Paula Modersohn-Becker (1876-1907) – eine Spurensuche im Heute
„Ich glaube, was man in den ersten zehn Lebensjahren aus dem Küchenfenster sieht, bleibt wichtig.“
Wolfgang Kohlhaase (Drehbuchautor)
Wenn man Wolfgang Kohlhaases Satz einfach als gegeben annimmt – und wer würde es nicht tun wollen? –, dann hat Paula Modersohn-Becker in ihren ersten zehn, sogar zwölf Lebensjahren eine nicht zu heftig pulsierende, dafür architektonisch interessante, kulturell reiche und friedliche Stadt gesehen. Paula wurde in Dresden zudem mit der prallen Schönheit naher Gärten und Parks verwöhnt, lernte während häufiger Ausflüge kennen, was eine sich gediegen anschmiegende Landschaft vor Stadtgrenzen mit den Menschen macht.
Nicht zuletzt hatte sie all ihre Lieben in der Nähe – Großeltern, Tanten, Onkel, deren Kinder. Und auch das hat Paula geprägt: Sie wurde in Dresden mit dem Tod konfrontiert: Beim gemeinsamen Spiel wurde Cousine Cora in einer Hosterwitzer Kuhle verschüttet. „Das erste Ereignis in meinem Leben“, schreibt Paula. Sie war zehn. Es sollte ein Drittel ihres Lebens gewesen sein.
Dresden – nah und näher
Viele Wege, die die Eltern Carl Woldemar und Mathilde Becker mit ihrem Nachwuchs genommen haben, kann man heute noch (er-)laufen. Von der Friedrichstadt aus, wo Paula am 8. Februar 1876 geboren wurde, bis hin zu den prominenten Sehenswürdigkeiten im Dresdner Zentrum vergeht höchstens eine halbe Stunde Schlenderzeit. Auch das Grün der Peripherie ist nah. Der „Weiße Hirsch“ und die sich anschließende Heide waren schon damals mühelos zu erreichen. Mit der Droschke ...
Das einst idyllische Ostragehege, das Mutter Becker 1887 als „verlorenes Paradies“ bezeichnete, ist es heute in mehrfachem Sinne, weil arg bebaut. Auch vom dichten Ensemble der sich anschließenden historischen Friedrichstadt ist nicht mehr viel zu finden. Die Weltkriegs-Bomben des Jahrgangs ‘45 haben Wunden hinterlassen, die nicht zu kaschieren waren. Das erste Wohnhaus der Beckers in der Schäferstraße, Ecke Menageriestraße, wurde komplett abgerissen, ebenso ist deren dritte Wohnung nahe der Annenkirche nicht mehr zu finden. Allein das Gebäude in der Friedrichstraße 46, damals Nr. 29, in dem sich im Erdgeschoss die zweite Wohnstatt der Familie befand, blieb erhalten. Sie dient seit mehreren Jahren dem Friedrichstädter Krankenhaus als Kinderhaus.
Doch keine Tafel erinnert dort an Paula. Wie sich Dresden mit ihr als Künstlerin überhaupt sehr schwer getan hat. Ausstellungen mit Modersohn-Beckerschen Werken waren nach 1909 für die wenigen Jahre bis 1933 zwar zu besuchen, aber rar. Die „Entartung“ in der Kunst zu finden, fiel den Nazis danach auch bei Paulas Arbeiten nicht schwer. Die Lücke klafft bis 2003. Jahrzehntelang befand sich in den renommierten Dresdner Kunstsammlungen kein einziges eigenes Bild von ihr. Erst 1996 erhielt die Galerie durch die Familie von Paulas Neffen Wulf Becker-Glauch eine Schenkung mit fünf Gemälden und einer Zeichnung. Nicht alle Werke sind als Einheit öffentlich zu sehen. Allerdings: Paula ist endlich an ihrem Geburtsort vereint mit von ihr so geliebten Meistern wie Rembrandt – ein spätes, berührendes Zeichen.
Dem Dresdner (Hobby-)Kunstforscher Bernd Hünlich und seiner „Überlebenshilfe“ für Paula ist es zu verdanken, dass es umfassend recherchierte Spurensuchen über ihre Verwandtschaft mütter- wie väterlicherseits gibt, die in Sachsen fest verankert war und in Dresden in Familiengräbern auf dem Alten Annen- und Trinitatisfriedhof beigesetzt ist. Hünlichs Veröffentlichungen in Tageszeitungen und Editionen sind von besonderer Relevanz, denn in zu vielen Biografien wird über die Dresdner Zeit von Paula Modersohn-Becker sträflich „hinweggefegt“.
Sie selbst kam immer wieder gern zurück. Allein oder später mit Otto Modersohn wanderte sie in der Sächsischen Schweiz, besuchte Verwandte im Erzgebirge und auf dem Hausberg in Pillnitz, ruhte an der Elbe, zeichnete Badeanstalten im Fluss, die heute längst verschwunden sind, sah bewegende Kunst im gleichsam nicht mehr vorhandenen Ausstellungspalast auf der Stübelallee, wo auch „die Worpsweder“ reichlich vertreten waren und Preise bekamen. Vertraute Orte einer behüteten Kindheit – neu entdeckte Orte für eine besonders wache junge Frau.
In den Norden
1888 zieht Familie Becker nach Bremen. Interessant ist, dass es schon um die Jahrhundertwende zwischen Bremen und Dresden Verbindungen geben sollte und zwar in Gestalt von Gustav Pauli, der an der Elbe unter anderem im Kupferstichkabinett und an der Kunstakademie arbeitet, später an der Weser als Direktor der Bremer Kunsthalle entscheidenden Einfluss für das wahrhaftige Erkennen von Paulas Kunst als herausragenden Beitrag zur Moderne haben wird. Auch Kunsthistoriker Emil Waldmann, zunächst Direktor des Dresdner Kupferstichkabinetts und später Paulis Nachfolger in der Bremer Kunsthalle, steht für die Achse Dresden – Bremen. Wie in Dresdens Friedrichstadt liegen in Bremen Bahngleise dicht am neuen Wohnort. An Vaters Beruf als Eisenbahningenieur kommen die Beckers nicht vorbei. Das jetzt „Weiße Haus“ in der heutigen Schwachhauser Heerstraße 23, in dem Paula Becker neun Lebensjahre verbracht und in einem Nebengelass ihr erstes Atelier hatte, ist noch immer privates Wohngebäude. Als „Haus Paula Becker“ ist es jedoch an mehreren Tagen im Monat öffentlich zugänglich. Ein Kunstkabinett ist hier ansässig, seit 2007 werden Paulas Geburtstage vom nach ihr benannten Verein begangen, Expositionen sind zu sehen, Lesungen zu hören – gelebte Authentizität. Bremen bleibt das „Epizentrum“, will man sich der unverfälschten Hinterlassenschaft von Paula hingeben: ihren Bildern. In dieser Stadt, wo 1899 in der „Weser Zeitung“ dieser frühe und schmerzliche Verriss stand, der sie aber weder als Frau, noch als Künstlerin aufgeben ließ. „Es wird was“, sagte Paula oft zu sich selbst und zu Menschen, die um sie wussten.
220.000 Besucher kamen über ein Jahrhundert später zur Ausstellung „Paula Modersohn-Becker und die Kunst in Paris um 1900“, die 2007/2008 in der Kunsthalle Bremen gezeigt wurde. In Mappen archiviert „schlafen“ dort auch Dutzende ihrer Zeichnungen und Skizzen. Wer weiß schon, dass sie sich in Entwürfen für Schokoladen- und Zigarettenwerbung ausprobiert hat? In einem „Paula-Raum“ sind dauerhaft über zehn Gemälde von ihr zu sehen, insgesamt befinden sich rund 30 Werke im Besitz der Kunsthalle, weil dort bereits vor 100 Jahren klug eingekauft wurde.
Und dann die „eigenen“ mehr als vier Wände! 2017 wird das Paula Modersohn-Becker Museum in Bremens legendärer Böttcherstraße 90 Jahre alt. Es gilt weltweit als erstes für eine Malerin errichtetes Museum. In Auftrag gegeben wurde es von Ludwig Roselius, Kaufmann, Kunstsammler und Erfinder des koffeinfreien Kaffees. Etwa 60 eigene Paula-Werke befinden sich hier, die zusammen mit Leihgaben gezeigt werden und für sich oder im wechselnden Kontext zu anderen Künstlern hängen. Gerade ist es Emil Nolde.
Und ja, obwohl sich das abgegriffene Wort vom „Highlight“ eigentlich verbietet, das „Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag“ gehört dazu ... Die 1976 von Paulas Tochter Tille initiierte Paula Modersohn-Becker Stiftung mit Sitz in Bremen verfügt als Nachlassverwalter des Œuvres über keine eigenen Ausstellungsräume für 50 Gemälde sowie etwa 500 Zeichnungen und Druckgrafiken. Kooperation ist also der Schlüssel zur Präsentation von Werk und Nachlass. 2017 ist zum Beispiel die Herausgabe des Briefwechsels zwischen Paula und Otto vorgesehen (162 Briefe!), ergänzt durch Tagebuchaufzeichnungen des Paares, gemeinsam editiert von der Paula Modersohn-Becker- sowie der Otto-Modersohn-Stiftung.
Die öffentliche Wahrnehmung von Paula hat nach ihrem 100. Todestag im Jahr 2007 noch einmal einen deutlichen Schub bekommen, auch international. 2017 plant das Bucerius- Kunstforum Hamburg eine Einzelausstellung, wer sucht, kann ansonsten vor allem im Von der Heydt-Museum Wuppertal sowie im Landesmuseum Hannover fündig werden, denn beide Häuser nennen außerhalb Bremens den größten Bestand an Paula-Bildern ihr Eigen.
Oder man hat die beiden großen Personalausstellungen im Lousiana Museum of Modern Art in Humlebæk, nahe Kopenhagen (2014/15), und im Musée d’Art moderne de la Ville de Paris (2016) gesehen. Umfassenderes als dort ist kaum vorstellbar, gestaltet sich die Ausleihe sehr vieler Werke aufgrund ihres konservatorisch schlechten Zustands als schwierig.
Paris? Paris. Paris!
Viermal ist Paula Modersohn-Becker in die französische Hauptstadt gereist, um dort für längere Zeit zu leben und zu arbeiten. Nach dem Betrachten von PAULA könnte Paris ein wenig anders aussehen für denjenigen, der selbst den „Staub von den Füßen“ seiner Stadt schütteln mag, wie Paula es mit Bremen getan hat. Beim Gang durch die Rue Laffitte vielleicht, wo sich Kunsthändler an Kunsthändler reihte und Paula beim Entdecken von Cézanne der Blitz traf. Kunsthandel aber ist dort längst verschwunden.
Ein Flanieren im Jardin du Luxembourg, wo auch Paula entspannte, bekommt eigenes Flirren, die nicht mühelose Suche nach Häusern in Montparnasse und St. Germain ebenso, in denen sie gewohnt und gemalt hat: In der 9, Rue Campagne Première vielleicht, in der Rue de la Grande Chaumière, wo die Académie Colarossi ihre Räume hatte und sich heute mit dem „Wadja“ ein Restaurant befindet, das Kunststudenten der benachbarten „Académie de la Grande Chaumiere“ frequentieren. In die 29, Rue Cassette fahren oder im Hotel de l‘Avenir in der 65, Rue Madame übernachten! Und wie wäre es mit einem Croissant in der Brasserie „Le Bal Bullier“ in der Avenue de l’Observatoire? Alles Paula-Orte.
Worpswede
Auch in Worpswede werden längst Croissants verkauft. Die Vermutung ist der Gewissheit gewichen, dass das Dorf ohne die 1889 gegründete Künstlergruppe um Fritz Mackensen, Otto Modersohn & Co. eben nur ein Moor-Dorf in der Hamme-Niederung geblieben und als interessanter Ort für Kultur- und Kunstliebhaber nicht ansatzweise Bedeutung erlangt hätte. 25 Kilometer nördlich von Bremen das Echte zu finden, Paulas Spuren, das Magische hinterm Backstein, fällt zunehmend schwer.
Sich in der Dämmerung Neu-Helgolands an die Hamme zu setzen, wo man wieder schwimmen kann, lässt am ehesten die leise Ahnung altgefühlter Stimmung aufkommen. Flachland als Statement. Eine Kahnfahrt in schwarzen Booten mit braunen Segeln kann man buchen. Über Wege spazieren, Heinrich Vogelers Atelier- und Wohnhaus Barkenhoff besuchen, wo schon Paula tanzte und Rilke der Schwermut erlag. Im Brünjeshof ist in den Räumen von Paulas Lilien-Atelier gar eine Ferienwohnung zu mieten. Der Hof des Bauern Brünjes galt für das Ehepaar Modersohn und die Kinder damals als Option zum gemeinsamen Wohnen und Arbeiten, wäre Paula am 20. November 1907 nicht so früh verstorben. Auf natürlichste Weise sehr nahe kommt man ihr aufgrund eines „dummen und bösen Vergehens“, wie es der Kirchenvorstand Worpswede dereinst benannte. PAULA als Film wurde durch diese „Tat“ eine seiner schönsten Szenen geschenkt. Zwei junge Frauen hatten spontan und übermütig die Glocken geläutet ... Noch immer sind in der Zionskirche auf dem Weiherberg jene Blumen zu betrachten, die Paula im Jahre 1900 auf einige Säulen gemalt hat, besser: malen musste. Als Strafarbeit zusammen mit ihrer Freundin, der Bildhauerin Clara Westhoff, die dort ihrerseits beeindruckende Engelsputten mit eindringlichen Gesichtern erschuf. Nicht immer, so ist in Worpswede zu hören, wurde dieser Schatz wirklich geschätzt. Offene Risse neben verblassenden Farben erzählen davon.
Auch die viel besuchte und fotografierte Grabstätte von Paula, ihrer Tochter Tille sowie Otto Modersohns erster Frau Helene und deren Tochter Elsbeth, unweit der Kirche gelegen, erzählt eigene Geschichten, stellt eigene Fragen. Warum bekam Paula nicht das Grab, das sie sich gewünscht und selbst beschrieben hatte? Schlicht sollte es sein, mit zwei Wacholderbüschen, Rosen, einer Bank. Wie hätte ihr Bernhard Hoetgers eher wuchtige Plastik einer liegenden Frau mit Kind, die stattdessen dort steht, gefallen? Paula hatte ihr gewünschtes Grab nur für kurze Zeit: Als Kunstprojekt anlässlich ihres 100. Todestages, da sie in Worpswede präsent war wie nie. Seit fast 20 Jahren sind die geretteten und sanierten Räume des ehemaligen Wohnhauses zugänglich, das Otto noch nach Paulas Plänen umbauen ließ. Schreibtisch, Stuhl, ihre Sitzbank, Pariser Mitbringsel wie Engelleuchter, Teppich, Spiegelvorhang sowie Fotos, die vom damals über seinen Arbeitsort Dresden hinausreichend begehrten Porträtfotografen Hugo Erfurth stammen, korrespondieren im Museum am Modersohn-Haus von Familie Kaufmann mit Originalgemälden. Die Kaufmanns besitzen, neben anderen Werken der ersten Worpsweder Künstlergeneration, 21 davon. Das alte Gebäude mit seinem angrenzenden Neubau steht als private Einrichtung dem institutionellen Worpsweder Kunstbetrieb zur Seite. Sigrun Kaufmann übrigens, Witwe des Kunsthändlers Wolfgang Kaufmann, Schwiegertochter des Kunstsammlers Bernhard Kaufmann und große Paula-Verehrerin, hat sich als Kind in den fünfziger Jahren, da sie erstmals mit der Mutter nach Worpswede kam, noch im Teufelsmoor verlaufen. Das will nicht mehr gelingen. Das Moor ist trocken.
Sagt man Worpswede, sollte man immer auch Fischerhude meinen. Wenn es stimmt, dass Maler Fritz Overbeck schon 1896 auf einer Wanderung ins knapp 15 Kilometer entfernte Nachbardorf zu Otto Modersohn sagte, sie hätten sich „in Worpswede geirrt, Fischerhude übertrifft es noch an malerischen Reizen“, dann ahnt man, weshalb, wenngleich anders motiviert. Dort, wohin Otto 1908 zog, ein drittes Mal heiratete, zwei Söhne bekam, bis zum Tod im Jahre 1943 zur Miete wohnte, unablässig malte, wo er beerdigt liegt und von seiner Familie ein prächtiges Museum bekam, ist die zeitlose wie zeitgenössische Existenz als behutsam sanierter Traditionsort und lebendiges Künstlerdorf wirklich gegeben. Und im Museum hängen dieser Tage acht Bilder von Paula neben bis zu 85 von Otto. Die Verbindung hält...
Was bleibt
Paula als „Dresdner“, „Bremer“ oder „Worpsweder“ Malerin zu bezeichnen, stimmt immer nur zu mehr oder minder großen Teilen. „Paula Modersohn Becker – Malerin“ trifft es zu einhundert Prozent. Und genügt.
Besonderer Dank für die Unterstützung bei dieser „Spurensuche“ an Dr. Anne Buschoff, Sigrun Kaufmann und Dr. Frank Schmidt
Autor: Andreas Körner