An jedem Tag

Zum Film Indem er den zwölfjährigen Fischersohn Samuele über ein Jahr lang begleitet, fängt der Film den Alltag wie auch die Flüchtlingskrise ein, die inzwischen fester Bestandteil des Insellebens ist
An jedem Tag

Foto: Weltkino/21 Uno Film

Inhalt

Samuele ist 12. Nach der Schule trifft er seine Freunde oder streift mit einer selbstgebauten Steinschleuder durch die Gegend. Er will Fischer werden, so wie sein Vater. Samuele lebt auf der Mittelmeerinsel Lampedusa, auf der das Leben schon immer von dem geprägt war, was das Meer bringt. Seit Jahren sind das nun vor allem Menschen – Tausende Flüchtlinge, die in der verzweifelten Hoffnung auf ein besseres Leben eine lebensgefährliche Reise wagen.

Hintergrund

Der italienische Originaltitel „Fuoco­ammare“ kann sowohl als „brennen­des Meer“ als auch „Leuchtturm“ übersetzt werden. Der deutsche Kinotitel ist dieser Doppelbedeutung geschuldet: „Seefeuer“ bezeichnet zum einen das Lichtsignal auf Leucht­ türmen, zum anderen eine historische Brandwaffe, die vor allem gegen Schiffe zum Einsatz kam und nicht mit Wasser gelöscht werden konnte.

Kommentar des Regisseurs

Im Herbst 2014 bin ich das erste Mal nach Lampedusa gefahren, um die Möglichkeiten auszuloten, einen 10minütigen Film für ein internationales Festival zu drehen. Die Idee des Produzenten war es, einen Kurzfilm zu machen, der dem faulen und mitschuldigen Europa, das nur ein diffuses und verzerrtes Bild der aufkeimenden Flüchtlingskrise hat, eben eine ande­re Seite von Lampedusa zu zeigen. Das sah auch ich so, denn Lampedusa war lange Zeit ein wirres Durcheinander von Stimmen und Bildern aus Fernsehspots, scho­ckierenden Schlagzeilen über Tod, Notfälle, Invasionen und Volksaufstände. Als ich aber auf der Insel war, stellte ich fest, dass sich die Realität stark von dem un­terschied, was man in den Medien und der Politik fand, und mir wurde bewusst, dass es unmöglich sein würde, ein so komple­xes Gefüge wie das von Lampedusa in wenige Minuten zu pressen.

Man würde für längere Zeit komplett ein­tauchen müssen. Es würde nicht einfach werden. Ich wusste, ich würde einen Weg hinein finden müssen. Dann – und so ist es oft bei Dokumentarfilmern – passierte etwas Unvorherge­sehenes: Ich musste wegen einer schlimmen Bronchitis zur örtlichen Notaufnahme und traf dort Dr. Pietro Bartolo, welcher der einzige Doktor auf der Insel ist und schon seit Jahren jede Ankunft von Flüchtlingsbooten begleitet. Er beur­teilt, wer ins Krankenhaus gebracht wird, wer inhaftiert wird und wer verstorben ist. Nicht wissend, dass ich ein Regisseur auf der Suche nach einer Story war, erzählte mir Dr. Bartolo von seinen Er­fahrungen mit den medizinischen und humanitären Notfällen. Seine Worte berührten mich tief. Ein gegenseitiges Verständnis entwickelte sich zwischen uns und mir wurde klar, dass er ein Protago­nist im Film werden könnte. Nach anderthalb Stunden intensiven Gesprächs schaltete der Doktor seinen Computer an, um mir Bilder zu zeigen – herzzerreißende, nie zuvor gesehene Bilder, so dass ich die Realität des tragischen Schicksals der Migranten „mit meiner Hand berühren“ konnte.

Meine Entscheidung, nach Lampedusa zu zie­hen, änderte alles. In meinem Jahr auf der Insel überstand ich den langen Winter und dann die Fischersaison. Ich lernte den wahren Rhythmus der Flut der Migranten kennen. Es war wich­tig, die Vorgehensweise der Medien zu durchbrechen, die immer nur dann nach Lampedusa strömten, wenn es eine Katastrophe gab. Als ich dort lebte, verstand ich, dass der Begriff Katastro­phe bedeutungslos war. Es gab jeden Tag eine Ka­tastrophe. Jeden Tag passierte etwas. Um das reale Ausmaß der Tragödie zu erfassen, muss man nicht nur vor Ort sein, sondern auch laufenden Kontakt haben. Nur so war ich in der Lage, die Gefühle der Insel­bewohner zu verstehen, die seit 20 Jahren zu­sehen, wie sich diese Tragödie ständig wiederholt.

Seit der Einführung von Rettungsoperationen wie Mare Nostrum, die versucht, Boote auf See abzufangen, sind auf Lampedusa keine Flüchtlinge mehr zu sehen. Sie ziehen vorbei wie Phantome. Sie gehen am Kai im alten Hafen von Bord, werden mit Bussen für weitere Hilfe und zur Identifizierung in die Auffangstation gefahren und ein paar Tage später aufs Festland befördert. Was die Ankunft betrifft – und ich habe Dut­zende beim Eintreffen gefilmt – gibt es nur einen Weg, die Auffangstation zu verste­hen, und zwar hineinzu­gehen und sie aus der Nähe zu betrachten. Es war sehr schwie­rig, dort zu filmen, aber Dank der Geneh­migung, die ich von den sizilianischen Behörden be­kommen hatte, war ich in der Lage, die Station zu zeigen, ihren Rhythmus und ihre Regeln, ihre Gäste und Gewohnheiten, ihre Religionen und Tra­gödien. Eine Welt in einer Welt für sich, abgeschnitten vom Alltag auf der Insel.

Die größte Herausforderung war es, einen Weg zu finden, dieses Universum zu filmen und dabei nicht nur Wahrheit und Realität, sondern auch Menschlich­keit darin zu offenbaren. Bald verstand ich, dass sich die Grenze – die einst, als die Boote noch direkt auf der Insel landeten, Lampedusa selbst war – auf das Meer verschoben hatte. Ich bat um Erlaubnis, an Bord eines italienischen Marineschiffes zu gehen, das vor der afrikanischen Küste operierte, und verbrachte etwa einen Monat auf der Cigala Fulgosi, die zu dieser Zeit an zwei Missionen teilnahm. Auch dort lernte ich erst den Rhythmus, die Regeln und Gebräuche an Bord kennen, bis wir auf die Tragödien stießen, eine nach der anderen. Die Erfahrungen beim Filmen dieser Ereignisse kann ich hier nicht beschreiben. In meinen Filmen stelle ich oft abgegrenzte Welten dar, seien es literarische oder ideelle. Diese Universen – manchmal nur so groß wie ein Raum – haben ihre ei­gene Logik und ihre eigenen Bewe­gungen. Dies einzufangen und auszudrücken ist der kompli­zierteste Teil meines Jobs.

Das war so mit der Gruppe von Aussteigern in der amerikanischen Wüste („Unter dem Meeresspiegel“), einer isolierten Welt mit ihren eigenen Regeln, wo die Grenze für die einen die Zugehörigkeit zu einer Idee und für andere eine Tatsache bedeutete. So war es auch bei dem Auftragskiller, der zum Informanten wurde, sich in ein Motelzimmer verkroch, seine Verbrechen nachstellte und die Regeln der kriminellen Szene erklärte („El Sicario – Room 164“). Das Gleiche kann über die Men­schen gesagt werden, die am Rand der Autobahn um Rom leben („Das andere Rom“). In Lampedusa entdeckte ich die Funktionsweise – wenn man das so nennen kann – eines anderen Gefüges kon­zentrischer Welten, mit ihren eigenen Regeln und ihrem eigenen Zeitgefühl: die Insel, die Auffangstation, die Cigala Fulgosi. Es ist unmöglich, Lampedusa zu verlassen, genauso unmöglich, wie den Moment festzulegen, an dem die Filmauf­nahmen abgeschlossen sind. Wenn das auch für alle meine Filme gilt, dann ganz besonders für diesen. Ein Ereignis brachte mich dazu, zu erkennen, dass sich der Kreis irgendwie schloss. Weil ich nach einem Meeting mit Dr. Bartolo entschieden hatte, diesen Film zu machen, fühlte ich, dass es notwendig war, zu dieser Begegnung zurückzukehren, um den Film abzuschließen. Ich ging zu Bartolo, aber dieses Mal mit der Kamera, um seine Aussage, seine Geschichte festzuhalten. Und wie zuvor, mit dem Blick auf den Bildschirm seines Computers gerichtet, wo das Archiv von 20 Jahren Rettungsarbeit gespeichert ist, gelang es ihm mit seiner immensen Menschlichkeit und Klarheit, das Ausmaß der Tragödie zu kommunizieren und die Pflicht, Hilfe und Zuflucht anzubieten. Das war genau das, was es brauchte, um den Film abzuschließen.

27.07.2016, 18:07

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