entdecken. Welchen Alters oder Geschlechts meine Figuren sind, spielt überhaupt keine Rolle. Wenn ich drehe, fühle ich mich Eins mit ihnen.
In ALLES WAS KOMMT geht es um eine Lehrerin, die ihren Beruf liebt. Sie behandeln ein in Filmen oft vernachlässigtes Gebiet: die Welt der Ideen.
Nathalies Schicksal, ihre emotionale Standhaftigkeit während der Trennung von ihrem Mann, rührt aus ihrer Beziehung zum Denken und zum Lehren. Der Mangel des Kinos an Darstellungen von Intellektuellen und die Entwicklung von Ideen, hat mich dazu getrieben, einen Film über eine Philosophielehrerin zu machen, die von ihrem Job besessen ist. Es gibt sehr wenige Filme, bei denen man weiß, welche Zeitung eine Figur liest, welchen Ideen sie anhängt und welchen politischen Idealen sie zugeneigt sind. Ich versuche stets, meine Figuren in der realen Welt zu verankern, aber ALLES WAS KOMMT bot mir die Chance, mich vollends dieser Beziehung zu Büchern und Ideen zu widmen. Das lässt sich nicht auf eine Beschreibung des sozialen Umfelds reduzieren. Es verlangt auch eine Form von Präzision, die man nicht ausschließlich dokumentarisch, sondern auch poetisch deuten kann. Ich bin berührt, wenn ich die Namen der Orte erfahre, die die Figuren besuchen. Genauso bei den Namen der Magazine, die sie lesen, oder der Musik, die sie hören. Patrik Modianos Obsession mit Namen, Orten und Daten als greifbare Fixpunkte ist ein Aspekt seiner Inspiration, mit dem ich mich immer identifizieren konnte. Das hat mit der Zerbrechlichkeit des Lebens zu tun und unserem Wunsch, seine Spuren zu erhalten.
Woher kam die Figur der Nathalie? Wie hat sie sich in Ihre Fantasie geschlichen?
Auf der einen Seite stand die Beziehung meiner Eltern Vorbild, dieses intellektuelle Band, das sie verbunden hat, und die Energie meiner Mutter. Auf der anderen Seite interessierte mich die Wucht einer Trennung und die Schwierigkeit, die einige Frauen ab einem gewissen Alter damit haben, der Einsamkeit zu entkommen. Aber während des Schreibens hatte ich immer auch Isabelle Huppert in der Hauptrolle im Kopf. So entstand Nathalie in einer Mischung aus meinen Erinnerungen und Beobachtungen sowie aus Isabelle. Das Drehbuch zu ALLES WAS KOMMT schrieb sich sozusagen fast von selbst, obwohl ich Angst hatte vor dem Thema und seiner Wirkung auf mich. Es machte mir Angst wegen dieser eigenartigen Traurigkeit der weiblichen Natur, aber es musste sein. Ich wollte mein Ziel ohne Angst und ohne Selbstzensur erreichen. Angst hätte mich z.B. dazu getrieben, eine romantische Begegnung einzufügen für ein optimistischeres Ende. Selbstzensur hätte dazu geführt, aus Nathalie etwas anderes zu machen als eine Philosophielehrerin. Je mehr ich daran arbeitete, desto klarer wurde mir die Verbindung zwischen dem Lehren von Philosophie (wie ich es erlebt habe durch meine Eltern) und dem, was Kino mir bedeutet. Das, was sich durch meine Eltern auf mich übertragen hat, und was ich mit meiner Arbeit weiterführe, ist die Suche nach Sinn; ständiges Fragen; außerdem auch ein Drang zur Klarheit und eine Beschäftigung mit Integrität. Am Ende sind Kunst und Philosophie für mich zwei Wege zu ein und derselben Sache, und das ist unsere Verbindung zum Nicht-Sichtbaren. Die Stärke und der Mut, die uns unser Fragen geben kann, bilden den Kern des Films.
In Filmen werden Figuren oft durch ihren sozialen Hintergrund definiert. Hier scheint es, als würden sie definiert von den Büchern, die in ihren Regalen stehen. Nathalie und ihr Mann haben eine fast schon biologische Beziehung zu ihren Büchern – als wären diese das Rückgrat ihrer Existenz.
In der Wohnung, in der ich aufwuchs, war die Büchersammlung der größte Luxus. Ich glaube nicht, dass ich an einem Ort ohne Bücher leben könnte, und ich achte sehr penibel darauf, was in den Bücherregalen meiner Filme steht. Es geht nicht nur darum zu zeigen, dass die Figuren gebildet sind, sondern auch um den Spaß, den man bei der Auswahl, beim Sammeln von Büchern hat. Eine Reihe mit Reclam-Heften oder eine Reihe mit Taschenbüchern, eine Reihe mit gelben Buchrücken oder eine bunte Reihe – das alles sagt verschiedene Dinge aus. Wenn etwas in den Regalen unecht ist, merke ich das sofort. Darüber hinaus lesen die Menschen in meinen Filmen auch oder gehen ins Kino. Sie interagieren mit den Werken, die sie zu dem machen, was sie sind. So, wie es im wirklichen Leben auch ist. Im Gegensatz zur üblichen Meinung denke ich, dass Menschen der Kunst im Leben mehr Raum geben als es in Filmen gezeigt wird. Gegen Ende, im Vercors, liest Nathalie „Der Tod“ von Vladimir Jankélévitch. Es ist ein Bild aus einer meiner persönlichen Erinnerungen: Kurz nachdem sich meine Eltern trennten, sah ich meine Mutter dieses Buch lesen. Es hatte eine Widmung ihres ehemaligen Universitätsprofessors, den sie vergötterte. Es brachte mich zum Lachen, sie in diesem speziellen Moment in den „Tod“ vertieft zu sehen. Gleichzeitig schüttelte es mich. Das war vermutlich die Geburtsstunde von ALLES WAS KOMMT. Es gibt oft ein Bild, das alles zusammenfasst. In diesem Fall drückt es den Dialog zwischen Nathalies Leben und ihrem Beruf aus – den gleichen Dialog, der sich für mich zwischen Kino und Leben entspinnt.
Isabelle Huppert war bereits in unzähligen Filmen zu sehen. Und doch gelingt es ihr mal wieder, uns zu überraschen mit der ultimativen Verkörperung eines Charakters – wie sie sich bewegt, den Raum einnimmt, redet, sich sonnt, denkt...
Abgesehen davon, dass ich sie für die größte französische Schauspielerin halte, konnte ich mir niemand anderen in der Rolle vorstellen. Neben den allseits bekannten Facetten ihres Talents (Finesse, Energie, Humor, eine gewisse Ungezähmtheit, etc.) hatte ich auch die Isabelle Huppert im Kopf, die ich abseits von Dreharbeiten traf, und die man nicht auf die Summe der Figuren, die sie gespielt hat, reduzieren kann. Da gab es etwas anderes, das meine Aufmerksamkeit auf sich zog, eine gewisse Zerbrechlichkeit und eine besondere Form der Ruhe – im totalen Kontrast zu den zähen Rollen, die sie oft spielt. Das wollte ich unbedingt herausholen und sie zu etwas Sanfterem, Zarterem oder gar Unschuldigem lenken.
Die Wahl der Schauspieler – sei es der Ehemann, die Mutter, die Kinder oder die Schüler und Studenten – ist absolut punktgenau. Wie erreichen Sie eine solche Authentizität?
Wie viele andere Regisseure bin ich der Meinung, dass wenn man die richtigen Schauspieler gefunden hat, die Arbeit zu 95% getan ist. Es geht darum, wie man einerseits auf jeden Einzelnen blickt und andererseits das große Ganze im Blick behält. Dann ist das Vertrauen sehr wichtig, das man den Schauspielern entgegen bringt, und wie man sie leitet – insbesondere Laiendarsteller. Am Set habe ich eine Methode, die ich nur schwer definieren kann. Sie ist einerseits intuitiv und andererseits sehr konkret. Gespräche leben in hohem Maße von Blockaden, Stimulationen, Geschwindigkeiten und anderen kleinen Details, die sehr viel aussagen. Ich glaube, je weniger man solche Dinge mit den Schauspielern bespricht, umso glücklicher sind sie. Es gibt nichts Schlimmeres, als einen Schauspieler mit all deinen psycho- logischen Bedenken zu beladen. Ich bin sehr skeptisch was abstrakte Anweisungen angeht. Ich glaube an die Wahrhaftigkeit von Szenen, die man frontal im Hier und Jetzt in Angriff nimmt.
Neben Ihrer Heimatstadt Paris filmen Sie viel in der Natur: das Meer, die Küste der Bretagne, die Berge, den Schnee. Natur spielt eine große Rolle in dem Film und für Nathalies innere Reise.
Ja, das gilt für all meine Filme. Der Wechsel zwischen Stadt und Land, von einer Jahreszeit zur nächsten, ist eine Konstante, der ich nicht entfliehen kann. Vermutlich hat es mit dem Lauf der Zeit zu tun und mit einer recht impressionistischen Art, Filme zu machen. Aus demselben Grund weise ich den Orten in meinen Filmen große Bedeutung zu. Von Orten, die einen eigenen Charme, eine Seele, eine Geschichte haben, fühle ich mich angezogen. Manche Regisseure suchen eher nach dem Gegenteil und fühlen sich freier und wohler an neutralen oder gar aseptischen Orten. Ich muss einen Fluss spüren, einen Vibe, Spuren von Leben, um eine Verbindung herzustellen und um zu wissen, wo ich die Kamera platziere. Aus diesem Grund könnte ich nie einen Film in einem Studio drehen.
Wie in all Ihren Filmen, stellt die Musik eine Art Gerüst für den Film dar. Der Song am Ende lässt viel Raum für Interpretationen. Ist dies ein Weg um zu sagen, dass der Film hier nicht notwendigerweise endet, sondern in uns weiter andauert?
Es gibt eine Ambivalenz, die aus meiner Beziehung zum Leben herrührt, und der ich versuche, treu zu bleiben. Sie besteht im Nebeneinanderstellen von scheinbar widersprüchlichen Gefühlen. In der allerletzten Einstellung ist die vorherrschende Emotion die der Ohnmacht angesichts der Zeit: Das Gefühl, dass alles, was wir tun können einfach nur darin besteht, die Kraft zu akzeptieren, die uns zum Dahingleiten zwingt – in diesem Fall die Ankunft eines neuen Lebens zu begrüßen, eine alles vereinnahmende Gegenwart. Wir wünschen uns, dass Nathalie jemanden Neues kennenlernt, aber der Film zeigt dies nicht. Es ist ein Kind, das sie am Ende in ihren Armen hält und der Song könnte auch ein Schlaflied sein. Dennoch ist es ein Liebeslied und es könnte auch an jemanden gerichtet sein, den Nathalie noch kennenlernen wird. Es ist ein sinnlicher Song über Begehren und Hoffnung, welche so unzähmbar sind wie die Zeit unbesiegbar ist. Zwischen diesen Kräften herrscht ein Kampf, und in diesem Kampf mag wohl dieses seltsame Gleichgewicht liegen, durch das wir uns lebendig fühlen.
Das Interview führte Laure Adler im Januar 2016 in Paris.