Synopsis
Auf Ost-Berliner Seite war die Mauer weiß, auf West-Berliner bunt bemalt. Fünf Freunde, die ihre Jugend in Weimar verbracht haben, ist der Souvenirstatus suspekt – sie wollen mit ihrer Aktion der westlichen Mauer-Kuscheligkeit einen Strich durch die Rechnung machen: Wolfram Hasch, Jürgen Onißeit, dessen Bruder Thomas, Frank Schuster und Frank Willmann. Hasch wurde bei der Aktion von DDR-Grenzsoldaten geschnappt, nach Bautzen verfrachtet und von der BRD freigekauft. Willmann beginnt 2010, die Vorgeschichte der Aktion zu recherchieren.
Weimar, Anfang der 80er. Stadt der Dichter und Denker. Die Jugendlichen fühlen sich als Halbtote unter ganz Toten. Aufs Gymnasium kommt nur, wer politisch auf Linie liegt. Viele sind schon ausgereist. Es gibt einen kirchlichen "Montagskreis", bei dem sich trifft, wer anders ist. Es gibt Punkbands mit Texten wie: "Alles grau, alles leer – nein, nein, nein, ich will nicht mehr." Es gibt vereinzelte Sprühaktionen mit Texten wie "Macht aus dem Staat Gurkensalat." Dada, Unsinn, Subversion – man wollte nicht nur diskutieren, sondern auch ein bisschen Spaß haben.
Als die ersten Sprüher verhaftet werden, wird der Spaß Ernst. Sechs Monate Haft, danach gab es keinen Ausbildungsplatz mehr. Der Punk Jürgen Onißeit fühlt sich falsch verdächtigt und verrät die "richtigen" Sprüher, u.a. die Freunde seines Bruders. Später stellt sich heraus, dass er schon seit 1981 für die Stasi arbeitet, für "Kohlengeld". Er selbst landet 1982 im Knast, wegen Militärdienstverweigerung. Ein Machtkampf mit der Stasi. Danach spitzelt er dennoch weiter.
1986 sind Onißeit und die meisten der Weimarer Freunde nach West-Berlin ausgereist. Sie machen Kunstaktionen, drehen Filme. Sie ärgern sich über Touristen, die an der bunten Westberliner Mauer ein bisschen "Ossis kucken" wollen. Die spontane Idee der Strichaktion entsteht. Am 4. November fangen sie an, mit Farbe, Zelten und Schlafsäcken auf Bollerwägen, in Schichten. Zunächst geht alles gut. Aber die Mauer liegt zum Teil komplett auf DDR-Gebiet. Am zweiten Tag öffnet sich im Lenné-Dreieck eine Tür, Grenzsoldaten kommen heraus und verhaften Wolfram Hasch.
2010 sichten Frank Willmann und Anne Hahn die Stasiakten der Beteiligten. Jürgen Onißeit wird als "Inoffizieller Mitarbeiter" identifiziert. Nie hat er mit den anderen darüber gesprochen, auch mit seinem Bruder nicht. In Kroskes Film gibt es zwar eine Verständigung, doch keine, die sich in Wohlgefallen auflöst.
Director's Statement
In meinem Film habe ich einen Ausgangspunkt: eine Kunstaktion als sinnfällige Markierung der Berliner Mauer, mit einem folgenschweren Ausgang für die daran Beteiligten. Während der Dreharbeiten bin ich zusehends an die Grenzen des Regieführens gelangt, da ich zum einen Katalysator der Erinnerungsarbeit wurde. Das legt einiges frei. Zugleich hatte ich als Mediator zwischen den Beteiligten der vergangenen Geschichte und deren seither verkorksten Möglichkeiten zu agieren. Sich dabei nicht benutzen zu lassen, war zu leisten. Etwas Vergangenes in Gegenwärtiges wieder aufzulösen, war die andere Arbeit daran. Insgesamt ein Balanceakt als Schwerstarbeit mit Augenlust.
FBW-Begründung, Prädikat "Besonders wertvoll"
Die 1980er Jahre in Ostdeutschland. Die Mauer steht noch, das System hält dicht. Die Menschen werden von der DDR-Regierung kontrolliert und bespitzelt. Für einige junge Leute ein Zustand, gegen den sie sich auflehnen wollen. Gerd Kroske porträtiert in seinem Film STRICHE ZIEHEN fünf Menschen, die sich damals mit gezielten Aktionen rebellisch gegen das repressive Staatssystem stellten. Doch sie wurden immer wieder beobachtet, verfolgt und letzen Endes auch verraten. Von einem Vertrauten aus den eigenen Reihen.
Kroske selbst hält sich in seinen Kommentaren zurück, lässt seine Protagonisten die Geschichte von damals in Retrospektive beschreiben und zeigt, wie tief die Narben sitzen. Doch der Film wertet und urteilt nicht. Er zeigt die Perspektive des "Verräters" ebenso wie die der "Verratenen". Denn dass Jürgen O. seinen Bruder und seine Freunde an die Stasi verriet, sieht er bis heute als den "Kardinalfehler seines Lebens" an. Er hofft auf Vergebung, auf Versöhnung, auf die Chance eines Neuanfangs. Dass der Film eben nicht gezielt auf ein solches "Happy End" aus ist und am Ende, nach einer Konfrontation der Brüder, alles offen bleibt, ist eine weitere Qualität dieses klug aufgebauten Dokumentarfilms.
Universelle Fragen nach Schuld und Vergebung stehen immer wieder im Zentrum der Erzählung. Kroske montiert geschickt und organisch dokumentarisches Material in die Geschichte ein, passend zu den persönlichen Erinnerungen der Protagonisten sind es meist Super 8-Filme, gedreht von ihnen selbst. Und trotz des sehr privaten und intimen Blickwinkels, der sich ganz unaufdringlich vermittelt, ist der Film mehr als nur die Geschichte über fünf Menschen. Er behandelt neben persönlichen Erinnerungen auch ganz allgemeine Fragestellungen wie Schuld, Vergebung und Vergangenheitsbewältigung, die themenübergreifend wichtig sind.
Gerd Kroske ist mit STRICHE ZIEHEN ein kluges und in seiner Ruhe bewegendes persönliches Porträt gelungen, das die allgemeine gesellschaftliche Situation der 1980er Jahre in der ehemaligen DDR beleuchtet. Ein Film, der die richtigen Fragen stellt und zum Nachdenken anregt.