Director's Statement
Der erste Drehtag von „Phoenix“: Ein Birkenwäldchen, ein Mann in Wehrmachtsuniform, Frauen in KZ-Kleidung. Als Vorlage hatte uns ein Bild der Shoa-Foundation gedient, in grobkörniger Farbe, eine Waldkreuzung in einem impressionistischen Morgenlicht – und erst auf den zweiten Blick darin der Tod, die Leichen im Gras. Schon beim Drehen haben wir gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Das Licht war gut, die Kadragen klar, das Bild schien uns auf präzise Art nachgestellt. Aber es ging nicht. Das Nachstellen des Schreckens, die Kinematographie in und um Auschwitz– als würden wir sagen: Jetzt ist es Zeit, jetzt fassen wir das alles als Erzählung zusammen, jetzt wird es eine Ordnung. Das Material vom ersten Drehtag haben wir weggeschmissen.
Raul Hilberg hat geschrieben, dass sich der Terror der Nazis und der anhänglichen Bevölkerung im Grunde aus Techniken speiste, die lange bekannt waren. Das Neue, das waren die Vernichtungslager, die industrielle Vernichtung der Menschen. Für die alten Techniken gab es noch Literatur, Erzählungen, Gesänge. Für den Holocaust gibt es sie nicht mehr. Ein Text, der uns in der Vorbereitung sehr beeindruckt hat, war „Ein Liebesversuch“ von Alexander Kluge. Die Geschichte spielt in Auschwitz, die Nazis schauen durch Beobachtungsschlitze einem Paar in einem geschlossenen Raum zu, das sich einmal leidenschaftlich geliebt hat, so steht es in den Akten. Die Naziärzte versuchen diese Liebe wieder zu erwecken. Das Paar soll miteinander schlafen. Es soll verifiziert werden, ob die Sterilisation der Frau erfolgreich war. Man versucht alles: Champagner, rotes Licht, das Abspritzen mit eiskaltem Wasser, so dass vielleicht das Wärmebedürfnis die beiden wieder zusammenführt. Aber es passiert nichts. Die beiden schauen sich nicht mehr an.
Auf eine merkwürdige Weise gewinnt die Liebe durch das Scheitern der Nazi-Ärzte: Als eine, die einmal war und die von den Verbrechern nicht mehr geweckt werden kann. Ich glaube, das ist der wichtigste Text für uns gewesen. Ist es möglich, über den tiefen, nihilistischen Riss, den die Nationalsozialisten in Deutschland vollzogen haben, zurückzuspringen und die Gefühle, die Liebe, die Barmherzigkeit, das Mitleid, überhaupt das Leben zu rekonstruieren? Nelly sieht nicht ein, dass keine Erzählung, kein Gesang, kein Gedicht, dass die Liebe nicht mehr möglich sein soll. Sie will die Zeit umkehren. Diese Menschen, die etwas nicht einsehen und dadurch widerständig und störrig sind, interessieren mich.
Christian Petzold
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Der Riss
Christian Petzold, Nina Hoss, Ronald Zehrfeld und Nina Kunzendorf über den Film
ANFÄNGE
[CHRISTIAN PETZOLD] »Im Vertigo-Heft der „Filmkritik“ gab es einen Beitrag von Harun Farocki, der hieß „Vertauschte Frauen“. Und eines der Beispiele, die er in diesem Essay erwähnte, war das Buch von Montheilet, „Der Asche entstiegen“, das dem Film zugrunde liegt. Später, als ich den Harun Farocki kennengelernt habe, haben wir viel über dieses Buch gesprochen, auch darüber, dass es vielleicht nur in Frankreich möglich ist, so eine Geschichte zu erzählen, so eine Mischung aus Vertigo und der Wiederkehr aus dem Lager. Und da haben wir angefangen, darüber nachzudenken, über das deutsche Nachkriegskino, woher das kommt, dass wir keine Komödien haben, dass wir kein Genre haben, und dass der Nationalsozialismus einen Abgrund geschaffen hat, auf den man immer wieder zurückgeworfen wird. Als ich Jahre später dann mit „Barbara“ anfing und dieses Liebespaar, das Nina Hoss und Ronald Zehrfeld spielen, vor mir hatte, dachte ich, dass man das mit denen beiden vielleicht erzählen könnte. Und so sind wir auf die Idee gekommen, uns das nochmal vorzunehmen, ob man das nicht doch in Deutschland erzählen könnte, und wie man das erzählen könnte.«
HEIMKEHR
[NINA HOSS] »Je mehr ich mich mit der Figur befasst habe, desto mehr wurde mir bewusst, dass es gar nicht so viele Berichte gibt, die direkt von der Zeit „danach“ handeln. Die Nelly kommt direkt aus einem Konzentrationslager, sie hat überlebt, sie wird gerettet: Wie ist das dann, wenn du noch direkt im Trauma steckst? In welchem Zustand befindest du dich da? Kannst du über die Erfahrungen überhaupt schon reden? Das war für mich ein entscheidender Punkt, in was für einem Zustand meine Figur zu dem Zeitpunkt ist, wo wir sie kennenlernen. Im Lager wurde man „entmenschlicht“, alles, was einen Mensch sein ließ, wurde zu zerstören versucht. Wie kannst du dich dem wieder annähern, dem, was dich als Mensch ausgemacht hat? Darüber kam ich dahin, dass ich verstanden habe, wieso Nelly an dieser fixen Idee von Johnny festhalten muss: Wenn er sie erkennt, dann lebt sie wieder. Für mich hat sich die Frage gar nicht gestellt: Wieso erkennt der sie nicht? – weil sie sich selbst nicht erkennt. Wenn der Kern gebrochen ist, dann erkennt man sich nicht mehr. Das musste ich begreifen. Das war meine Hauptarbeit. Dass es um einen Menschen geht, der versucht sich zusammenzusetzen. Sie kommt von ganz weit weg, und sie greift nach allem, was sie nur kriegen kann, um zu verstehen, wer sie war und wer sie jetzt sein könnte. Sie sagt das auch zu Lene: „Johnny hat mich wieder zu Nelly gemacht. Ich bin manchmal ganz eifersüchtig auf mich, wie glücklich ich war.“ Sie spricht über sich selber in der dritten Person, wie von einem anderen Menschen, und trotzdem hat es ewas mit ihr zu tun, das ist sie ja auch gewesen, wo ist das denn hin?«
[CHRISTIAN PETZOLD] »Es gibt wenig Geschichten, Erzählungen, Filme, die man nennen könnte: „Nach dem Lager“. Mir fällt ein Satz von Alexander Kluge ein, der sagte, Odysseus braucht 10 Jahre, um wieder an der Gesellschaft teilnehmen zu können, denn er kann nach Troja nicht direkt wieder nach Hause kommen. Und diese Odyssee gab es 1945 nicht, für niemanden, weil es das Zuhause so nicht mehr gab. Die Aufnahmelager für die „Displaced Persons“, die Überlebenden aus den Lagern, gab es bis 1958 in Deutschland. Das heißt, 13 Jahre haben die keinen Ort gefunden, wo sie leben konnten.«
BERLIN 1945 [RONALD ZEHRFELD] »In den Nachkriegsjahren gab es, glaube ich, eher das Instinktive, dieses Überleben-Wollen, überhaupt etwas zu essen zu haben im zerbombten Deutschland. Wann darf man wieder lachen, wann darf man mal wieder tanzen gehen, wann darf man sich mal wieder spüren, das Leben wieder spüren. Und für Johnny geht es darum, eine Perspektive zu suchen, eine Berechtigung zum Weiterleben zu bekommen, wegzugehen, um sich seinen Gefühlen nicht stellen zu müssen, seinen Erfahrungen, Erlebnissen und den Entscheidungen, die er in bezug auf Nelly getroffen hat.«
[NINA KUNZENDORF] »Die sind alle kaputt, die sind alle geschädigt, die sind verletzt oder nicht mehr übrig. So habe ich diese drei Menschen, aber auch alle anderen, die man in dieser Geschichte sieht, verstanden: Dass sie alle auf der Suche sind nach einem Leben. Die einen wollen ihr altes Leben zurück, die anderen – wie Lene – wollen ein neues Leben. Sie versuchen, sich etwas Neues aufzubauen, eine Perspektive zu schaffen. Was sie eint, ist, dass sie alle geschädigt sind. Verlorene.«
FILM NOIR
[CHRISTIAN PETZOLD] »Die Basis des Films ist im Grunde der Film Noir, und im Film Noir sind die Kontraste immer hart. Die Menschen versuchen, in Zwischenreiche zu gelangen, aber die Welt ist entweder weiß oder schwarz, die Zwischenreiche, die Zwischentöne sind verloren gegangen. Deshalb hatte ich mit dem Hans Fromm überlegt, dass es auf der einen Seite harte Kontraste geben muss, hell, dunkel, die Fenster müssen überstrahlen und der Kellerraum muss dunkelste Ecken haben, die wir nicht einsehen können. Und andererseits wollten wir nicht, dass der Erzählraum im Film so ein Psycho-Raum wird, wo es keine Farben gibt und die Depression aus der Decke tropft. Die Geräusche draußen, die Natur, die sehr üppig ist im Film, das ist ja schön. Die Welt verspricht, dass es irgendwie weitergeht, aber die Kontraste sind so hart, dass sie die Zwischentöne ausradieren. Wir wollten, wenn man das so sagen kann, Film Noir mit Technicolor verbinden. Deswegen haben wir auch auf Film gedreht, weil das wärmer ist, weil es arbeitet, weil es lebendig ist.«
DRUCKKAMMER
[NINA HOSS] »Der Film wird im Kern wie ein Kammerspiel verhandelt, das heißt, man muss sehr genau sein in der Arbeit, in der Beziehungsarbeit auch dieser beiden Figuren. Für mich hat das Sinn gemacht, weil die beiden in der Kellerwohnung wie in einer Druckkammer sind. Und in einer Druckkammer werden die Dinge größer und auch beschleunigt. Nelly ist so fokussiert auf diesen einen Menschen, von dem sie glaubt, dass er ihr ihr Leben zurückgeben kann, von dem sie das Gefühl hat, dass sie seinetwegen überlebt hat, dass sie sich an diese Liebe klammert, dass sie nicht aufgeben will. In dem Moment, wenn sie herauskommt und erfährt, was mit ihrer Freundin geschehen ist, kommt die Welt wieder in ihre Geschichte, sie muss aufwachen, und in diesem Moment öffnet sich auch der Film.«
SZENENBILD
[NINA KUNZENDORF] »Was ich als sehr besonders empfunden habe, waren die Orte, an denen wir drehen konnten. Das Szenenbild hat mich sehr beeindruckt. In der Wohnung von Lene ist altes Parkett aus dieser Zeit verlegt worden und das roch auf eine bestimmte Weise ... Du kommst an so ein Set und hast wirklich das Gefühl, das ist jetzt nicht Film oder Kulisse oder Requisite, sondern das ist so, das lebt und atmet.«
EINSTELLUNGEN
[CHRISTIAN PETZOLD] »Wir haben die ersten 20 Minuten des Films die Welt nicht aus Nellys Perspektive gefilmt. Damit würde man eine Identität, ein Subjekt in die Mitte der Erzählung stellen und sagen, aus ihrer Sicht erzähle ich jetzt. Aber was ist ihre Sicht? Sie ist zerstört, sie hat einen zerstörten Körper, ein zerstörtes Gesicht, sie hat etwas erlebt, was wir nicht nachvollziehen können. Wir können nur Nelly, die Verbundene, die Gesichtslose innerhalb eines Raums zeigen, Begegnungen. Für den Anfang des Films hat das bedeutet, dass wir in den Einstellungen große Distanzen zwischen Nelly und die anderen Personen gelegt haben. Wir haben Einstellungen, wo der innere Raum, der zwischen ihnen da ist, auch als physischer Raum da ist, wofür das Cinemascope-Format ideal war. Erst, als Nelly in Lenes Wohnung das Lied von Kurt Weill mit ihr hört, merkt man, dass etwas mit ihr passiert, dass sie angefasst wird, von einem Lied, von einem Gefühl, einem Gefühl der Liebe und einem Gefühl dessen, was in „Speak Low“ drin ist, von diesem Moment, der verloren ist, aber der schön gewesen ist und der einen als erinnerter Moment am Leben hält.
Und da plötzlich bekommt sie ein Gesicht. Das ist der härteste Gegenschuss, den wir bis dahin im Film gemacht haben, weil da etwas entsteht zwischen den beiden Menschen, die sich da gegenübersitzen und Musik hören. Und im Laufe des Films, wenn Nelly Handelnde wird und wie ein junges Mädchen aufbricht, den Geliebten in der Stadt zu suchen, gegen den Rat ihre Freundin, da wird sie zur Blickenden, sie sieht etwas von der Welt. Und wenn man das Erblickte zeigt, zeigt man auch die Blickende, ihre Perspektive. Erst durch Nellys Aktion, erst wenn sie einen Plan hat, wird die Distanz aufgehoben, die wir bis dahin haben. Man kann das einen Zeitumkehr-Plan nennen: „Ich will jetzt, weil ich mich im Lager an Erinnerungen und Bildern festgehalten und mir da einen Kokon gebildet habe, zu der Ursache dieses Kokons zurück: Ich möchte ins Paradies meiner Erinnerung zurück.“ Und da ihr dieses Paradies keinen Eingang mehr bietet, ist ihr Kampf, diesen Eingang zu finden. In diesem Moment ist sie Subjekt, und wir können mir ihr in die Welt gehen.«
KÖRPER
[NINA HOSS] »Wenn man im Lager war, glaube ich, wenn man aus so einer Erfahrung kommt – und das ist ja überhaupt keine „heile Welt“, in die man da zurückkommt, die ist ja immer noch bedrohlich, die Menschen, die du da triffst, die haben dir das vielleicht angetan – das spiegelt sich ja auch im Körper wieder. Man läuft erstmal wie so ein Nichts durch die Gegend, man weiß überhaupt nicht, wie man gehen soll. Und erst langsam, als sie die Schuhe aus Paris wieder bekommt, als sie sich erinnert und sogar Freude am Erinnern hat, als sie wieder spürt, was da einmal war, dass sie tatsächlich gelebt hat, gelacht hat, geschmeckt hat, geliebt hat – wenn die Erinnerung wieder zurückkommt, dann verändert sich auch der Körper. Ich habe versucht, der Nelly am Anfang etwas Kindliches, auch etwas Fahriges, Haltloses zu geben, so wie ihre Haare, da ist alles so grau und eigentlich nicht da ... Und mit der Zeit formt sich der Körper wieder, sie fangt wieder an zu wissen, wer sie ist. Sie muss wieder ein Selbstbewusstsein haben, sie muss auf sich vertrauen können, um ihren Körper aufrecht zu halten.«
NACHEMPFINDUNG
[CHRISTIAN PETZOLD] »Die Nina Hoss musste sich in etwas hineinarbeiten, sie musste ein Gefühl für die Verlorenheit und Auslöschung nachempfinden, die der Nelly widerfahren ist. Aber diese Nachempfindung muss sie nicht darstellen. Das ist das Großartige an ihr, dass sie das nicht getan hat, dass sie das, was sie gelesen und gesehen und empfunden hat, dass sie das nicht ausstellt. Ich hatte mir in der Vorbereitung die Berichte der Überlebenden, die in den Frankfurter Prozessen ausgesagt haben, angehört. Und die fanden eigentlich keine Sprache für das, was sie erlebt haben. Und so ähnlich, glaube ich, hat die Nina sich das genommen: Sie findet keine Sprache für das, was ihre Figur erlebt hat. Die Schauspielerin kann sich die Tortur nur vorstellen, sie hat sie nicht erlebt.
Aber diese Unmöglichkeit, etwas zum Ausdruck zu bringen, diese Unmöglichkeit, hinter der die Erfahrung ihrer Figur steht: Das kann sie spielen. Es gibt die Szene mit Nellys Erzählung aus dem Lager, die sie bruchstückhaft von sich gibt. Die basiert auf der Aussage einer Überlebenden, aus dem Oral-History-Museum der Shoa Foundation, von 1998, glaube ich – und in diesem Moment, wo diese Frau darüber spricht, kann sie eigentlich schon fast nicht mehr darüber sprechen. Es war mir vorher fast klar, dass Nina Hoss diese Erzählung auch nicht so einfach sprechen werden kann. Aber wie sie das dann macht, wie sie diese Szene spielt, darüber haben wir nicht gesprochen. Es wäre falsch gewesen, darüber zuviel zu reflektieren.«
LENE
[NINA KUNZENDORF] »Bei Lene ist immer eine gehörige Portion Pragmatismus dabei. Sie ist Juristin, sie handelt, sie arbeitet, sie setzt sich für Menschen ein. Das, was sie tut, ist sehr konkret. Auch ihr Umgang mit dem Tod, selbst mit ihrem eigenen. Es gibt die Szene, wo sie im Büro sitzt und mit der Lupe nach den Nummern schaut und versucht zu recherchieren, wer das ist. Sie ist täglich mit dem Tod konfrontiert. Mit Tod, Leid und Verlust. Das hinterlässt Spuren. Es ist wohl tatsächlich so, dass sich viele das Leben genommen haben, die versucht haben, diese Aufgabe zu erfüllen: weil man das irgendwann nicht mehr erträgt. So wie sie in ihrem Abschiedsbrief schreibt: „Ich fühle mich mehr zu unseren Toten hingezogen als zu den Lebenden.“ Und dennoch hätte es nicht viel gebraucht, und Lene hätte sich ebenso klar für das Leben und die Lebenden entschieden!
Ich mochte die Szene am Tisch immer sehr, wie Lene und Nelly sich gegenübersitzen, wo es einerseits um solche Sachen geht wie: „Ich kann keine deutschen Lieder mehr hören“ – und andererseits sagt sie: „Wir müssen uns jetzt mal um dein Vermögen kümmern.“ Das sind Momente, denke ich, in denen so etwas wie eine Leichtigkeit entsteht; entstehen könnte. Für einen kleinen Moment blitzt etwas auf, eine Erinnerung: Dass die vielleicht früher wahnsinnig viel miteinander gelacht oder Feste gefeiert oder die Nacht durchgequatscht haben... Das ist ja auch ein Versuch, zu überleben, dass man sagt: „Da war doch was. Und lass uns doch mal gucken, ob das wiederkommt.«
GEGENSCHÜSSE
[CHRISTIAN PETZOLD] »Das Kino, im Gegensatz zum Theater, besteht wesentlich aus Gegenschüssen, d.h. Menschen stehen sich gegenüber und wir sind in dem Zwischenraum, den diese Menschen sich bilden, durch Blicke, Gesten, Wörter. Das ist der Kinoraum, der Raum, der zwischen den Menschen ist. Bei Johnny und Nelly haben wir einen Gegenschuss in dem Phoenix-Club: Nah, sein Gesicht, ihr Gesicht, Blicke, die sich nicht treffen. Sie schaut ihn an, aber er schaut an ihr vorbei, weil sie für ihn nicht mehr existiert. Nelly versucht, diesen Blick auf sich zu ziehen, aber er sieht sie nicht. Und wenn die beiden dann in der Kellerwohnung sind, geht es im Grunde darum, die Verletzung dieses nicht geschehenen Blickes dadurch aufzuheben, dass man sich endlich anschaut. In ihrem Blick erkennen wir: „Ich bin es doch“ – und er erkennt sie trotzdem nicht und stößt sie dadurch immer wieder ins Gespenstische.«
WECHSELSPIEL
[CHRISTIAN PETZOLD] »Wenn Nelly der Lene von ihrem Zusammensein mit Johnny erzählt, sagt sie: „Wir sind fast wie ein Liebespaar, das sich gerade erst kennenlernt.“ Und es gibt Momente, wo Johnnys Abwehrmechanismus brüchig wird: „Meine Frau ist tot. Diese Frau ist es nicht. Die ist einfach nur ein Modell. Ich baue das nur.“ Nelly schafft es aber durch Bewegungen und Erinnerungen, bei ihm an die verdrängten Bereiche zu rühren. Sie versucht, diese Liebe, die er verdrängt hat, wieder gegenwärtig zu machen. Und daraus kommt die ganze Spannung. Er versucht, die Vergegenwärtigung der Liebe zu verhindern, und sie versucht, sie wiederherzustellen. Das kehrt sich ja manchmal um, in dieser Kellerwohnung, sie wird ja nicht nur von ihm geführt und angezogen, sondern fängt an, selber die Fäden in die Hand zu bekommen. Das ist auf verquere Art und Weise wie ein Liebesspiel.«
[RONALD ZEHRFELD] »Ich liebe ja solche Momente. Wenn Johnny in einem solchen Moment, wenn er die Nelly vor sich sieht, ein Moment, wo man sagen würde: „Na jetzt, jetzt muss er sie doch erkennen!“ – dass er da seinen Gefühlen nicht vertraut bzw. sich verbietet, diese Gefühle wahrzunehmen. Weil: „Es kann ja nicht sein! Sie ist tot! Und ich lasse jetzt keine Gefühle zu, weil die Chance, dass ich es schaffen könnte, sie als meine Frau auszugeben, meine mögliche Zukunft beinhaltet.“ Für ihn ist klar, wenn er jemals wieder atmen möchte, sich fühlen möchte, wieder Musik machen möchte, dann muss er raus aus Deutschland. Und das geht nur mit der Hilfe Nellys, der in seinen Augen falschen Nelly. Und dem gegenüber stehen seine Schuldgefühle bezüglich der Entscheidung, das Scheidungspapier unterschrieben zu haben, aus Angst vor Repressalien oder aus dem Glauben heraus, sie nicht mehr schützen zu können. Und wenn man dann später dieser Frau wiederbegegnet, die wie durch ein Wunder überlebt hat, dann hat diese moralische Keule einfach noch eine viel größere Kraft: Wäre es Stärke gewesen, wenn ich mein Leben geopfert hätte? Habe ich sie verraten? Darf ich so weiterleben? Kann man an das Menschliche noch glauben?«
[NINA HOSS] »Nelly hat manchmal natürlich so etwas wie einen Funken Hoffnung: Jetzt hat er mich erkannt! Und dann passiert es aber nicht. Mir war es wichtig, dass es bei ihr – z.B. in der Szene, wenn sie sich geschminkt hat und er sie wieder zurückweist – dann auch eine andere Qualität gibt, nämlich ein Sich-Wehren, so ein: „Jetzt muss ich raus! Das lass ich mit mir nicht machen.“ Das gibt es ja auch in ihr. Sie hat eine Überlebenskraft. Und in diesem Moment, wenn es ihr zuviel wird, muss er arbeiten. Es ist ein Wechselspiel: wenn sie sich entzieht, dann geht er nach, wenn er sich entzieht, versucht sie zu überzeugen.«
HAUS AM SEE
[CHRISTIAN PETZOLD] »Wenn die Nelly in das Gartenlokal kommt, rennt der Wirt gleich aus dem Bild. Und als die Frau sagt: „Sie wissen ja, wie die Männer sind“, da sagt sie: „Ja, wie sind sie denn?“ – Diese Männer hatten die letzten 12 Jahre während des Nationalsozialismus geglaubt, sie sind die Herren der Welt. Und jetzt sind sie Geschlagene, und sie können sich nicht einmal entschuldigen, sie können nicht ein einziges Mal zu den Opfern sagen, es ist grauenhaft, was wir getan haben, es wird nicht wieder gutzumachen sein, aber du sollst wissen, dass wir das wissen, dass es nicht wieder gutzumachen ist. Aber das passiert nicht. Und bei dieser Szene im Gartenlokal hatte ich mir immer vorgestellt, die Nelly kommt wie ein Gespenst aus dem Wald. Plötzlich steht sie da, und für die Leute muss es so sein, als ob sie aus dem Boden gekommen wäre. Eigentlich ist sie das Gespenst, weil sie nicht wahrgenommen wird, aber in diesem Moment wird sie wahrgenommen – und die anderen verschwinden und werden Gespenster. Und da hat die Nina Hoss so ein Gesicht, im Spiel, das sie später in der Szene am Bahnhof auch hat, so eine Mischung aus Neugier und Verachtung, das fand ich großartig.«
NELLY UND LENE
[NINA KUNZENDORF] »Manchmal hat man das Glück im Leben, dass man so einen Lebensmenschen hat, eine Freundschaft, die sehr lange, vielleicht sogar ein Leben lang hält und die die Wandlungen, die man im Leben so geht, mitmacht. Für mich ist das eine tiefe, freundschaftliche Liebe. Für Lene ist Nelly so ein Herzensmensch, ein Lebensmensch. Lene hat den Absprung aus Deutschland rechtzeitig geschafft. Sie ist nach London und in die Schweiz gegangen und hat von dort aus weiter geholfen und gearbeitet – und Nelly hat sich dagegen und für die Liebe zu Johnny entschieden. Das war der erste Bruch. Später, nach dem unerwarteten Wiedersehen, versucht Lene ein zweites Mal, Nelly zu retten und zu sagen: „Komm mit mir, komm ins Leben, lass uns etwas Neues anfangen.“ Nelly entscheidet sich erneut anders, und in Lenes Augen gegen sie: Lene ist eine Verlassene.«
[NINA HOSS] »Und Lene hinterlässt Nelly: „Weißt du, ich bin den Toten näher als den Lebenden.“ Da habe ich immer gedacht, was macht die Nelly jetzt, entweder schmeißt sie sich vor den Zug oder sie findet die Kraft und sagt: „Das kann nicht umsonst gewesen sein, was Lene da gemacht hat, die hat mich gerettet, die hat so viele von uns gerettet, und die hatte etwas vor – und jetzt hat sie es nicht geschafft, sie, die immer so kraftvoll war.“ Die Lene war für mich immer die, die kraftvoller war, während Nelly wahrscheinlich immer eher die war, die in den Tag hinein gelebt hat. Die Lene war die Zielstrebigere von beiden, die etwas verfolgt und dann auch durchgezogen hat, die der Nelly auch Struktur und Halt gegeben hat.«
ZERREISSMOMENTE
[CHRISTIAN PETZOLD] »Wenn Nelly sagt: „Ich kann doch nicht mit französischen Schuhen aus Paris in einem roten Kleid aus dem Lager zurückkehren“, dann erklärt ihr der Johnny ganz kalt: „Doch, sonst erkennen die dich nicht. Sonst schaut dich niemand an.“ Darin steckt etwas davon, was Jean Améry und andere Heimkehrer erzählen, dass sie wie ein Gespenst durch Deutschland gegangen sind, weil niemand sie angeschaut hat. Aber die Nelly soll ja angeschaut werden, es sollen ja alle sagen: Sie ist wieder da. Und aus diesem Glücksgefühl, dass sie zurück ist und dass sie unbeschadet ist, wird der Gedanke: „Es ist nicht passiert. Wir haben nichts Schlimmes gemacht.“ Diese Rechnung wird ihr immer klarer, aber andererseits ist es eigentlich ihr Ziel, dass Johnny sie als Nelly „rekonstruiert“. Es ist ihr Ziel, und andererseits ist das der Horror für sie: Weil der Moment, in dem sie für die anderen auf diese Weise, im roten Kleid und mit Pariser Schuhen, rekonstruiert ist, all das, was sie erlebt hat, auslöscht. Das ist der Balance-Akt, in dem die Nelly von einem Zerreißmoment zum nächsten wankt.«
[NINA HOSS] »Das muss ein Schlag sein, den man sich, glaube ich, nicht vorstellen kann. Weil man natürlich denkt, dass man, wenn man aus dem Lager zurückkommt, zumindest gefragt wird. Das ist für mich eine Schlüsselstelle im Film, wenn Johnny sagt: „Dich wird keiner fragen!“ Ich wusste ehrlich gesagt nicht, wie ich diesen Moment spielen werde. Es sind ja eben noch keine 30 Jahre vergangen, seit Nelly das erlebt hat, sie konnte noch nicht lernen, damit umzugehen, psychologisch, therapeutisch, sondern sie ist mittendrin. Ich habe es dann als etwas genommen wie: „Habe ich das wirklich erlebt? Oder bin ich vollkommen aus der Welt gefallen? – Aber das war doch so!“ Daher auch dieses leichte Stammeln, dieser Moment, wo man denkt, jetzt dreht sie durch. Weil da soviel zusammenkommt in diesem Moment. Sie versucht zu reproduzieren, was sie gesehen hat, um Johnny näherzukommen, um ihm zu zeigen: so, das habe ich erlebt, ihr habt uns doch da hingeschickt, wollt ihr das nicht hören? Und wieder wird ihr erzählt: „Dich gibt es nicht.«
[RONALD ZEHRFELD] »Für mich war eine der spannendsten Szenen, wie Johnny zurückkommt und Nelly zum ersten Mal mit gefärbten Haaren und im roten Kleid vor ihm steht. Wo es ihm mit einer brachialen Gewalt quasi mitten ins Gesicht haut, und er merkt, wie plötzlich eine Kraft im Raum ist, die etwas mit ihm macht. Und er greift sie an: „Was hast du dir da ins Gesicht geklatscht, das ist viel zu viel, das stimmt überhaupt nicht ...“ Er verbietet es sich selber, sie zu erkennen: „Es kann nicht Nelly sein! Es muss ein Traum sein, sie steht jetzt hier vor mir, es stimmt alles, sogar die Handschrift ... Aber es kann nicht sein!“ Er zwingt sich dazu, auch wenn sämtliche Antennen in ihm etwas anderes sagen.«